DR. DIETER VORSTEHER
Yousuf Karsh - Helden aus Licht und Schatten


Zu den Weltmeistern der Porträtkunst des 20. Jahrhunderts gehört unwidersprochen der Fotograf Yousuf Karsh. 1908 in Armenien geboren, flüchtete er mit 17 Jahren vor dem Pogrom nach Syrien. Einige Monate später, im Januar 1924, betrat er kanadischen Boden. Hier in Nordamerika fand er Freiheiten, die ihm in seiner Heimat unbekannt waren. Hier, zwischen Boston und Ottawa, verwirklichte er einen amerikanischen Traum, seinen unaufhaltsamen Aufstieg als Fotograf. Über sechs Jahrzehnte füllt er sein Leben mit der Herstellung von Bildnissen seiner Zeitgenossen, deren Abbild er durch seinen unverwechselbaren Porträtstil prägte.

Sein Menschenbild fand er in den Gesichtern der Schönen und Reichen, der Einflußreichen und Ideengeber der westlichen Welt. Karsh, einer der sich auf die Suche nach dem Schönen, Wahren und Guten dieser Welt aufmachte und dies in seiner Welt der Fotografie überzeugend konstruierte. Politiker und Schriftsteller, Künstler und Schauspieler, die Royalities und Musiker inszenierte er zu einem dramatisch schönen Porträtpanorama, zum großen Welttheater des 20. Jahrhunderts. Als er 1987, fast achtzigjährig, sein Lebenswerk sichtete, um es den National Archives of Canada zu übergeben, besteht es aus 370.000 Negativen, darunter das Porträtarchiv mit annähernd 17.000 porträtierten Personen - meist aus der Hight Society. Nach 1992 schloß er sein Studio in Ottawa und zog nach Boston (USA), wo er heute lebt.

Ein gigantischer Arbeitsauftrag ging zu Ende, der 1925 begonnen hatte. Noch im Jahr seiner Flucht lernte er bis 1928 das Fotografenhandwerk bei seinem Onkel Nakash in Sherbrooke, Quebec. 1929 wechselte er nach Boston, um sich im Atelier von Garo fortzubilden. Garo war eine der bekanntesten Fotografen seiner Zeit, ein Lichtkünstler der großen malerischen Fotografie aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, der den angehenden Fotografen mit den Persönlichkeiten der Stadt bekannt machte und ihn in die Kunstgeschichte einführte. Seit 1930 zurück in Kanada entschied sich Karsh 1932 für die Regierungshauptstadt Ottawa. Hier begegnete er zunächst der Theaterfotografie, die seinen Stil grundsätzlich prägte. Die Akzentuierung der Schauspieler durch die dramatische Theaterbeleuchtung eröffnete ihm die virtuose Modellierung der Charaktere der Schauspieler, die Herausarbeitung der theatralischen Typen auf der Bühne.

  Auszüge aus dem gleichnamigen Katalog zur Ausstellung - "YOSUF KARSH - Helden aus Licht und Schatten",
mit freundlicher Genehmigung des G+H Verlages, Berlin.

1933 eröffnete er sein eigenes Atelier. Er spezialisierte sich bald auf Porträts. Seine Kunden waren zunächst die Bürger aus Ottawa mit ihren Hochzeiten, Familienleben und Passangelegenheiten. Bald fotografierte er die ersten Stadtpolitiker der kanadischen Hauptstadt. Sein inszenierter Lichtzauber schmeichelte, sein idealistisches Menschenbild war gesellschaftsfähig. Es ebnete ihm den Weg zum Staatsporträtisten der kanadischen Regierung.

Die weltweite Verbreitung und Anerkennung seiner Kunst gelang ihm mit nur einem einzigen Porträt, das er am letzten Tag des Jahres 1941 fotografierte. Der englische Premierminister Winston Churchill mobilisierte in diesen Dezemberwochen die nordamerikanischen Regierungen gegen Nazideutschland. An den letzten Dezembertagen war er in Ottawa und gewährte dem jungen Fotografen wenige Minuten seiner Zeit. Der Fototermin, von der kanadischen Regierung lanziert, kam für Churchill überraschend. Noch überraschender war für ihn die Unverfrorenheit des jungen Fotografen, der ihm sein Statussymbol - seine Zigarre - ungefragt aus dem Mund nahm, um ein anständiges Bild zu machen. Grimmig, trotzig, sich gerade noch beherrschend schaut der britische Premier drein. Die Aufnahme wurde innerhalb weniger Wochen und Monate in fast allen bedeutenden Zeitschriften und Magazinen abgedruckt und als das Porträt des entschlußkräftigen Churchill gefeiert und zum Symbol des Widerstandes leistenden Britischen Empires gegen Nazideutschland erklärt. Dieses eine Foto hatte Legende geschrieben.

Sicherlich nicht erst seit diesem Erfolg, nun aber gezielter und vermehrt, begann Karsh, herausragende Menschen der Zeitgeschichte vornehmlich aus der englischsprachigen Welt fotografisch zu sammeln. Es war sicherlich nicht nur Leidenschaft und Faszination an der Größe und Würde dieser Berühmtheiten, der Celebrities, sondern auch Kalkül, eine Galerie des Geistes und der Macht in seinen Porträtstudien zusammenzutragen. Aufträge von Magazinen, ganze Serien thematisch zusammengestellter "VIP's" zu fotografieren, mögen seine Strategie befördert haben. Die Geschäftsidee, durch die Porträts der Berühmten selber berühmt zu werden, ginge wohl möglich auf. Die persönliche Nähe, die er zu "seinen Modellen" suchte - und davon zeugen Briefe und die vielfältigen Kontakte, mit denen Karsh im Vorfeld der Aufnahme seine angestrebten Modelle zu einem Karshporträt animierte und überredete - war letztendlich auch durch die Suche nach einem eigenen Erfolg, von der Lust und Notwendigkeit zur Inszenierung und Erzeugung seiner eigenen Fotografenkarriere motiviert.

