SARA
STEVENSON
Karsh: Praxis und Tradition der Porträtfotografie
Die Fotografie hat seit ihrer Erfindung sowohl die weite Welt als
auch den heimischen Gefühlshorizont im Blick. Ursprünglich als öffentliche
Kunst entwickelt - eine Form der Reproduktion, gleichzusetzen mit
Stichen und Drucken - ist die Fotografie bis heute eine Publikationsmethode,
ein Medium. Doch die anscheinend öffentliche Kunst barg auch ihr
Gegenteil in sich und entwickelte sich zur intensivsten Privatkunst,
der Kunst des demokratisierten und emotionalisierten Porträts. Seit
ihrer Erfindung kann jedermann mit minimalen Mitteln sein eigenes
Porträt bestellen und besitzen.
Einer
der ersten fotografischen Prozesse, die Daguerreotypie, verlieh
dem persönlichen Charakter der Fotografie archetypischen Ausdruck.
Diese auf eine Kupferplatte projizierte Daguerreotypie schien auf
den ersten Blick ein robustes Äquivalent des Kupferstichs, von dem
sich zahlreiche Abzüge zum allgemeinen Verbrauch herstellen ließen.
In der Praxis erwies sich die empfindliche Silberoberfläche als
das Gegenteil: zerbrechlich und intim. Das Bild war einzigartig
und nicht reproduzierbar; es verlangte Schutz vor Licht und Berührung,
einen Rahmen oder ein Kästchen - als Medaillon konnte man es direkt
am Herzen tragen. Hielt man es frontal vor sich, war es kaum zu
sehen, man mußte es neigen, bis Licht einfiel. Aus dem falschen
Blickwinkel sah der Betrachter nicht das Objekt seiner Zuneigung,
sondern sich selbst.
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Auszüge
aus dem gleichnamigen Katalog zur Ausstellung - "YOSUF
KARSH - Helden aus Licht und Schatten",
mit freundlicher Genehmigung des G+H Verlages, Berlin.
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Detail
und Intensität der Fotografien Yousuf Karshs rühren womöglich vom
Vorbild der Daguerreotypie her, nehmen aber das Vorbild auf und
stellen es auf den Kopf. Die intensive Erfahrung wird auf die ursprünglich
öffentliche Intention zurückgeführt. Seine Bilder wurden weltweit
bekannt - durch Magazine, Zeitungen und Bücher. Inzwischen sind
sie öffentliche Ikonen. Selbst in einer von Prominentenbildern gesättigten
Zeit verfolgen uns Karshs Porträts. Winston Churchill, Georgia O'Keefe,
Nikita Chruschtschow oder Ernest Hemingway: Die Bilder, die angesichts
dieser Namen auftauchen - weniger vergegenwärtigt als omnipräsent
- sind "made by Karsh" (sein Churchill-Porträt existiert auf Briefmarken
in sechs Nationen). Karshs Fotografien schmücken Wände, Bücher und
besitzen die grandiose Ausstrahlung öffentlicher Kunst.
Karsh
hat mit den herausragenden Persönlichkeiten seiner Zeit gearbeitet,
die ein sensibles Gespür für ihr öffentliches Image besaßen, das
unwiderruflich und unzerstörbar sein sollte. Die außerordentliche
Fähigkeit, ein Gesicht zu einem echten "Karsh" zu machen (etwa seine
Porträts der U.S. Präsidenten), spiegelt sowohl Karshs persönliche
Stärke als auch das Vertrauen seiner Modelle. Dabei sind seine Fehlschläge
so aufschlussreich wie seine Erfolge - sein Porträt von Margaret
Thatcher wird weder der Frau noch der Politikerin gerecht. Ihr Machtwille
und ihr extremer Image-Schutz ließen keine Offenbarung zu. Sie erzählte
ihm lediglich, sie sei früh aufgestanden, um Frühstück für die Familie
zu machen - was weniger Einblick in ihr Familienleben gab als in
ihr politisches Stehvermögen. Die Fotografin Eve Arnold, die höchstens
in ihrer menschenfreundlichen Großzügigkeit mit Karsh zu vergleichen
ist, sich ansonsten radikal von ihm unterscheidet, hatte mit Margaret
Thatcher ähnliche Schwierigkeiten. Sie erinnert sich, daß es "schlicht
und einfach unmöglich war, einen Kontakt herzustellen" - dies in
einem Zeitraum von über einem Jahr. (1) So
wirkt das Karsh-Porträt von Margaret Thatcher distanziert, und der
Aufnahme, umgeben von parlamentärer Neugothik, fehlt Kohäsion und
emotionale Stärke.
