LILLY KOLTUN
Die Konstruktion des neuen Lichts


Lilly Koltun Die Konstruktion des neuen Lichts Auf der Suche nach frühen Anzeichen der neuen, modernen Fotografie des zwanzigsten Jahrhunderts in Kanada ist den Theaterarbeiten Yousuf Karshs bisher zu wenig Aufmerksamkeit zuteil geworden. Sicher ist eine der Ursachen darin zu sehen, daß Karshs Realismus auch etwas Antiquiertes an sich hat. Jedenfalls inspirierte ihn das Theater nicht zu einem Stil, wie ihn die Neue Sachlichkeit mit ihrer fotografisch puristischen Ausrichtung und ihrem sozialen Engagement postulierte. In den frühen dreißiger Jahren, als Karshs Studioporträts sich noch in einem Experimentierstadium befanden, wurde von der Theaterfotografie Klarheit und "scharfe Umrisse" verlangt, weil sich schwache Halbtonwerte schlecht in Zeitungen reproduzieren ließen.
(1) Aufgrund der technischen Anforderungen entwickelte Karsh eine Vorliebe für Kontraste, Konzentration und Komposition. Auf diesem Wege kehrte er den weichumrissenen Bildern der Piktoralisten, die seine Lehrmeister gewesen waren, endgültig den Rücken. Er lernte, Gesichter in Beziehung zu setzen - en face und im Profil. Er begriff den Ausdrucksreichtum von Händen oder auch Beinen, die er gern spitzwinklig ausrichtete - wie in dem Bild "Überstimmt" (Abb. 112). Gern komponierte er parallele Linien: Mit der Horizontalen eines Frauenarms wiederholte er die Schulterpartie eines Kostüms. Karshs Vorliebe für die Darstellung scharf gezeichneter Details und seine ungemein formalen Posen zeigen ihn als einen Fotografen, der seine viktorianischen Wurzeln mit einem neuen (oder wiederentdeckten) Realismus verknüpfte.

Karshs besondere Fähigkeit, lebendige Details mit großer Raffinesse herauszuarbeiten, ist nicht allein das Resultat einer langen Erfahrung, sondern rührt paradoxerweise aus seiner Beschäftigung mit der artifiziellen Welt des Theaters. Besonders die Möglichkeiten der Theaterbeleuchtung wiesen ihm in der Fotografie neue, flexiblere Wege und eröffneten ihm ungeahnte Ausdrucksmittel, wenn es darum ging, Leben in seiner ganzen Eindringlichkeit nicht nur zu imitieren, sondern zu interpretieren. Das Phänomen Theater lehrte ihn auch, das Publikum für seine subjektiven Interpretationen zu gewinnen. Das Echo auf seine Theaterfotografie, wie auf seine Gesellschaftsfotos, bestätigte ihn in seiner Kunst, ein Publikum zu bezaubern; womit er - wie er seiner zukünftigen Frau, Solange Gauthier freimütig gestand - seinem eigenen Ziel, lieber berühmt als reich zu werden, ein gutes Stück näher kam.

Die Amateurschauspieler des Ottawa Little Theatre öffneten Karsh - auch darauf hat der Fotograf stets hingewiesen - im Hinblick auf die Möglichkeiten der Beleuchtung, die Augen: "Garo hatte mir beigebracht, mit Tageslicht zu arbeiten; man mußte nur auf das richtige Licht warten. Neu war für mich, daß ein Regisseur mit der Beleuchtung machen konnte, was er wollte. Die unbegrenzten Möglichkeiten künstlicher Beleuchtung überwältigten mich. Stimmungen ließen sich erzeugen, modifizieren, intensivieren. Diese neue Methode der Daseinsinterpretation, begeisterte mich."
(2) Karshs Beschreibung seiner Reaktion auf das Bühnenlicht (und seine Bemerkung, daß er die künstliche Beleuchtung nicht vor 1932 einsetzte(3)), verleitete die Forschung bisher zu der Annahme, daß er vor diesem Zeitpunkt keine Erfahrungen mit der neuen Beleuchtungsart hatte. Er ist jedoch während seiner Lehre im Atelier seines Onkels George Nakash in Sherbrooke, Quebec, von 1924-1927 und später von ca. 1930-1932, nach seiner Rückkehr von seinem Lehrer John H. Garo, sowohl mit künstlicher Beleuchtung, Porträtfotografie sowie Fotojournalismus vertraut gewesen. Die zahlreichen, großen Zeitungsannoncen, mit denen Nakash für sein Atelier warb, stützen diese Feststellung. Diese Anzeigen, in denen das Atelier seine modernen Methoden anpries, sollten in der Zeit zwischen Oktober und Dezember das Weihnachtsgeschäft in Schwung bringen. Seit spätestens 1924 annoncierte das Atelier "Licht wie Sonnenstrahlen", was der Kundschaft auch Abendsitzungen ermöglichte; ein Fototermin hing nicht mehr von gutem Wetter ab. (4) Auch das Atelier Sears, Nakashs Konkurrenz in Sherbrooke, offerierte ab 1925 dieses Angebot.(5) Der Gebrauch künstlicher (vermutlich elektrischer Beleuchtung) war nicht überraschend, denn elektrisches Licht wurde seit seiner Erfindung um 1880 in Ateliers zunehmend eingesetzt(6), und seit ca. 1923 wurde es sowohl von Berufs- als auch Amateurfotografen benutzt.(7) Dennoch hat die Forschung dieser Licht-Anwendung im Atelier Nakash nur wenig Bedeutung beigemessen. Wissenschaftlich belegt dagegen ist der prägende Einfluß im Umgang mit dem neuen Medium durch die Probenarbeit am Ottawa Little Theatre zu Beginn der dreißiger Jahre. Dennoch sollte betont werden, daß Karsh bereits aus seiner Lehrzeit der Einsatz von Kunstlicht in der Porträtfotografie nicht unbekannt war.(8)
Karshs Porträt von Lysle Courtnay (Abb. 117) zeigt exemplarisch, mit welchem Können der Fotograf schon in den dreißiger Jahren vorhandenes Licht einsetzte. Seine Ansicht des Foyers des Ottawa Little Theatre - Ort des Courtnay-Porträts und vieler gesellschaftlicher Anlässe im Rahmen des Dominion Drama Festivals - zeigt Schattendetails und breit gefächerte Kontraste, meidet Lichthöfe und stellt ein Gleichgewicht zwischen drei Lichtquellen und zwei großen dreiflügeligen Fenstern her.(9) Vielleicht benutzte Nakash seine Beleuchtung "wie Sonnenstrahlen", um Naturlicht-ähnelnde Verhältnisse zu schaffen. Außerdem war die Beleuchtung der piktoralistischen Welt Garos, wie in Lysle Courtnays Porträt, kontemplativ und diffus - ein symbolisch suggestives Zwielicht. Sonnenaufgang oder Dämmerung mit geringen Kontrasten und vorherrschenden Schattenzonen spielten häufig in der Beleuchtung eine bevorzugte Rolle. Alternativ nutzten die Piktoralisten eine ebenso begrenzte, durchgängige Helligkeit.

