Interview mit Jerry Fielder   


Jerry Fielder ist seit 1979 Sekretär von Yousuf Karsh und eröffnete in seinem Namen die Ausstellung "Helden aus Licht und Schatten" in Berlin. Jerry Fielder traf Yousuf Karsch 1979 zum ersten Mal in der Fotografenschule in St. Barbara, Kalifornien, die er als Student besuchte. Yousuf Karsh kam gewöhnlich alle zwei Jahre für einen Lehrauftrag an die Schule. Vor einem dieser Besuche fragte die Schulleitung einige Studenten, ob sie sich bei Mr. Karsh bewerben wollten. Jerry Fielder bewarb sich und wurde ausgewählt. Er sollte ursprünglich für zwei Jahre angestellt werden, woraus 22 Jahre wurden.

Yousuf Karsh war damals bereits eine bekannte Persönlichkeit, u. a. weil er in der populären US-Fersehsendung "Sixty Minutes / Sechzig Minuten" aufgetreten war. Yousuf Karsh trat in dieser Interviewsendung, in der hauptsächlich Künstler porträtiert wurden, kurze Zeit vor diesem ersten Treffen auf. Jerry Fielder nahm sie auf Video auf und sah sich den Film immer wieder und wieder an, obwohl er keine Ahnung hatte, dass der Fotograf einen Lehrauftrag an seiner Schule hatte. Erst drei Monate später beim Vorstellungsgespräch kam es zum überraschenden Wiedersehen. Erfreulich bei diesem Wiedersehen war für Jerry Fielder, dass die Person, die er auf dem Fernsehbildschirm sah, identisch mit der Person war, die er im Vorstellungsgespräch erlebte.

Auf das Porträt von John H. Garo angesprochen, das 1929 von Karsh aufgenommen wurde und ihn mit Turban auf dem Kopf zeigt, erzählt J. Fielder, dass Yousuf Karsh zwar armenische Wurzeln hat, aber grundsätzlich ein Kosmopolit war. Karsh sei eine Person des Augenblicks. Er lebt nicht in der Vergangenheit, gerade wenn die Vergangenheit schrecklich war wie im türkischen Armenien. Als Karsh in Kanada ankam, wurde dieses Land zu seinem Lebensmittelpunkt, und darauf konzentrierte er sich. Er war damals 15 Jahre alt, und die Dankbarkeit, dass Kanada ihn aufgenommen hatte, lässt ihn auch heute noch einen sehr stolzen Kanadier sein, obwohl er jetzt in den USA lebt. Abgesehen davon sieht er sich als Weltbürger.

Jerry Fielder, der bei jedem Fototermin anwesend war, schilderte dem DHM die Arbeitsweise von Karsh: Er liebte es, wenn die Leute zu ihm kamen, wenn sie fotografiert werden wollten. Dadurch seien die Voraussetzungen für eine gute Zusammenarbeit gegeben. Zu Beginn der Karriere wurden die Kontakte noch oft von Magazinen (z.B. time und life) hergestellt, in deren Auftrag er arbeitete. Sein Ziel war es aber von Beginn an, dass die Leute auf ihn zukamen. Am Ende seiner Karriere konnte er sich diesen Traum auch verwirklichen.

 

Bei den Fototerminen waren nur das Model, Jerry Fielder und natürlich Yousuf Karsh anwesend. Karsh war der Überzeugung, dass die Ansammlung vieler Menschen in solch einer Situation nur ablenken würde. So mussten alle den Raum verlassen. Karsh konnte sich ab diesem Moment voll und ganz auf die vor ihm sitzende Person konzentrieren, und diese Konzentration war ansteckend. Gleichzeitig war die ihm gegenübersitzende Person auch ganz auf Karsh fixiert. Fielder kümmerte sich derweil - möglichst unauffällig - um all die kleinen technischen Belange: z. B. dass sich die Scheinwerfer nicht im Objektiv spiegelten.

Eine Fotosesssion begann Karsh mit intensiven Nachforschungen, er las alles über die Person, die er porträtieren sollte. Somit wusste er ziemlich viel über den Menschen vor dem jeweiligen Arbeitsbeginn. Im Idealfall - das war natürlich nicht immer der Fall- konnten Karsh und Fielder schon den Tag vor dem eigentlichen Produktionsbeginn mit der zu porträtierenden Person verbringen. Der passende Aufnahmeort wurde gesucht, und ein anschließendes Dinner schuf oft die Atmosphäre für ein ungezwungenes Beisammensein. Während dieser Zeit beobachtete Karsh die Person sehr aufmerksam, ohne dass es seinem Gegenüber richtig bewusst wurde. Er beobachtete genau, was natürlich und was authentisch an seinem Gegenüber war.