Karsh
riskierte in seinen Arbeiten eine potentielle Stereotypie - er verlieh
den Führungspersönlichkeiten, die er fotografierte, einen starken,
schlichten Charakter; wie ein junger Mensch neigte er zur Verabsolutierung.
Aufschlußreich ist seine Feststellung aus den achtziger Jahren,
daß Leute ihn besorgt fragten, "ob es immer noch so große Männer
und Frauen zu fotografieren gäbe wie in der Vergangenheit - gäbe
es in dieser Ära der Anti-Helden noch die Stärke eines Churchill
oder Einstein?"
Die
Irritation, die aus der Angst um das Verschwinden der Großen im
neuen Zeitalter des Zynismus spricht, weist auf ein radikales Problem
der Maler und Fotografen hin, das erst mit dem Erscheinen der Fotografie
zutage trat. Der Wissenschaftler Sir David Brewster - schon früh
ein Experimentierer und Befürworter der Fotografie, der selbst häufig
fotografiert wurde - nannte es als einer der ersten beim Namen.
Sein besonderes Interesse galt der Kalotypie, einem von William
Henry Fox Talbot erfundenen Negativ/Positiv-Prozeß. Schon 1843 registrierte
Brewster bei seinen Porträts einen schwankenden Grad von Ähnlichkeit.
Er schrieb an Talbot: "Ich bin sehr überrascht über die unterschiedlichen
Kalotypien der selben Person. In vielen ist - auch wenn das Modell
still saß - die Familienähnlichkeit kaum bewahrt... Unter Mr. Adamsons
Kalotypien habe ich Bilder von Männern und Frauen gesehen, bei denen
das Modell einmal ausgesprochen gut aussah, ein andermal häßlich.
Dies betreffend muß noch etwas unternommen werden" (2).
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Auszüge
aus dem gleichnamigen Katalog zur Ausstellung - "YOSUF
KARSH - Helden aus Licht und Schatten",
mit freundlicher Genehmigung des G+H Verlages, Berlin.
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›Mr.
Adamson‹ war Robert Adamson von Hill & Adamson, einer erfolgreichen
Ateliergemeinschaft in Edinburgh zwischen 1843 und 1846. Scheinbar
zufällig haben Hill & Adamsons Arbeiten die gleichen Bedenken ausgelöst
wie Karshs. In der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts betrachtete
der Dichter Hugh MacDiarmid Hill & Adamsons Kalotypien als Beweis
für eine inzwischen erfolgte Degeneration der schottischen Bevölkerung.
Er berichtete von einem Gespräch mit zwei der besten Porträtfotografen
Schottlands, die beide über den bestürzenden Mangel an Gesichtern
klagten, die es sich noch zu fotografieren lohne "... Und sie stimmten
mir sofort zu, daß man nur die wunderbaren Studien schottischer
Männer und Frauen eines Fotografen wie D(avid) Octavius Hill durchblättern
müsse, um den inzwischen stattgefundenen entsetzlichen Degenerationsprozeß
festzustellen - Qualitäten wie moralische Stärke, Lebenserfahrung,
Intelligenz, Willenskraft, Urteilsvermögen, Individualität, Stärke
und Würde seien im Laufe des letzten Jahrhunderts in den Gesichtern
fast all unserer Leute eliminiert worden." (3)
Beide Vorstellungen - daß der Niedergang der menschlichen Rasse
einerseits zur mangelnden Fotogenität mancher Leute, andererseits
zur Unfähigkeit einer Porträtistengeneration, ähnliche Resultate
wie in der Vergangenheit zu erzielen, geführt habe - gehören zusammen.