  Auszüge aus dem gleichnamigen Katalog zur Ausstellung - "YOSUF KARSH - Helden aus Licht und Schatten",
mit freundlicher Genehmigung des G+H Verlages, Berlin.

Demgegenüber entdeckte Karsh im Kunstlicht des Theaters eine von der Natur abgekoppelte Beleuchtung, die vom Regisseur optimal eingesetzt, ausgesucht und manipuliert wurde. Karsh hielt das Licht mehr als die Kamera für sein Medium; selbst als Kunstschüler in Boston gab er zu, daß er weniger Talent zum Zeichnen als zum Arrangieren der Beleuchtung des Aktmodells habe. Nun betrachtete er Licht, also die Erhellung der Dunkelheit, nicht mehr als Imitation der Sonne, sondern als Imitation der Kunst, der Kunst des Dramas. Ein besonderes Beispiel theatralischer Bühnenbeleuchtung jener Zeit ist eine von mehreren Aufnahmen, die Allan Sangster 1930 in Toronto von Ibsens ›Peer Gynt‹ anfertigte. (Abb. 103) Das Bild, zwar piktoralistisch weich gezeichnet, demonstriert den expressionistischen Einsatz von Licht und Schatten. Im Hollywood-Jargon hieß diese Beleuchtung "Jazz lighting" und wurde häufig noch bizarrer oder kontrastreicher eingesetzt.(10) Theaterbeleuchtung hatte bis dahin, im Foto-Atelier wie auf der Bühne, (teils aus technischen Gründen) das Geschehen zurückhaltend in Naturlicht oder einfache Helligkeit getaucht und gelegentlich die Bühnendekoration kulissenhaft wirken lassen (Abb. 104). Der expressive Einsatz von Licht und Schatten wie in "Peer Gynt" provozierte Reaktionen der Zuschauer und prägte die Handlung auf der Bühne. Anders als bei Karshs Fotografie des Foyers des Ottawa Little Theatre (Abb. 118) definierte es die Bühne und konzentrierte die Aufmerksamkeit nicht nach den Regeln der Natur, sondern der dramatischen Absicht. Es unterstrich die Entscheidungsfreiheit des Regisseurs, entweder naturgetreues oder eher symbolisches, expressives Licht einzusetzen. Das Publikum betrat ein verdunkeltes Theater und ließ die Realität hinter sich; der Regisseur erhellte ein momentanes Vakuum und eröffnete die Inszenierung einer anderen, allein von ihm kontrollierten Welt. Kein Wunder, daß Karsh fasziniert war.

Die gesamte künstliche Existenz der Bühnenwelt wurde vom Fotografen wahrgenommen; Bühne und Bühnenmaschinerie traten in einem Bild zusammen auf. Abb. 105 zeigt auf der linken Seite einen Scheinwerfer mit Beleuchter, ganz rechts befindet sich ebenfalls ein Bühnenarbeiter. Was dies für Karshs Fotografie bedeutet, kann nicht deutlich genug unterstrichen werden. Hintergrund war seine Konzentration auf die visuelle Dramatik theatralischer Lichteffekte und weniger deren Künstlichkeit - vielmehr deren Gefügigkeit und Formbarkeit seitens der Lichtregie. Karshs Porträtkunst profitierte durch seine Theatererfahrung nicht nur von den Möglichkeiten kontrastierender, beleuchtungsbedingter, visueller Effekte sowie gewissermaßen der symbolischen Tragweite des Bühnenlichts bei der "Enthüllung" von Seelenzuständen. Es ist erstaunlich, wie schnell Karsh die Beleuchtungskunst und ihre Regeln begriff, nutzte und durch seine Lichterfahrung veränderte. Karsh betonte, er habe sie "für seine Zwecke adaptiert" und die Bühnenbeleuchtung durch eigene, zusätzliche Beleuchtung ergänzt, weil Bühnenlicht "sich allein schlecht zum allgemeinen Wohlgefallen umsetzen ließ" und deshalb Verstärkung brauche.
(11) Offenbar ließ sich Karsh - mehr als vom Einsatz vereinzelter visueller Effekte - von einer Gesamtkonzeption der Lichtdramaturgie inspirieren, die wie beim "Jazz lighting" die Thesen des Dramatikers oder die Perspektive des Fotografen unterstützte - wie in der Kritik von ›Romeo und Julia‹, aufgeführt 1933 vom Ottawa Little Theatre, deutlich wird. "Die Beleuchtung war die Beste je auf der Bühne des Little Theatre. In manchen Szenen rang man angesichts der gelungenen Effekte förmlich nach Luft. Und selten hat man außerhalb einer großen Bühne mit unbegrenzten Möglichkeiten der elektrischen Ausstattung Ähnliches erlebt. In der Schlußszene in der Gruft der Capulets waren Bühnenbild und Beleuchtung besonders bemerkenswert."(12) Das Zitat läßt schließen, daß die Beleuchtung keine natürlichen Effekte erzeugte, sondern eher jene, die der junge Karsh beim Besuch dieser Produktion als professionell manipuliert und symbolisch variiert und deshalb als eine Inspiration erlebte. Karsh arbeitete zu diesem Zeitpunkt vermutlich schon ein Jahr lang mit der Ottawa Drama League zusammen, wenn es stimmt, daß er tatsächlich kurz nachdem er Solange Gauthier kennenlernte, im Oktober 1932 zur Gruppe stieß.(13) Karshs Fotografien von dieser ›Romeo und Julia‹ Aufführung markierten seinen ersten großen Erfolg in Saturday Night, wo sie - inklusive der erwähnten Szene in der Gruft der Capulets - abgebildet wurden (Abb. 106 u. 122). (14)