Am zweiten Tag begannen die Aufnahmen. Bei der Begrüßung begann Karsh sich über Themen des Vortages zu unterhalten. Er bestimmte die Atmosphäre. Natürlichkeit und Authentizität waren besonders wichtig für ihn. Die Session selbst dauerte ein bis zwei Stunden. Karsh arbeitete mit Großformatkameras mit acht bis zehn Zoll-Negativen. Das war nicht so einfach wie mit einem 35mm Film, bei dem es "Snap, Snap, Snap" ging. Manchmal unterbrach Karsh die Sitzung, um der Person die Möglichkeit zu geben sich zu erfrischen oder einfach ein wenig auszuruhen.

Karsh richtete das Licht nach einer Unterbrechung immer wieder nach den selben Vorgaben ein. Hatte die Arbeit erst einmal begonnen, dann war es eine Zusammenarbeit zwischen Karsh und dem Porträtsitzenden. Im übrigen arbeitete er solange, bis er das Foto hatte. Und er wusste immer, wann er das Foto gemacht hatte. Manchmal beendete er die Arbeit schon nach 45 Minuten, auch wenn ursprünglich zwei Stunden angesetzt waren. Es bedurfte für ihn nicht einmal des Blickes auf die Negative, um sicher zu sein, das entscheidende Foto geschossen zu haben.


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DHM: Ich möchte auf ein besonderes Foto zu sprechen kommen, das Anfang der fünfziger Jahre aufgenommen wurde. Es zeigt die Rückenansicht des Cellisten Pablo Casals. Durch das "Einswerden" von Person, Cello und Kirchenraum vermittelt das Foto eine besondere Stimmung und scheint doch zugleich kein typisches Karsh-Porträt zu sein...

J.F.: Es ist kein typisches Karsh-Porträt, dennoch ist es zumindest in einer Weise wiederum typisch für Karsh: auch diesem Bild liegt kein vorgefertigtes, feststehendes Konzept zugrunde. Er wusste nicht lange im Voraus, dass er mit Casals in dieses Kloster gehen würde, um ihn mit dem Rücken zur Kamera zu fotografieren. Diese spezielle Situation entwickelte sich spontan, denn zur selben Zeit machte er eine Reihe von anderen Fotos, die Casals alle von vorne zeigen. Und während der gemeinsamen Arbeit, spürte er die Konzentration, die diese Rückenansicht ausdrückte. Ich denke, dass viele Fotografen auf Designer und Stylisten zurückgreifen, um die gesamte Arbeit im Voraus sorgfältig zu planen. Karsh liebte es immer spontan zu sein. Und dieses Foto ist ein wunderbares Beispiel für seine Spontanität, und wie erfolgreich sie ist. Karsh ist offen für jede Situationsveränderung, wenn er fotografiert. Er hatte keine starren Vorstellungen in seinem Kopf, von dem was er als nächstes tun wollte - alles ist vorstellbar, alles ist möglich.
DHM: Mr. Karsh fotografierte sowohl in schwarz-weiß als auch in Farbe. Was macht aus der Sicht des Fotografen den Unterschied aus?


J.F.: Die Mehrzahl der Fotografien sind in schwarz weiß und in Farbe. Er fotografierte oft in Farbe, weil die Zeitschriften, die seine Bilder veröffentlichten, Farbfotografien wünschten - die Menschen verlangen nach Fotografien in Farbe. Ich denke, Karsh war der Überzeugung, er müsse das anbieten, aber Farbfotografien waren weder seine Herzensangelegenheit noch seine freie Wahl. Schwarz-weiß war seine große Liebe. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass man viel mehr Kontrolle über Schwarz und Weiß hat, die Farben entwickelt man nicht selbst, ganz im Gegensatz zu schwarz-weißen Bildern. Die Art und Weise, wie Karsh Filme entwickelte, war von einer gründlichen Durchsicht gekennzeichnet: Dazu wurde der Film in ein spezielles Bad getaucht, das den schwarz-weißen Negativfilm in einen Film mit Grünton verwandelt. In der Dunkelkammer konnten wir ein ganz, ganz schwaches grünes Licht anmachen. Und wenn Karsh entwickelte, hielt er jedes einzelne Negativ kurz ins Licht, bis es genau so war, wie er es wollte, um es dann in das Entwicklerbad zu legen. Er ließ sich die Entwicklung des Negativfilms auch nicht ganz von der Zeit- und Temperatureinstellung des Entwicklerbades diktieren, er betrachtete jedes einzelne Negativ während des Entwicklungsvorgangs genau, und auch wenn er sich 10 Negative ein und derselben Fotostrecke vornahm, bearbeitete er jedes einzelne Negativ in einer anderen Entwicklungszeit. Diese individuellen Bearbeitungsmöglichkeiten gaben ihm das Gefühl größtmöglicher Kontrolle, und das ist einer der Gründe für seine Wertschätzung der Schwarz-weißfotografie.