Hill,
der seine Modelle gern in Pose setzte, soll ein einfühlsamer Mensch
gewesen sein. Einer seiner Freunde schrieb: "Er kann sich völlig
verausgaben und in eine andere Haut schlüpfen; er hat Humor, was
unserer Ansicht nach den Besitzer nicht nur charakterlich auszeichnet,
sondern ihn auch befähigt, Einblick in andere Charaktere zu nehmen;
und er zeichnet sich durch tiefe Menschenfreundlichkeit und Nächstenliebe
aus, so daß er den Menschen, wo auch immer, seine Zuneigung entgegenbringt."
(4)
Das
Talent, die Welt aus dem Blickwinkel des Gegenübers wahrzunehmen,
ist von großer Bedeutung in der Porträtfotografie. Es impliziert
eine unvoreingenommene Sympathie oder Begeisterung zugunsten des
Modells. Die Fähigkeit, sich mit dem Gegenüber zu verbünden - sich
gewisserweise in seine Person und deren Bedeutung hineinzuversetzen
- läßt die Modelle sie selbst sein - und nicht, wie so oft, Spiegel
eines mangelnden Fotografen-Interesses. Porträt-Kunst ist im Wesentlichen
eine mitfühlende Kunst. Ohne den zugewandten, menschlichen Kontakt
wird Porträtieren zum Sezieren; zum Verständnis einer Person ist
visuelle Kommunikation unerläßlich.
Der
zweite Teil dieser Gleichung beinhaltet ein elementares Problem,
das durch die fotografische Praxis zahlreiche Belege erfahren hat
- ein Mensch kann unter verschiedenen Bedingungen schön oder häßlich
sein. Wie eine Geschichte über Hills Versuch zeigt, die Frau eines
engen Freundes zu fotografieren: "Ich kann mich erinnern, daß meine
Großmutter uns erzählte, D. O. Hill habe eine richtig gute Fotografie
von ihr machen wollen: Also posierte sie wie verlangt für ihn, und
dann verschwand er zum Entwickeln. Beim nächsten Wiedersehen setzte
er sich wortlos hin und vergrub sein Gesicht in den Händen, und
damit war die Sache erledigt!" (5)
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Auszüge
aus dem gleichnamigen Katalog zur Ausstellung - "YOSUF
KARSH - Helden aus Licht und Schatten",
mit freundlicher Genehmigung des G+H Verlages, Berlin.
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Offensichtlich
akzeptierte Hill die Variabilität menschlichen Aussehens als interessanten
Aspekt der Porträtfotografie und wichtigen kreativen Impetus. Hugh
Miller, ein früher Fotografie-Rezensent, schrieb 1843 über Hill
& Adamsons Arbeiten und verglich dabei die Kalotypien mit den Kupferstichen
nach Joshua Reynolds. Er betonte: "Zwischen beiden besteht eine
bestimmte Ähnlichkeit, die ins Auge fällt, weil sie kaum vorhersehbar
ist. Bei den Drucken befinden sich mehrere Bildnisse des Künstlers
selbst, alle als Kunstwerke bewundernswert und alle zweifellos im
Wesentlichen ähnlich, dennoch sind sie in manchen Punkten alle von
einander verschieden. Die eindeutige Unterschiedlichkeit mag man
natürlich als Defekt betrachten - als Resultat leichter Ungenauigkeiten
beim Zeichnen. Sollten die Porträts desselben Individuums, wenn
sie nach der Natur gezeichnet wurden, nicht perfekt miteinander
übereinstimmen? Nein, ganz und gar nicht. Ein Mensch kann zu einem
bestimmten Zeitpunkt, aus einem bestimmten Blickwinkel völlig anders
aussehen als zu einem anderen Zeitpunkt und einem anderen Blickwinkel."