Über die Beleuchtung hinaus konnte das Theater dem jungen Fotografen auch andere visuelle Anregungen bieten: radikal reduzierte Bühnenbilder, die aussagekräftigen Requisiten und Kostüme sowie die expressive Kraft der Posen und Gesten. Im Verlauf des Schauspiels wurde höchstes Drama, wurden kartharsische Momente gebannt und Einheit und Angemessenheit der Handlung im Rahmen der Bühne gelöst. Auf dem Gebiet der Theaterfotografie hatte der kanadische Generalgouverneur Lord Bessborough als Gründer des Dominion Drama Fesitivals Karsh während der Proben wesentliche technische Ratschläge gegeben. Bessborough begutachtete nämlich bei den Proben seinen Sohn, Lord Duncannon, Hauptdarsteller in ›Romeo und Julia‹. Sein Rat an den Bühnenfotografen lautete: "Wenn Ihnen bei den Proben ein Zitat besonders gefällt, geben Sie es später dem Schauspieler als Stichwort für die gewünschte Pose."(15))Dieser Vorschlag spiegelte allerdings eine übliche Praxis wieder, wie die hier gezeigten früheren Bühnenfotos beweisen (Abb. 25 u. 26) und Literatur der Zeit bestätigt. So beobachtete der Fotografiekritiker Robert R. Miller - als Resonanz auf die Starfotos des jungen Tonfilms - ein neues Interesse an der Theaterfotografie. Er systematisierte und kategorisierte die Theaterfotografie 1932 im American Annual of Photography und unterschied Aufnahmen von Gesamtbühne, Nahaufnahmen, Charakterstudien, Probenszenen, Sensationsfotografie aus "schrägem Winkel" und impressionistische, atmosphärische Studien. "Der Regisseur wählt die Szenen aus, die für ihn den stärksten Erzähl- oder Handlungscharakter besitzen; dann bittet er seine Schauspieler, die entsprechenden Bühnenpositionen einzunehmen. Der Fotograf weist den Beleuchter ein. Der Fotograf weist dann die einzelnen Schauspieler ein."(16) Wie Karsh unterstrich auch Miller neben der Leistung des Regisseurs die Kooperation mit den Schauspielern: "Ich versetze mich von Anfang an in ihre Rolle; ich stehe auf, ich erkläre ihnen mein Vorhaben; sie fühlen sich ganz zuhause."(17) Dieses Vorgehen war jedem Porträtfotografen vertraut; auch er kontrollierte eine "Bühne" mit "Schauspielern", die darauf vorbereitet waren, eine Rolle zu spielen (Hochzeit, Familien- oder öffentliches Ereignis) - auch diese wurde vorher einstudiert. Bezeichnenderweise war die Basis dieses theatralischen Konstrukts die unmittelbare und uneingeschränkte Machtkonzession an den Gestalter der Szene, das gesamte Publikum anzusprechen, zu kontrollieren und zu bewegen. Gewöhnlich geschah dies, indem er die Anwesenheit des Publikums anscheinend einfach negierte und wie durch eine "vierte Wand" Einblick in das Dasein der Charaktere erlaubte, die sich weder dieses Einblicks noch der Tatsache bewußt schienen, daß ihr Schöpfer sie einzig und allein zur Erbauung des Publikums erschaffen hatte. Wieder ließ sich eine augenfällige Parallele zur Fotografie ziehen, zur unsichtbar lenkenden Hand des Fotografen oder zum Interesse an der Erbauung eines uneingestandenen Publikums. Insofern läßt sich von den zeitgenössischen Praktiken des Amateurtheaters auf die kalkulierten Techniken und Intentionen eines Regisseurs oder Produzenten schließen, in die Karsh durch seine Probenerfahrung und Solange Gauthiers Regiearbeit Einsicht erhielt. A. K. Boyds bekanntes Handbuch, zum Beispiel, das zuerst 1934 in England erschien, orientierte sich an der kritischen Position des Regisseurs oder Produzenten, der das Endprodukt kontrollierte. Die darin enthaltenen Ratschläge haben eine eindeutige Ausrichtung: "Ein Schwerpunkt ist auf die notwendige Berücksichtigung des Publikums gelegt worden, weil dieses viel zu oft vernachlässigt wird. Kein Stück kann ohne dessen Kooperation erfolgreich wirken, und deshalb sollte die gesamte Produktion darauf ausgerichtet sein. Das Publikum entscheidet letztendlich über den Erfolg; der Wert seines Urteils besteht aus seinen Reaktionen im Verlauf des Stücks. Insofern der Regisseur dem Schauspieler bei Sprache, Bewegung und Gestik helfen kann, muß immer berücksichtigt werden, daß die geistige Arbeit dabei enthüllt wird. Das Timing der Gestik ist von äußerster Wichtigkeit. Es muß perfekt sein, sonst ist es hoffnungslos falsch. Spielraum und Maßgabe hängen allein ab vom unmittelbaren richtigen Gespür, einer unabdinglichen Fähigkeit auf der Bühne."(18) Daß Karsh visuellen und konzeptionellen dramatischen Modellen so aufgeschlossen gegenüberstand, lag natürlich auch an seiner bisherigen Erfahrung und Aufnahmebereitschaft. "Das unmittelbare richtige Gespür" auf der Bühne umreißt das Ziel seiner gesamten Karriere. Als er 1933 die Bilder für ›Romeo und Julia‹ schuf, waren manche der gewählten Szenen nicht nur Höhepunkte der Spannung und katharsischen Lösung, sondern gleichzeitig als visuelle Kompositionen in der symetrischen und linearen Balance unverkennbare Vorläufer der typischen Posen professioneller Porträtfotografie (Abb. 107) auch bei dem jungen Karsh. Figuren posieren vor Fenstern und Türen, die sich später bei vielen Fotografen wie bei Karsh und früher noch bei Steichen (Abb. 110) zu Hintergründen mit vertikalen Streifen, Vertäfelungen und Schwarz-weiß-Kulissen entwickelten. Dies war natürlich keine Erfindung der Fotografie, sondern rührte noch aus der Porträtmalerei, wo sich häufig hinter den abgebildeten Personen Fenster und Bogengänge öffneten. Dennoch ist bemerkenswert, daß sich im zwanzigsten Jahrhundert statt Raumöffnung oder biografischem Symbolkontext eher der Gebrauch flacher, geometrischer Formen als Rahmen und Begrenzung der Figur durchsetzte. Ebenso hatten Kostüm und Rollenspiel in der Fotografie seit ihrer Erfindung einen integralen Part gespielt. Besonders die Piktoralisten sahen darin ein Signal ihres Aufbruchs zur Schönheit und einer besseren, spirituelleren Welt. Wenige Jahre zuvor hatte der führende kanadische Piktoralist, Sidney Carter, begonnen, biblische Figuren in ägyptische Kostüme zu kleiden, die Hauptakteurin war Mary Colhoun Duncan, die 1924 seine zweite Frau wurde (Abb. 108). Und als John H. Garo seinen Schüler Karsh 1929 mit Turban porträtierte (Abb. 109 u. 1), war dies nicht nur eine Referenz an die gemeinsame ethnische Zugehörigkeit zu Osteuropa- es war eine Verneigung vor dem "orientalischen" Exotismus, einem wenn auch überfrachteten und stereotypen, dennoch piktoresken und piktoralistischen Konzept. Für den westlichen Betrachter diente es zugleich als Hinweis auf Garos Kunstfertigkeit.(19) Indem es den Osten romantisierte, neutralisierte das Porträt zudem ein gesellschaftliches Stigma - die eindeutig östliche Physiognomie des Armeniers. Auch Karshs Onkel Nakash produzierte 1935 für eine Ausstellung einen noblen Wüstenhäuptling und bezog sich dabei auf die kulturellen Konnotationen eines heroisierten Lawrence von Arabien.

