Humboldt-Universität zu Berlin
Institut für Geschichtswissenschaften
Neueste Geschichte
Dr. des. Kiran Klaus Patel in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Historischen Museum (DHM, Brigitte Vogel und Stefan Bresky, Museumspädagogik)
Wintersemester 2001/2, Mi 14-16 Uhr, Raum 3015

 

Die Vernichtung der europäischen Juden
als Thema der Geschichtswissenschaft und einer Ausstellung des DHM

 

Protokoll für die 3. Sitzung vom 31.10.2001

Nachdem sich die ersten beiden Sitzungen der Übung primär mit organisatorischen Fragen beschäftigt hatten, widmete sich die dritte Sitzung erstmals der Geschichte der Vernichtung der europäischen Juden.
Insgesamt wurden drei Themenkreise diskutiert: Im ersten Teil ging es um den Begriff des Antisemitismus, danach wurden Phasen und Zäsuren der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik differenziert und schließlich beschäftigten wir uns mit der Wannsee-Konferenz.

1) Zum Begriff des Antisemitismus
Die Feindschaft gegenüber den Juden, die heute häufig "Antisemitismus" genannt wird, ist ein altes historisches Phänomen. Seit der Antike läßt sie sich in vielen Gesellschaften finden, wenngleich natürlich Intensität und Radikalität zeitlich und räumlich variierten. Es entwickelten sich im Lauf der Jahrhunderte unterschiedliche Strategien, mit denen die nichtjüdischen und zumeist christlich geprägten Mehrheitsgesellschaften die angebliche Anders- und Minderwertigkeit der Juden begründeten.
Vier für den Zusammenhang der Übung zentrale Hauptformen sollen hier unterschieden werden:
a) Die christliche Judenfeindschaft: Sie prägte sowohl die katholische als auch die protestantische Seite und fußte primär auf dem Glauben, daß die Juden die Mörder Christi seien. Immer wieder, nicht zuletzt im Zeitalter der Kreuzzüge, kam es zu religiös motivierten Pogromen gegen Juden.
b) Der Rassenantisemitismus: Er entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und bezog sich unter anderem auf die Evolutionstheorie Charles Darwins. Im Gegensatz zur christlichen Judenfeindschaft, die sich hauptsächlich gegen den Glauben der Juden richtete, argumentierte der Rassenantisemitismus mit einer angeblichen rassischen Andersartigkeit der Juden. Diese lasse sich auch durch die Konvertierung zum Christentum nicht beseitigen. Im deutschen Kaiserreich von 1871-1918, als der Begriff "Antisemitismus" entstand, meinte dieser zunächst nur die damals neue, rassistisch begründete Form der Judenfeindschaft.
c) Der nationale Antisemitismus: Er entwickelte sich parallel zur Entstehung der europäischen Nationalstaaten im 18. und 19. Jahrhundert und stellte den angeblich internationalen Charakter des Judentums einer nunmehr eingeforderten nationalen Loyalität gegenüber. Diese Form der Judenfeindschaft prägte sich in Deutschland im 19. Jahrhundert besonders stark aus. Sie war das Bindeglied zwischen den traditionellen Formen der Judenfeindschaft (wie dem religiösen Antisemitismus) und dem Rassenantisemitismus; und bereits hier wurde häufig mit dem Gedanken der rassischen Reinheit argumentiert.
d) Der ökonomische Antisemitismus: In diesem Fall wurden die Juden primär aufgrund ihrer angeblich besonderen Stellung im Wirtschaftssystem stigmatisiert - sei es, weil ihnen unterstellt wurde, besonders arm zu sein und "unehrlichen" Berufen nachzugehen, oder sei es, weil sie angeblich zu reich und zu mächtig waren.
Wenngleich sich diese Formen analytisch unterscheiden lassen, traten sie historisch oft gemeinsam auf und gingen Verbindungen miteinander ein.

2) Die Verfolgung und Vernichtung der Juden im Nationalsozialismus
Als Ergebnis der Stunde läßt sich festhalten, daß man analytisch vier Stufen unterscheiden kann: erstens die Definition (Wer galt als Jude? Wurde dabei religiös, rassistisch oder mit anderen Kriterien argumentiert?), zweitens die Entrechtung (wichtigste Station: "Nürnberger Gesetze" 1935), drittens die Enteignung (nicht zuletzt durch die "Arisierung" jüdischer Geschäfte) und schließlich viertens die Deportation und Vernichtung.
Es wurde intensiv diskutiert, ob sich diese vier Stufen in chronologisch aufeinanderfolgende, historische Phasen übersetzen lassen. Wie sich letztlich zeigte, liefen die vier Prozesse jedoch insgesamt parallel zueinander; lediglich die Deportation und Vernichtung begann nicht bereits 1933 oder gar vorher, sondern erst im Zweiten Weltkrieg.

3) Die Wannsee-Konferenz
Zunächst wurde festgestellt, daß in der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 nicht der Beschluß zur Ermordung der europäischen Juden gefaßt wurde. Der Referent der Stunde, Christoph Kamissek, hatte die Aufgabe, den Forschungsstand von Mitte der 1990er Jahre zur Bedeutung der Konferenz darzustellen. Danach hatte diese primär vier Aufgaben:
Erstens wurde hier Reinhard Heydrich, dem Chef des Reichssicherheitshauptamtes, die Zuständigkeit für die "Endlösung der Judenfrage" offiziell zugewiesen. Zweitens wurden die auf der Konferenz anwesenden Vertreter der Behörden aus Staat und Partei über die bisherigen und künftigen Planungen zur "Endlösung" informiert. Drittens sollte die Konferenz die reibungslose Zusammenarbeit beim Judenmord sicherstellen. Viertens galt es, juristische und administrative Definitionsfragen bei der Behandlung der sog. "Mischlinge" zu klären. Die neueren Debatten werden Thema der Sitzungen 4 und 5 sein.

Weiterführende Literatur:

BENZ, Wolfgang, Die Juden im Dritten Reich, in: ders./Werner Bergmann (Hrsg.), Vorurteil und Völkermord. Entwicklungslinien des Antisemitismus, Freiburg usw. 1997, S. 365-394.
BERDING, Helmut, Moderner Antisemitismus in Deutschland, Frankfurt/Main 1988.
FRIEDLÄNDER, Saul, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 1: Die Jahre der Verfolgung, 1933-1939, München 1998. [Bd. 2 noch nicht erschienen]
HERBST, Ludolf, Das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945, Frankfurt/Main 1996.
HILBERG, Raul, Die Vernichtung der europäischen Juden, 3 Bde., Frankfurt/Main 1990 (1961).
KAISER, Wolf, Die Wannsee-Konferenz, in: Heiner Lichtenstein/Otto R. Romberg (Hrsg.), Täter - Opfer - Folgen. Der Holocaust und die Gegenwart, Bonn 1995, S. 24-37.
LONGERICH, Peter, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München/Zürich 1998.
PÄTZOLD, Kurt/SCHWARZ, Erika, Tagesordnung: Judenmord. Die Wannsee-Konferenz am 20.1.1942. Eine Dokumentation zur Organisation der Endlösung, Berlin 1992.


Christopher Egenberger/Gerd Kühling

 

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