(6)
David
Brewster sah diese fotografische Variationsbreite als technologisches
Problem und suchte bis zum Ende seiner Karriere nach einer Lösung.
Dabei hat dieses Problem eine Reihe menschlicher Komponenten.
Unsere
Kenntnis anderer Menschen basiert auf einer ständig wechselnden
Realität, die all unsere Sinne und unsere Erinnerung einbezieht.
Das Porträt präsentiert uns dagegen eine Abstraktion der Erfahrung
- weder bewegt noch verändert es sich. (7)
Womöglich erkennen wir unser eigenes Porträt nicht an, weil es uns
unvertraut ist - nicht nur im Vergleich mit dem Spiegelbild, seitenverkehrt,
sondern aus einer Perspektive, die wir ohne Zuhilfenahme zweier
Spiegel nicht sehen können. Ständig gutaussehende Menschen sind
meist Professionals, die mit Experten wie Visagisten oder Fotografen
zusammenarbeiten und sich nach dem gängigen Modeideal stylen. Joan
Crawford bestellte 1959 bei Eve Arnold eine Serie von Fotografien,
die inzwischen als außergewöhnliche Demonstration jener Arbeit gelten,
die eine konventionelle Schönheit erfordert. (8)
Der
fotogene Charakter - im weitesten Sinne die immer wieder neue, sonderbare
Fähigkeit, ein konsistentes Bild von sich aufrecht zu halten - ist
eine der interessantesten Fragestellungen in der Fotografie. Heutzutage
ist gleichbleibende Fotogenität für eine Person öffentlichen Interesses
eine fast unerläßliche Vorbedingung. Ernst Gombrich verweist bei
der Diskussion der Wiedererkennbarkeit auf das Beispiel des britischen
Politikers Emmanuel Shinwell, dessen politischer Erfolg teils darauf
beruhte, daß sein Gesicht auf Fotografien sein Leben lang gleich
blieb, selbst bei radikalen Ausdrucksveränderungen. (9)
Der fotogene Charakter ist schwer quantifizierbar. Lehnt ein Modell
sein Abbild ab, gilt dies meist als Eitelkeit und wird wenig ernstgenommen;
obendrein bestätigt die nächste Umgebung oft eigentümlich konziliant
die Ähnlichkeit - ihr liegt daran, Bild und Person in Einklang zu
bringen. Zum Beispiel hatte der Schriftsteller Robert Louis Stevenson
ein ausgesprochen unfotogenes Gesicht. Er übte viel Kritik an seinen
Porträts und tatsächlich gaben weder gemalte noch fotografierte
Porträts sein wahres Aussehen wieder. Er schrieb an seinen Cousin:
"Dew Smith hat mich fotografiert, wie dich, betrunken; eigentümlicherweise
hat das Bild deine Nase statt meiner." (10)
Stevensons Nase bereitete den Fotografen ein Problem: "A propos,
die seltsame Kontroverse um Shelleys Nase: Vor mir liegen vier Fotografien
meiner selbst, angefertigt von Shelleys Sohn: Meine Nase ist ein
Haken, allerdings nicht wie beim Adler, sondern wie ein menschlicher
Krummschnabel: Also, von Vieren zeigt nur eine Aufnahme die Krümmung,
die andere begradigt sie, und eine Nase deutet aufwärts. Dies wirft
ein grelles Licht auf den verleumderischen Mann - und die skandalöse
Sonne. Denn ich persönlich stehe zu meiner Krümmung." (11)
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Auszüge
aus dem gleichnamigen Katalog zur Ausstellung - "YOSUF
KARSH - Helden aus Licht und Schatten",
mit freundlicher Genehmigung des G+H Verlages, Berlin.