  Auszüge aus dem gleichnamigen Katalog zur Ausstellung - "YOSUF KARSH - Helden aus Licht und Schatten",
mit freundlicher Genehmigung des G+H Verlages, Berlin.

Als Karsh nun Duncannon 1934 zu Publicity-Zwecken in nahöstlicher Kostümierung fotografierte (Abb. 119), flossen dabei sicher seine persönlichen Erfahrungen hinein. Obendrein weckte er nicht nur Assoziationen an das Heilige Land, sondern auch an das Land der Hollywood-Scheiche. Duncannon posierte als Azarias, eine Inkarnation des Erzengels Raphael, den Gott Tobias sandte, einer der Hauptfiguren in ›Tobias und der Engel‹ - einer Aufführung des Ottawa Little Theatre zu Weihnachten 1934.(20) Das Porträt des Charakterschauspielers stand für große künstlerische Absichten und Traditionen, und selbst die kulturelle oder religiöse Fantasie schien glaubhaft - weit über das übliche publikumswirksame Star-Porträt hinaus, Rudolf Valentino eingenommen. Besonders bei Kostüm-Porträts sind die Grenzen zwischen Realität und Pose schwer definierbar, weil hier das Kostüm eine andere Publikumsrealität anspricht. Diese Einsicht in Macht und Schichtung publikumsabhängiger Wirklichkeiten innerhalb eines Bildes war für Karsh gewiß von unschätzbarem Wert.

Denn mit dem neuen Ausdrucksmittel bot das Theater Karsh auch früh Gelegenheit, seine Fotografien einem großen Publikum als offenkundige Dokumentation, unantastbares Kulturgut und reine Idee zugängig zu machen - unbeeinflußt von außen und ermöglicht von inneren Horizonten des Denkbaren, Verständlichen und Erwünschten. Seine Arbeit mit der Ottawa Drama League verschaffte ihm nicht nur, wie häufig festgestellt, den Zutritt zur gesellschaftlichen Elite, sondern auch, und dies ist weniger oft anerkannt worden, zum Massenpublikum des Theaters und der Presse. Als er, der Einwanderer und Neu-Kanadier, sich die Werte und Ruhm transportierenden Narrative der westlichen Kultur zueigen machte und einzusetzen lernte, wurde nicht die prominente Gesellschaft, sondern das Massenpublikum seine wahre Kundschaft.

Was Karsh dem Theater brachte und was er dort vorfand, läßt sich am besten darlegen, wenn man seine Arbeiten mit denen seines fotografischen Hauptkonkurrenten beim Dominion Drama Festival, Thomas George Jaycocks, genannt "Jay", in Saturday Night vergleicht. Jaycocks war 1933 gerade als Fotograf der Wochenzeitschrift angestellt worden, nachdem er dem Herausgeber B. K. Sandwell "gute Zeitungsillustration" geliefert hatte, "mit kühnen Konturen und einer augenscheinlich tiefen, atmosphärischen Perspektive, die Auge und Aufmerksamkeit auf den ersten Blick fesselte"
(21). Obendrein gefielen Sandwell die Fotografien mit "versteckter Kamera, die bei normalem, natürlichem oder künstlichem Licht im Raum und mit kurzer Belichtungszeit aufgenommen wurden, so daß die ›Sujets‹ sich des Aufnahmemoments, oder der Aufnahme überhaupt, nicht bewußt waren (22)."

Im Gegensatz zum bewußten, geplanten Ansatz Karshs mit großformatiger 8 x 10) Studiokamera (23), benutzte Jaycocks eine 35 mm Leica für seine Momentaufnahmen, und Sandwell behauptete, allerdings zu Unrecht, Jaycocks sei 1933 der einzige in Kanada gewesen, der solche Aufnahmen gekonnt ausführte.(24) Tatsächlich benutzte Leonard Davis in Hamilton, Ontario, die Leica in Kanada bereits mit Erfolg. Er hatte sein erstes Exemplar 1929 gekauft, und war so begeistert davon, daß er seine Freunde und die Mitglieder des dortigen, 1932 florierenden Kamera-Clubs mit seiner Euphorie ansteckte. Davis lieferte angesehene Beiträge zu internationalen fotografischen Salons und war "einer der ersten Kanadier, der die Leica kommerziell nutzte und alles - vom Blumentopf zu Eisengießereien - fotografierte, was er in seinem Druckereibetrieb auf Löschpapierblöcken und Kalendern für seine Kunden abdrucken konnte"(25).
Auch die von Sandwell angesprochene "versteckte" Kamera war seit Anbeginn der Fotografie wohlbekannt und häufig im Einsatz, wie sich vom Unmut zahlreicher Opfer und der Überfülle an "Detektiv"-Kameras auf dem Markt schließen läßt, ganz abgesehen von der unaufdringlichen, besonders klein proportionierten Fox Talbot.

Dennoch besaß die Leica einen uneingeschränkten Vorteil. Sie war 1925 in den Handel gekommen und kombinierte eine hohe Empfindlichkeit mit verbesserter Qualität und Tragbarkeit. In den Händen von Fotografen wie Felix Man oder "le roi des indiscret" Erich Salomon wurden die Möglichkeiten der Leica und ihres Äquivalents Ermanox effektvoll eingesetzt, woraus sich Sandwells Sicht erklärt: "Technik und Kamera kamen ursprünglich aus Deutschland und wurden erst kürzlich in England eingeführt; in den Vereinigten Staaten verstand man nicht viel davon."
(26)