DHM: Dem Fotografen bieten sich verschiedene Motivgruppen vom Genre über die Landschaft bis hin zum Porträt an. Der Kern des fotografischen Schaffens von Karsh besteht aus Porträts. Was faszinierte Mr. Karsh speziell an diesem Thema?



J.F.: Die Ausstellung im Deutschen Historischen Museum zeigt, dass er durchaus mit verschiedenen Motiven experimentierte. Er absolvierte einige fotojournalistische Arbeiten, fotografierte eine ganze Serie kanadische Städte - und dies sehr erfolgreich. Aber sehr früh in seiner Laufbahn, als er bei John H. Garo in Boston seine Fotografenausbildung absolvierte, war er mit vielen Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten konfrontiert - und es faszinierte ihn. Meiner Meinung nach förderte die Faszination seine Herkunft aus Armenien, wo alles sehr schwierig war. Er empfand großen Respekt für Menschen mit vielseitigen Fähigkeiten, Menschen, die einen Beitrag zur Verbesserung dieser Welt leisten wollen, und im Gegensatz zu denen stehen, die sie immer mehr auseinanderreißen. Folgt man dieser Grundannahme, kann man zwei unterschiedliche Reaktionen von Menschen benennen: Die einen haben schlechte Erfahrungen gemacht und sind seitdem von einer negativen Grundstimmung gefangen, oder aber sie haben das Negative gesehen und sind deswegen von dem Positiven fasziniert. Karsh war von dem positiven Gegenpol fasziniert. Er hatte einen großen Respekt vor Menschen, die sich politisch, sozial, künstlerisch engagierten, um die Welt zu verbessern. Genau dies übte eine große Faszination auf ihn aus, und die Fotografie war seine Interpretation des Themas mit den Mitteln des Fotofilms.


DHM: Mr. Fielder, Sie haben an Portätsitzungen mit A. Warhol, M.Gorbatschov, J. Norman und vielen anderen Persönlichkeiten teilgenommen. Erinnern Sie sich an ein außergewöhnliches Zusammentreffen mit einer Person, der es z.B. schwer fiel, das Gesicht vor der Kamera zu öffnen?



J.F.: Ich kann sagen, es war für keinen schwierig, von Mr. Karsh fotografiert zu werden. Das mag jetzt klingen, als ob man jemandem Honig um den Bart schmieren würde: Ich erinnere mich keiner einzigen Fotositzung bei Mr. Karsh, die für den Porträtsitzenden nicht eine angenehme Erfahrung gewesen wäre. Mr. Karsh ist ein außergewöhnlich charmanter Mensch, und er ist eine sehr authentische Person, und wenn Sie ihn treffen, merken Sie sofort, dass das Gesicht der Person, das sie sehen, eins ist mit dem Menschen dahinter. Da ist keine Hinterlist, keine Falschheit - die Wärme, der Charme und das Interesse am Gegenüber sind aufrichtig. Er schafft es, eine Atmosphäre zu schaffen, die Leute entspannt und sie selbst sein lassen. Das ist der Grund für den Erfolg seiner Fotografien. Sowohl für Familienmitglieder als auch für die Verehrer einer bestimmten Person gilt, dass sie, sobald sie ein Karsh-Porträt betrachten, sofort wissen, DAS IST die Person. Ein Grund mag dafür sein, dass es ihm gelingt, das Authentische eines Menschen im Foto festzuhalten. Für den Porträtsitzenden ist es nur dann einfach "nur er selbst zu sein", wenn er sich in einer angenehmen Gesellschaft weiß. Karsh hat eine Art, für jeden eine angenehme Atmosphäre zu schaffen.


DHM: Sie haben sich die Präsentation der Karsh-Bilder im Deutschen Historischen Museum in Berlin, die von Janet Yates zusammengestellt wurde, bereits angesehen. Haben Sie einen Lieblingsraum in der Ausstellung?