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Häufig
bekommen Porträtisten die Klage zu hören: "Der Mund ist nicht richtig
getroffen". Dass ein eher unbewegliches Organ wie die Nase als falsch
empfunden wird, ist seltener. Hill & Adamsons Porträts haben mit
Karshs Arbeiten ein Wesentliches gemein - die Tatsache nämlich,
daß es sich um durchgehend gute, dennoch dem Modell überzeugend
ähnliche Bilder handelt. Diese auf den ersten Blick tautologische
Feststellung war um 1840 schwer begreiflich und ist es noch heute.
Sie besagt, daß die vom Fotografen als selbstverständlich erwartete
Ähnlichkeit abhängt von einer fruchtbaren Sympathie und Übereinkunft
zwischen Modell und Fotograf; und daß dieser Fotograf eher Erbe
als Ersatz der Porträtmaler ist.
Karshs
Prominentenporträts (im Gegensatz zu den vielen Aufnahmen Unbekannter,
die ursprünglich auch in sein Ressort fielen) zählen zur großen
Tradition öffentlicher Porträtkunst und implizieren moralische Verantwortung.
Der Fotograf bietet Einblick in Macht, Autorität und Ruhm - nicht
die moderne Ansicht entblößter "Menschlichkeit". Karsh stellt Menschen
dar, zu denen wir im wahrsten Sinne aufsehen können. Er sucht die
"Größe", und mit seiner Konzeption von Intimität und Einsicht fördert
er "deren sogenannte innere Kraft" zutage. Sein Standpunkt ist weder
übertrieben noch nebensächlich, auch wenn es einer jüngeren, zynischeren
Generation so scheint. Die Idee reicht bis in die Antike zurück
und bildet den Grundstein aller Porträtgalerien der Welt - nämlich,
daß ein visuelles Abbild der Tugend das Publikum zur Nachahmung
animiert. Ein Porträt wohltätiger Macht oder künstlerischer Exzellenz
soll seinen Betrachter zu Nachfolge und Nachahmung anregen. Diese
pädagogische und zugleich polemische Idee vertrat bereits 1856 der
britische Premierminister Lord Palmerston - wenn auch ein wenig
umständlich: "Es kann seitens der Lebenden keinen größeren Antrieb
zu geistiger Mühe, edlen Taten, gutem Betragen geben, als daß diese
vor sich die Züge jener sehen, die unserer Bewunderung werte Dinge
geleistet haben und deren Beispiel wir eher nachahmen, wenn sie
uns in der sichtbaren und greifbaren Form des Porträts vor Augen
sind." (12)
Karshs
Beitrag ist allerdings nicht so simpler Natur wie es scheint. Realität
wird zwar wahrgenommen, aber sie wird auch, dem pädagogischen Ziel
entsprechend, manipuliert. So schlug er Chagall vor, einen Hut zu
tragen; er bat Chruschtschow, einen Pelzmantel anzulegen - "einen
richtig großen Pelzmantel." Mit Hilfe von Kleidungsstücken unterstrich
einen Charakter und gab dem Modell den rechten Rahmen. Ein anderes,
früher am gleichen Tag entstandenes Porträt Chruschtschows, aufgenommen
im Anzug, zeigt, was der Mantel letztendlich bewirkt. Pelz und Wollkappe
ziehen den Blick auf sich, die Glatze verschwindet, ebenso die großen
Ohren und das mächtige Doppelkinn. Der stattliche Mann hat sich
in eine heroische, offenbar jüngere Figur verwandelt. So löst der
Porträtist ein elementares Problem, denn bedeutende Persönlichkeiten
sehen nicht zwangsläufig bedeutend aus. Das innere Wesen des Mannes
tritt ironischerweise erst zutage, nach dem sein Äußeres in dem
großen Mantel verschwindet.
Karshs
eigene Beschreibung dieses Porträts macht die Universalität seines
Ideals überdeutlich: "Hier, wage ich zu denken, ist das Gesicht
des ewigen Bauern, vielleicht das kollektive Porträt eines großen
Volks, gemalt wie Cromwell, mit Warzen und allem drum und dran."