Sein Kommentar wurde durch Photograms of the Year 1932 bestätigt, wo es hieß: "Im vergangenen Jahr (1932) hat sich die Anzahl jener Kameras vermehrt, die Filmstreifen belichten und Negative in Briefmarkengröße produzieren, und während sich deren Größe verringert hat, haben sich Genauigkeit und Perfektion des Instruments vergrößert. Im vergangenen Jahr läßt sich bei lichtempfindlicheren Filmplatten und Filmen eine Qualitätssteigerung von bisher ungeahntem Ausmaß verzeichnen. Mit diesen Platten sind auch bei schwachem Licht oder Kunstlicht Schnappschüsse möglich, was eine neue Motivpalette vor der Kamera eröffnet - besonders bei Innenraum- und Theaterfotografie mit gewöhnlichem Bühnenlicht."
(27) Der Bekanntheitsgrad der Fotografien Jaycocks durch die allwöchentliche Veröffentlichung in Saturday Night machte ihn zum vielgefragten Redner in Country Clubs und anderen fotografisch interessierten Zirkeln. Im Februar 1934, kaum ein Jahr nach seinem Eintritt in die Saturday Night Redaktion, hatte er eine Einzelausstellung in The Grange, dem Sitz der Toronto Art Gallery. Kurz darauf reiste die Show zur T. Eaton Company Art Gallery in Montreal und eine knappere Version war in kleineren Städten zu besichtigen.(28) Es gab keinerlei Anlaß, den Anspruch von Saturday Night in Frage zu stellen, diese allein aus Kleinbildnegativ-Arbeiten bestehende Ausstellung sei überhaupt die "erste Ausstellung der Kleinbild-Kamera-Fotografie in Kanada".(29) Daß sie gebührende Aufmerksamkeit erlangte, beweist der Besuch des Generalgouverneurs, Lord Bessborough, der im Gespräch mit Jaycocks fotografiert wurde.(30) Der Ausstellung folgte 1936 ein Luxus-Fotoband mit Jaycocks Exponaten "Camera Conversations by ›Jay‹", den Saturday Night mit folgendem Werbetext versah: "Dies ist das erste kanadische Buch seiner Art und sein Erscheinen ist ein Meilenstein in der kanadischen Fotografie."(31)

  Auszüge aus dem gleichnamigen Katalog zur Ausstellung - "YOSUF KARSH - Helden aus Licht und Schatten",
mit freundlicher Genehmigung des G+H Verlages, Berlin.

Sowohl die Ausstellung als auch das Buch zeigen, daß Jaycocks seine Arbeit nicht als Fotojournalismus, sondern als Kunst verstand, wenn auch eine popularisierte Kunst: "Mir liegt nur an jener Fotokunst, die erfreut und eine einfache Geschichte erzählt. Von meiner Profession verlange ich lediglich die Freiheit, Schönheit aus meiner Sicht darstellen zu dürfen. Zum Henker mit den Stilisten!"(32) Daß er ohne Hinterfragen Schönheit als Ziel der Kunst akzeptierte und "Modernisten" als "Stilisten" abtat, verdeutlicht seine Position und wird von seinen Bildern bestätigt; diese erfüllen die Kriterien traditioneller Salonaufnahmen jener Zeit, sind jedoch stärker fokussiert. (Abb. 111) Jaycocks ahnte offenbar nicht, wieviel seine Nahaufnahmen und ungewohnten Blickwinkel der avangardistischen Sensations-Fotografie oder den frühen Piktorialisten der letzten zwanzig, dreißig Jahre verdankten. Auch der Kritiker der Saturday Night, der 1934 Jaycocks Ausstellung rezensierte, legte ähnlichen Widerwillen gegen Modernismen an den Tag und betonte, Jaycocks sei "kein Studio-Handwerker, dem nur etwas an der Ästhetik seines Bildausschnitts läge; er sei ein Zeitungsmann, dem die menschlichen, dramatischen Seiten seiner Sujets voll bewußt seien(33)."

Die Simultaneität in der kanadischen Fotografiegeschichte - erstens wuchs Jaycocks Ruf; zweitens hielt die 35 mm Leica sowohl in die Kunst als auch in die journalistische Praxis Einzug, und gleichzeitig, zwischen 1933 und 1936, nahm Karshs Bekanntheit zu - ist von einiger Bedeutung. Karsh hatte sich als Theaterpublizist mit seiner großformatigen Kamera einen Namen gemacht. Er kannte sich in der Porträtkunst, im Fotojournalismus und in der Werbefotografie aus. Die durchlässigen Grenzen fotografischer "Genres" in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren lassen auf eine gegenseitige Befruchtung der Stile, Betrachter und Intentionen schließen, die der Wissenschaft später allerdings kaum der Rede wert schien.
(34) Vielleicht hat die entschiedene Trennung der Fotografie seitens der Fotografen in "kommerzielle" und "Porträt"-Fotografie die ursprünglich herrschende Durchlässigkeit verschleiert. Photograms of the Year 1932 berichtete, daß die jährliche Ausstellung der Professional Photographers Association in Großbritannien in jenem Jahr eine extra Abteilung für kommerzielle und Werbearbeiten zeigte. Im folgenden Jahr wurden aus dieser Unterteilung zwei verschiedene Ausstellungen, wohl weil man inzwischen von unterschiedlicher Kundschaft, Technik, anderen Intentionen und Bewertungskriterien ausging.(35)

Der Vergleich zwischen Karsh und Jaycocks liegt hier dennoch auf der Hand, weil beide Männer zu Beginn ihrer Karrieren Theaterproduktionen des Dominion Drama Festivals fotografierten. Insbesondere Jaycocks Bilder, dazu einige von Allan Sangster (der damals für Ashley und Crippen arbeitete) machten den größten Teil der Veröffentlichungen in
Saturday Night im Frühjahr 1933 aus, während von Karsh nur ein Foto abgedruckt wurde. Dabei handelte es sich um ein journalistisches Foto zweier Honoratioren des Dominion Drama Festivals - Preisrichter Rupert Harvey und der Direktor ehrenhalber, Colonel H. C. Osborne, Gründer der Ottawa Drama League (Abb. 113).(36) Dies änderte sich Ende 1933 bei der Ottawa Drama League-Produktion ›Romeo und Julia‹ (Abb. 122), unter der Regie von Rupert Harvey. Bereits 1934 hatten Karshs Bilder den Löwenanteil an der Berichterstattung vom Dominion Drama Festival in Saturday Night.

Sowohl für Karsh als auch Jaycocks war die Bedeutung des Lichts zentral - das Bedürfnis, ihm auf neue Art Rahmen und Gestalt zu geben und einem Massenpublikum neue Einblicke zu vermitteln. Aber wo gleicht sich die Botschaft beider Männer? Welche Unterschiede gibt es - bezüglich der Werte, der Absichten - zwischen dem Foto eines Theaterstücks, das während der Proben aufgenommen wurde, und einem am Abend der Vorstellung?