J.F.: Ich war gestern mit Janet in der Ausstellung. Ich mag jeden Raum. Ich arbeitete solange mit den Bildern, ich organisierte Karshs Archiv, und ich kenne seine Arbeit sehr gut. So vielen Fotografien wieder zu begegnen, die ich schon lange nicht mehr gesehen hatte, war ein schönes Erlebnis. Die frühen Fotografien finde ich hochinteressant, weil einige bisher noch nie gezeigt wurden, andere konnte man zuletzt vor vielen, vielen Jahren sehen. Diese Bilder repräsentieren eine andere Seite seines Werkes. In den dreißiger und vierziger Jahren waren Karshs Arbeiten viel experimenteller. Für mich war es eine aufregende Begegnung mit seinem Frühwerk, das für mich von besonderem Interesse ist.
DHM: Sie haben schon mehrere Karsh Ausstellungen an unterschiedlichen Orten gesehen. Was kennzeichnet die Berliner Präsentation im Deutschen Historischen Museum?


J.F.: Zuerst einmal ist das die schönste Ausstellung seiner Fotografien, die ich jemals gesehen habe. Es ist die bei weitem umfassendste, und sie folgt dabei seinem Lebensweg von der Eröffnung seines Studios im Jahre 1932 bis zu seinem Arbeitsende 1992, also 60 Jahre später. Er gab verschiedene andere Ausstellungen, die jeweils Einzelaspekte seines Schaffens betonten, aber die meisten Präsentationen tendierten dazu, ausschließlich seine Porträts von berühmten Persönlichkeiten zu zeigen, aber er hatte so viele Talente. Es ist ein Chance für die Besucher der Berliner Ausstellung das Werk von Karsh in seiner ganzen Tiefe auszuloten. Ich sollte noch folgendes erwähnen, da Sie nach der Besonderheit der Berliner Ausstellung von Karsh gefragt haben: Das Gesamtwerk von Karsh erscheint mir aus zwei unterschiedlichen Gründen bewerkenswert zu sein: Einerseits als historisches Dokument, denn er hat fast alle wichtigen Personen des 20. Jahrhunderts dokumentiert. Andererseits ist sein Werk auch ein künstlerisches Zeugnis. Er dokumentiert Menschen mit dem Blick des Künstlers. Dabei gelang es ihm immer wieder ein Stück Wahrhaftigkeit abzubilden. Beim Betrachten seiner Bilder lernt man etwas über die dargestellten Personen, unabhängig vom eigenen Vorwissen. Jenseits des physischen Vorhandenseins eines Porträts auf Fotopapier, beginnt das Bild, von der dargestellten Person zu erzählen. Die Bilder transportieren Informationen.

DHM: Lassen Sie uns noch von den künstlerischen Wurzeln von Mr. Karsh sprechen. Wurde sein Werk von der traditionellen Porträtmalerei, die sich seit der Renaissance an den europäischen Fürstenhöfen entwickelte, beeinflusst?

J.F.: Es scheint mir interessant zu sein, dass Karsh von seinem Lehrer John. H. Garo, der ihn stark beeinflusste, in den späten 20er- und frühen 30er Jahren sowohl in das Museum der Schönen Künste in Boston als auch in die dortige öffentliche Bibliothek geschickt wurde, um die Bücher über die Maler und die Gemälde selbst zu studieren. Mit Velasquez und Rembrand befasste er sich ganz besonders, wobei er sich auf die Lichtkomposition und deren Verwendung durch den Künstler konzentrierte. In der Tat steht Karsh in der Tradition der Hofkünstler, und die Art und Weise seines Umgang mit Licht geht auf die Malerei zurück. Sein Lehrer John H. Garo sagte von sich, dass er "mit Licht malen würde". Garo selbst war übrigens Fotograf und Maler zugleich. Dieses Umfeld prägte Karsh in besonderer Weise.
DHM: 1992 hat Herr Karsh seine Arbeit als Fotograf beendet und lebt seit einigen Jahren in Boston (USA). Haben Sie noch Kontakt zu ihm?

J.F.: Wir telefonieren jeden Tag, ich bin noch bei ihm angestellt, und deshalb verbringe ich mehrere Wochen im Jahr mit ihm - auch in Boston, seinem jetzigen Wohnsitz. Ich telefonierte mit ihm letzte Nacht und erzählte ihm von der Ausstellung und beschrieb ihm Raum für Raum. Man kann sagen, ich begleitete ihn bei einem virtuellen Ausstellungsrundgang. Er ist sehr aufgeregt. Es ist sehr Schade, dass er nicht dabei sein kann, aber er wird in zwei bis drei Wochen 92 Jahre alt. Reisen ist schwierig, Aber er verfolgte die Entstehung der Ausstellung, und Janet Yates hielt uns wunderbar auf dem Laufenden, so dass er sicher alles über die Ausstellung weiß.