Chruschtschow steht nun auf einer Ebene mit dem kanadischen Weizenfarmer.
Durch Karsh wird er zum Führer und Repräsentant der menschlichen
Natur, zum Vater seines Volks - eine zeitlose Ansicht.
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Auszüge
aus dem gleichnamigen Katalog zur Ausstellung - "YOSUF
KARSH - Helden aus Licht und Schatten",
mit freundlicher Genehmigung des G+H Verlages, Berlin.
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Karsh,
der Einwanderer, gewaltsam aus seinem Geburtsland Armenien vertrieben,
unterstützte die nordamerikanischen Ideale - und diese stützten
ihn. In seiner Lebensgeschichte erzählt er vom Terror seiner Kindheit,
den Aggressionen anderer Kinder, dem gegenüber auf der anderen Seite
des Atlantiks die zivilisierten kindlichen Spielgefährten, die weder
Steine warfen noch Spielzeug wegnahmen, sondern Freunde wurden.
Als Lebensschablone war diese Erfahrung unwiderstehlich und beeinflußte
seine Erfahrungen und den Umgang mit seinen Sujets tief. "Vielleicht
ist wahre Freundschaft ein Geschenk, das wir nie direkt begleichen
können - dennoch ist es unerläßlich - selbst wenn wir es bei jemandem
begleichen, der uns eigentlich nichts schuldet, an einem anderen
Ort, zu einer anderen Zeit."
In
seinem fotografischen Werk schuf Karsh nicht nur eine Welt starker
Tugenden, sondern erschuf sie aufs neue, wie sie - nach seiner Ansicht
- sein sollte, damit Abbild und Ideal verschmelzen. Dies ist öffentliche
Kunst, die in der Tradition wurzelt.
(1)
Eve Arnold in Britain, London 1991, S. 66.
(2) Brewster an Talbot, 28. November
1843, National Museum of Photography, Film and Television, 1937-4929.
(3) Zitiert nach Kenneth Buthlay,
Hugh MacDiarmid: Where Extremes Meet", in MacDiarmid, An Illustrated
Biography, Edinburgh 1977, S. 9.
(4) John Brown, Rezension der
Royal Scottish Academy Ausstellung, The Witness, 22. April 1846.
(5) R. Esme Dell, Enkelin von
Thomas Duncan an James A. Finlayson, 9. Februar 1937, Notizbuchübertragung
von Finlayson, National Library of Scotland, Acc 929, Vol. II, S.
671.
(6)
Hugh Miller, "The Calotype", The Witness, 12. Juli 1843.
(7) Ausführliche Erörterung des
Themas Malerei und Fotografie in Jennifer Montagu, The Expression
of the Passions: The Origin and Influence of Charles Le Brun's "Conférence
sur l'expression générale et particulière, New Haven and London,
1994, S. 2ff.
(8) Eve Arnold, In Retrospect,
London 1996, S. 51 und S. 54.
(9) Ernst Gombrich, The Mask and
the Face, in Art, Perception and Reality, Baltimore und London 1972,
S. 4.
(10) Robert Louis Stevenson
an seinen Cousin Bob, Oktober 1885, The Letters of Robert Louis
Stevenson, Vol. 5, herausgegeben von Bradfors, Booth and Mehew,
Yale 1994-95, S. 133.
(11) Robert Louis Stevenson
an Will H. Low, 1886, ebenda, S. 177.
(12) Lord Palmerston als Befürworter
einer National Portrait Gallery, in Helen Smailes, A Portrait Gallery
for Scotland, Edinburgh 1985, S. 16.
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Aus:
Yousuf Karsh - Helden aus Licht und Schatten,
Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, erschienen im G+H
Verlag, Berlin.
ISBN 3-931768-49-X
Der
Katalog ist über den Museumsladen des Deutschen Historischen
Museums zu beziehen und kann per email unter
meiske@dhm.de bestellt werden.
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