Betrachtet man Jaycocks Aufnahmen (Abb. 114), bestätigt der diffuse Fokus, daß diese Bilder vom Bühnengeschehen bei bestehendem Licht während der Abendvorstellungen fotografiert wurden. Dies entsprach den Gepflogenheiten des Saturday Night gegenüber seinen Lesern.(37) Jaycocks Ansicht von ›Back to Methuselah‹ von George Bernard Shaw (zweite Reihe, links außen) beweist den Einsatz des typischen "Jazz lighting" bei diesem ersten Festival.(38) Jaycocks wußte, daß es in der Theaterfotografie galt, den rechten Augenblick zu erwischen. Er schrieb: "Wie bei aller Action-Fotografie, muß man im rechten Moment den Auslöser drücken - manchmal ist es der Bruchteil einer Sekunde - wenn die Schauspieler still halten."(39) Jaycocks wartete, sowohl bei Einzelnen als auch bei Gruppen, auf einen Augenblick des Stillstands im Theatergeschehen. Karsh dagegen bestimmte und arrangierte während der Probe einen psychologischen Moment, Augenblick höchster Spannnung, und beschränkte sich dann häufig auf zwei, drei Figuren. Sogar das Stichwort zu Romeos Auftritt und Karshs Fotografie (Abb. 122, oben rechts) wird wiedergegeben: "Thus I enforce thy rotten jaw to open." Karsh wartete nicht während der Vorstellung auf relativen Stillstand, sondern arrangierte den Augenblick. Im Resultat wirken Jaycocks Bühne und Licht verschwommen und vergänglich, selbst wenn er stark erleuchtete Bögen als Struktur einsetzte. Karsh dagegen präsentierte die dürftige Bühne kühn und grafisch; und seine bildnerische, metaphorisch modellierende Beleuchtung verleiht den ausgewählten Momenten eine handlungskonforme Monumentalität und Permanenz.

Nichts könnte die fundamentale Differenz zwischen beiden Fotografen stärker verdeutlichen als ihre Konzeption dessen, was Fotografie im Theater für die Betrachter festhalten sollte. Jeder Fotograf schätzte und suchte eine völlig andere Beziehung zum Publikum. Der Fotograf des gestellten Augenblicks - für die Kamera choreografiert - setzt die Betrachter den Theaterbesuchern gleich, deren Realität einen Moment aussetzt, so daß sie glauben, was sie vor Augen haben, sich vergessen und im Stück aufgehen. Sie sind sich weder ihrer selbst noch der Methode der Botschaft bewußt, obwohl Schauspielern und Fotograf beides gegenwärtig ist. Der Fotograf, der lediglich einen bestimmten Augenblick des Schauspiels festhält, läßt seine Betrachter an der Authenzität der Momentaufnahme teilhaben. Sein Publikum weiß dies und ist hauptsächlich von der Neuheit der vom Fotografen angewandten Methode der versteckten Kamera fasziniert. Diese wiederum gibt eine Kostprobe ihrer Möglichkeiten und beruft sich dabei auf die von Fotograf und Betrachter geteilte Unmittelbarkeit des äußeren Erlebnisses als beste, vielleicht einzige Wahrheit. Dabei sind sich Theaterpublikum und Schauspieler des "exakten Augenblicks" der Aufnahme unbewußt. Das Abbild der Aufführung strebt nach wahrheitsgetreuer Wiedergabe des Ereignisses im Theater, während das gestellte Bild das Ereignis in Kopf und Herz wahrheitsgetreu wiedergeben will. (Karsh nannte die Kamera einmal das Auge des Herzens.) Dies gilt als der alles entscheidende Unterschied zwischen Karsh und jenen seiner Kommentatoren, die den unbewußten Augenblick allein als echt erklärten. Immer noch wird die Tatsache anerkannt, daß jede fotografische Wahrheit, unmittelbar oder gestellt, auf dem performativen Akt zwischen Schöpfer, Sujet und Publikum gründet, die einander dialektische und übereinstimmende Kriterien des Glaubwürdigen austauschen.

  Auszüge aus dem gleichnamigen Katalog zur Ausstellung - "YOSUF KARSH - Helden aus Licht und Schatten",
mit freundlicher Genehmigung des G+H Verlages, Berlin.

Wie in ihrem Wertesystem nahmen Karsh und Jaycocks auch in Bezug auf ihre eigene Rolle unterschiedliche Haltungen ein. Jay zufolge ist ein Fotograf offenkundig präsent, nutzt die neue 35 mm Technik und wartet auf das rechte Sujet im rechten Augenblick. Karsh zufolge muß der Fotograf vom Sujet verdrängt werden, dessen Botschaft zur Botschaft des Fotografen wird. Die ablenkende, offenkundige Hand des Fotografen wird durch die Hyperrealität des Sujets getilgt, was sich paradoxerweise nur durch detaillierte Kontrolle erreichen läßt. Selten arbeitete Karsh mit der aufdringlich schrägen Perspektive der Sensationsfotografen oder der versteckten Kamera. Gewöhnlich nahm er die Frontalposition des klassischen Betrachters im Guckkastentheater ein.

Dies wirft die Frage der Selektivität und Manipulation im Dialog des Fotografen mit seinem Publikum auf. Negative von Karshs Aufnahmen des Dominion Drama Festivals 1933 sind nicht erhalten (ein möglicher Beweis für die Tatsache, daß er erst im April oder Mai 1933 ein festes Atelier besaß). Negative späterer Produktionen im gleichen und folgenden Jahren zeigen, daß Karsh diese Negative vor dem Abzug wenig oder gar nicht retouchierte und auch nicht auffällig beschnitt - was in direktem Gegensatz zu seinen Porträtaufnahmen jener Zeit steht, wo er von diesen Techniken, insbesondere der Retouche, ausgiebig Gebrauch machte. Diesmal verließ er sich bei seinen Gesamtkompositionen auf Sorgfalt bei Timing und Pose, auf makellose Aufnahme und Wiedergabe einer breiten, reichen Grauskala und Intensivierung der Tönungswerte.

Sicherlich hat Jaycocks seine Vergrößerungen beschnitten; die 35mm Negative ließen sich aber nicht retouchieren - dazu waren sie zu klein. Wie die meisten Fotografen, die ihre Bilder in den Foto-Salons ausstellten, behauptete er, das wahre Bild stecke oft im Detail - manchmal enthalte ein Negativ sogar zwei Bilder. Wenn er seine Bilder auf Ausstellungen als Kunstwerke präsentierte, signierte er jedes ausführlich: "Leica Camera Study by ›Jay‹". Er brachte sie auf ein Ausstellungsformat, versah sie mit Passepartout und versachlichte den Titel. Zum Beispiel - im Vergleich zu Karshs Foto von Harvey und Osborne, knipste Jaycocks George Patton, Edgar Stone und Ivor Lewis beim Betrachten seiner Festival-Fotos (Abb. 115). Das Bild der drei Männer - Stone war Regisseur und Regional Chairman des Festivals, die anderen beiden waren Amateurschauspieler - titelte er für eine Ausstellung "Big Business". (Abb. 116) Festzuhalten ist dabei, daß "Schnappschüsse" generell nicht als Kunstwerke galten, obwohl die Signatur "Leica Camera Study by ›Jay‹" bei diesem Bild als Zeichen der neuen Technologie auch in der Zeitung mitabgedruckt war. Dennoch waren die Genres durchlässig genug, um ein solches Bild mit wenig Zutun auch im Kontext eines Foto-Salons zu zeigen.

Wenn sowohl Jaycocks als auch Karsh ihre Arbeiten für ein Publikum variierten und manipulierten, so war es doch Karsh, der sich von seinen Erfahrungen am Theater besonders inspirieren ließ. Er übernahm vom Theater weit mehr als die Metapher des Lichts. Tatsächlich internalisierte er die dramatische Einheit von Handlung, Zeit und Ort, so daß sein Thema nie den Rahmen sprengte. Er lernte die unmittelbare, transparente Botschaft zu schätzen, die sich unzweideutig auf der Oberfläche mitteilte und durch Gesicht, Gestik, Augen, Hände, Körper einen narrativen Moment transportierte. Obendrein übernahm er den modellierenden als auch den verflachenden Effekt starker Beleuchtung, die enge Bühne und den undurchdringlichen Hintergrund, in dem klar umrissene Figuren in Position gesetzt wurden. Theaterfotografie, wie die ihr verwandte Werbefotografie, verlangt eine eindeutig umrissene Botschaft, wesentlich auch - wie er später zu verstehen gab - für die Porträtfotografie: "Fotografien müssen sich selbst erklären. Das Bild muß aus sich heraus existieren. Nur das Endresultat zählt."
(40) Buchstäblich boten Porträtkunst und Drama Karsh hier eine Parallele: Beide wandten sich gleichermaßen an ihr Publikum, schufen eigene hermetische, auf sich selbst verweisende Welten, die den verständigen Betrachter einbezogen und absorbierten. Sie bestätigten gewissermaßen den symbolträchtigen Werbe-Slogan der Firma Kodak, der diese Parallele zwischen Porträtkunst und Drama nutzte und Porträtfreunden in der bekanntesten nordamerikanischen Zeitschrift zurief: "In Deinem Drama bist Du der Star."

Oder weniger plakativ: Das Massenpublikum des Theaters wie des Fotos bot den Rahmen für die gesellschaftliche Anerkennung der Fähigkeit, aus geringen Mitteln eine große Botschaft zu zaubern. Das Drama operierte auf zwei Ebenen, einer offenen und einer verdeckten. Mechanik und Kreativität - Stütze und Kontrolle des Stücks - waren nur die verborgene Basis; die Handlung war ein sich selbst genügender Wert, meßbar innerhalb der Bühnenparameter und nicht hinter der Bühne. Diese Dualität galt auch im Fotostudio, wo es in der Regel hieß: Je besser das Endergebnis, desto unauffälliger die Studioatmosphäre. Und vieleicht galt sie ebenso auf dem gesellschaftlichen Parkett Kanadas - wo nur wenige reale Macht besaßen und viele eine Nebenrolle spielten, Statisten oder Zuschauer waren. Diese Dualität taucht als wichtige Konstante bei Karsh immer wieder auf. Und vielleicht lernte er am Theater auch etwas über sich
(41) und - frei nach J. Joyce - sein eigenes, dramatisches "Porträt des Künstlers als junger Mann", der sein Publikum niemals aus den Augen verlor.



  Auszüge aus dem gleichnamigen Katalog zur Ausstellung - "YOSUF KARSH - Helden aus Licht und Schatten",
mit freundlicher Genehmigung des G+H Verlages, Berlin.







(1)
Robert R. Miller, Capturing Shadows in Stageland, American Annual of Photography 1932, hg. Frank R. Frapie, Boston 1931, S. 196. Miller betonte, daß Bühnenfotos klare Umrisse haben müssen, weil sie sich sonst schlecht abdrucken lassen. Er machte eine Ausnahme bei übernatürlichen und Traum-Sequenzen wie in ›Peer Gynt‹ (Abb. 25) Für Fotojournalisten wurden ähnliche Regeln aufgestellt, siehe Bell R. Bell, The Complete Press Photographer, Bath, Melbourne, Toronto, New York 1930, S. 57. Siehe auch The Beginnings of Camera Journalism, American Annual of Photography, 1931, hg. Frank. R. Frapie, Boston 1930. S. 44.
(2) Yousuf Karsh, In Search of Greatness: Reflections of Yousuf Karsh, Toronto 1962, S. 48. Karsh bezog sich auf John. H. Garo (Garoian) in Boston - wie er Armenier - und "einer der Meister der Porträtkunst im damaligen Nordamerika" (S. 19) Karshs Onkel Aziz George Nakash (Nakashian) ermöglichte ihm eine dreijährige Lehre bei Garo.
(3) 
"Wie gesagt, arbeitete Garo nur mit natürlichem Licht. Ich selbst benutzte künstliche Beleuchtung erst 1932 in Ottawa, obwohl es andere Fotografen in den zwanziger Jahren vermehrt benutzten." Karsh, ebenda, S. 35.
(4) 
"Wir bieten Licht wie Sonnenstrahlen, wodurch wir mit gleichem Ergebnis Tag und Nacht fotografieren können." "Fotositzungen zu Ihrer Zufriedenheit", Anzeige des Atelier Nakash, Sherbrooke Daily Record, Oktober 1924, S. 4. Ähnliche Anzeigen bis 1926.
(5)
Kunstlicht wurde womöglich auch im Atelier Powis benutzt, wo Karsh zuerst arbeitete, als er 1932 nach Ottawa kam.
(6) 
Siehe E. D. Waters (attr.) Flashlight Potraiture: A Book of Common Sense Information and Practical Methods of Making Portraits by Flashlight at Home or in the Photographic Studio, New York 1912. Über den frühen Gebrauch von Magnesiumlicht, siehe Michael Hallett, Early Magnesium Light Portraits", History of Photography 10, Nr. 4 (Okt. - Dez. 1986), S. 299-301ff., und Graham Smith, Magnesium Light Portraits, History of Photography 12, Nr. 1, (Jan. - März 1988), S. 8.
(7) 
Die fortschrittliche Benutzung künstlicher Beleuchtung läßt sich direkt auf den Einfluß des Kinos zurückführen. Siehe Photograms of the Year 1923, hg. F. J. Mortimer, London 1923, S. 6. Siehe auch Portrait Lighting, Studio Light, Dezember 1927, S. 24.
(8) Im Mai 2000 erzählte Karsh der Autorin, er sei im Atelier seines Onkels hauptsächlich Zuschauer gewesen.
(9) 
Das Foto des Foyers des Ottawa Little Theatre befindet sich in der Sammlung der National Archives of Canada, 1980-058, PA-195867. Leider existiert weder dieses noch das Negativ des Courtnay-Porträts. Karsh benutzte vermutlich eine Plattenkamera und es wäre interessant zu sehen, wie er die Lichthofbildung kontrollierte. Lichthöfe entstehen durch Streuung aufgrund der lichtempfindlichen Emulsionsschicht. 10 Siehe Robert R. Miller, Propaganda Pictures in the Press, American Annual of Photography
(10) 
Siehe Robert R. Miller, Propaganda Pictures the Press, American Annual of Photography1933, hg. Frank R. Frapie, Boston 1932, S. 38.
(11)
Interview mit Yousuf Karsh, 11. Feb. 1994, Ottawa.
(12)
Superbe Vorstellung von ›Romeo und Julia‹, Ottawa Citizen, 27. Dez. 1933, S. 11
(13) 
Womöglich war Karsh noch bei Powis ange-stellt, als Saturday Night am 22. April 1933 Fo-tos veröffentlichte, die Powis zugeschrieben sind, u.a. eine Szenenfoto von ›Crime at Blos-soms‹. Powis oder Solange Gauthier haben Karsh mit der Theaterwelt bekannt gemacht, bevor dieser Ende April oder im Mai 1933 in Ottawa sein eigenes Atelier eröffnete. Für das Theater arbeitete er anfangs unbezahlt.
(14) 
Es gibt eine anonymes Foto von Duncannon als Hamlet im Ottawa Citizen 23. Dez. 1932, das vielleicht ein früher »Karsh« ist. Allerdings erinnert sich Karsh selbst nicht daran (Ge-spräch Aug. 2000). In Saturday Night erschien am 7. Jan. 1933 ein Hamlet-Porträt, das sicher nicht von Karsh ist. Dieser erinnert sich, daß in Saturday Night zuerst sein Foto von Osborne und Harvey gedruckt wurde (Abb. 34).
(15) 
Interview mit Yousuf Karsh, 11. Feb. 1994, Ottawa.
(16) 
Miller, ebenda, S. 196.
(17) 
Interview mit Yousuf Karsh, 11. Feb. 1994, Ottawa.
(18) 
A. K. Boyd, The Technique of Play Production, 3. erweiterte Auflage, London 1934, S. 25ff., 88.
(19) 
siehe Edward W. Said, Orientalism, New York, 1979, oder Scottish National Portrait Gallery, Visions of the Ottoman Empire, Edinburgh 1994.
(20) 
Das Stück mag Karsh persönlich berührt ha-ben; es handelt von einem Alten, der sein Hab und Gut durch die Verfolgung der Assyrer ver-lor, wie Karshs Vater alles in den armenischen Massakern verlor.
(21) 
B. K. Sandwell, Foreword, in Camera Conver-sations by ›Jay‹ (T. G. Jaycocks) Toronto 1936 S. XIV.
(22)
Ebenda, S. XIII.
(23) 
Karsh arbeitete während seiner gesamten Kar-riere vorzugsweise mit großen Formaten, 8 X 10 oder 4 X 5, nur gelegentlich benutzte er eine 2 1/4 oder 35 mm Kamera.
(24)
Sandwell, ebenda, S. XIII. 
(25) 
Joan Schwartz, Salon Crescendo, 1930–1940, in Private Realms of Light: Amateur Photogra-phy in Canada, 1939–1940, hg. Lilly Koltun, Markham, Ontario, S. 184.
(26)
Sandwell, ebenda, S. XIII. Bemerkenswerter-weise kam Felix Man 1933 nach Kanada, um für eine Zeitschrift 35 mm-Aufnahmen zu ma-chen. Diese Negative befinden sich in der Felix Man Collection der NAC; sie wurden dort 1986 unter dem Titel »Quintessential Canada« aus-gestellt.
(27)
F. J. Mortimer, The Year’s Work, in Photo-grams of the Year 1932, hg. F. J. Mortimer, London 1932, S. 4.
(28)
Auch Kaufhäuser in Toronto und Montreal hat-ten eigene, durchaus nennenswerte Galerien.
(29)
The Front Page, Saturday Night, 3. Feb. 1934, S. 1.
(30)
Saturday Night, 10. Feb. 1934, S. 5.
(31)
»These will be found in ›Camera Conversa-tions‹«, Saturday Night, 7. März 1936, S. 13.
(32)
Jay (T. G. Jaycocks), Camera Conversations by ›Jay‹, Toronto 1936, S. 8.
(33)
Lucy Van Gogh, World of Art, Saturday Night, 10. Feb. 1934, S. 5.
(34)
Siehe Robert R. Miller, Propaganda Pictures in the Press, American Annual of Photography 1933, hg. Frank R. Frapie, Boston 1932, S. 38; siehe ebenfalls, H. Rossiter Snyder, The Be-ginnings of Camera Journalism, American An-nual of Photography 1931, hg. Frank R. Frapie, Boston 1930, S. 42.
(35)
Seit Mitte der zwanziger Jahren wurden Por-trätfotografen und Bildreporter in Branchenbü-chern getrennt geführt, was manchmal Doppe-leintragungen mit sich brachte. Karshs Bruder Malak, der 1937 nach Kanada einwanderte, nannte sich um Verwechslungen zu vermeiden »Malak«. Bevor er sein Atelier eröffnete, be-suchte er die Clarence H. White School of Pho-tography in New York. Sein Nachlaß befindet sich in der Malak Collection der NAC.
(36)
Saturday Night, 6. Mai 1933, S. II.
(37)
Saturday Night annoncierte am 6. Mai 1933, daß in der folgenden Woche eine große An-zahl von Bühnenfotos von ›Jay‹ abgedruckt würden, S. 7.
(38)
Auch beim zweiten Dominion Drama Festival 1934 gab es ein Stück, das sich zu dieser gern und lange angewandten symbolistischen Be-leuchtung geradezu anbot: Maurice Maeter-lincks Einakter, Der Tod des Tintagiles (1894) wurde am 27. April 1934 von Group No. 2 des Toronto Hart House gespielt.
(39)
Jay, ebenda, S. 177.
(40)
Melissa Lande, Yousuf Karsh (Interview), Lens Magazine, Juli/Aug. 1976, S. 18.
(41)
siehe Betty Lee, Love and Whisky: The Story of the Dominion Drama Festival and the Early Years of Theatre in Canada, Toronto 1973, S. 284. Karsh hatte offenbar in einem Stück selbst einmal – ohne Schach spielen zu können – eine Rolle als Schachspieler übernommen, was gewisse Heiterkeit in den vorderen Reihen erzeugte.

Aus: Yousuf Karsh - Helden aus Licht und Schatten,
Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, erschienen im G+H Verlag, Berlin.
ISBN 3-931768-49-X
Der Katalog ist über den Museumsladen des Deutschen Historischen Museums zu beziehen und kann per email unter
meiske@dhm.de bestellt werden.