Seine Leistungen und Erfolge in der Porträtkunst gaben ihm zunehmend Recht. Wer immer sich nach dem Churchillporträt von Karsh fotografieren ließ und damit die "Galerie der Bedeutungsvollen" vermehrte, konnte sicher sein, das wesentliche Porträt seiner Persönlichkeit von Karsh als Gegenleistung zu erhalten. War es am Anfang mehr für Karsh eine Ehre, die Prominenz der Welt in sein Studio zu laden oder mit seinem mobilen Studio zu ihnen reisen zu dürfen, wurde es bald für die Porträtierten zu einer Ehre oder gar Pflicht, in die Karsh-Galerie der Weltklasse aufgenommen zu werden. Wer dann schließlich - nicht nur künstlerisch, sondern auch menschlich - Bestand hatte in dieser Galerie, entschied Karsh in den letzten Jahren bevor er sein Studio schloß.

In diesen letzten Monaten seiner aktiven Fotografentätigkeit wählte er aus der Fülle seiner Porträts die "Famous 500" aus - sein fotografisches und sicherlich auch ideelles Vermächtnis an das 20. Jahrhundert.

  Auszüge aus dem gleichnamigen Katalog zur Ausstellung - "YOSUF KARSH - Helden aus Licht und Schatten",
mit freundlicher Genehmigung des G+H Verlages, Berlin.

Sein fotografisches Vermächtnis ist aber auch das Vermächtnis seines Menschenbildes. Seine Inszenierungen gründeten auf vertraute Bildtraditionen. Sein Bildaufbau hat seine Wurzeln in der hohen Kunst der Porträtmalerei des 18. und 19. Jahrhunderts, in der Betonung und Beleuchtung der Einzigartigkeit der Persönlichkeit, in der Profilierung der Autonomie des Individuums. Er arbeitet seine Modelle als auratische Erscheinungen heraus, sei es als dramatische Gesichtslandschaften aus Licht und Schatten oder als politische Visionäre, deren Häupter umfangen sind von spirituellem Licht. Wenige Attribute unterstreichen oder charakterisieren ihre gesellschaftliche Bestimmung, ihre schöpferische Tätigkeit: ein Buch oder die Lesebrille für die Dichter, ein Instrument für die Musiker, ein Teil ihres Werkes für die Maler und Bildhauer. Dies sind nur wenige Elemente aus seinem virtuos beherrschten Kanon der traditionellen Ikonografie. Bei den ungekrönten Politikern fehlen diese Hindeutungszeichen auf ihre Bestimmung. Sie tragen die Welt im Kopf und scheinen einer inneren Erleuchtung zu folgen.

Sein Album von Menschenbildnissen offeriert uns eine Galerie der "Heiligen des 20. Jahrhunderts". Seine Galerie der "Famous 500" bietet uns das fotografische Material für ein Bildprogramm zu einem Teil unserer modernen Welt. Es sind die "Seligen", die Erleuchteten, die Propheten und Apostel, die Begnadeten, die Könige und Engel unserer Tage - ein modernes Heldenepos aus fünfhundert Versen, die sein fotografisches Gebäude vor uns errichten. Sein Werk breitet vor uns die Weite einer Landschaft der Porträtkunst aus, eine fotografische Topografie unserer Erinnerungsbilder.

"Faces of Destiny" erschien 1946, "Portraits of Greatness" 1959. Drei Jahre später erschien sein in Deutschland bekanntestes Werk: "In Search of Greatness" - auf der Suche nach der Größe, nach der Würde - so nannte Karsh seinen autobiografischen Lebensbericht. Es sind die Jahre, in denen er mit mehreren Fotobänden seine Galerie, sein Heldenepos, immer weiter ausbaut. Mit Kommentaren versehen, erzählt uns der Bildschöpfer von seinen Begegnungen mit den Modellen bei der Erschaffung ihrer Bildnisse. Fleiß, Mut, Unbeirrbarkeit, Qualität und Intuition begleiten ihn über 60 Jahre und lassen ihn an der Menschheit nicht zweifeln. Seine Methode, sein Stil ist wie der Schlüssel zu einer unendlichen Geschichte, einer unendlichen Abfolge von Gesichtern, die sich in die Unendlichkeit fortsetzen ließe. Keines gleicht dem anderen und doch sind sie sich alle ähnlich, als entstammen sie alle einer großen Familie. Sie sind wie die orientalischen Märchen, die sich in Tausend-und-einer-Nacht aneinander reihen, immer neu, immer aufregend und zu einem großen Bilderteppich verwoben. Sie erzählen die siegreichen Geschichten der Guten gegen die Bösen. In ihnen gewinnt stets das gute Prinzip, die Helden treten erfolgreich hervor. Ihr Bild prägt die Zukunft - als wäre die Welt voller Engel. Die Bösen entschwinden unseren Blicken, sie bleiben bildlos - die größte Verdammnis in unserer abendländischen Bildüberlieferung: Aus den Augen, aus dem Sinn.

  Auszüge aus dem gleichnamigen Katalog zur Ausstellung - "YOSUF KARSH - Helden aus Licht und Schatten",
mit freundlicher Genehmigung des G+H Verlages, Berlin.

Karshs Porträtkunst erfindet die Ikonen und Andachtsbilder unserer Zeit und verleiht ihnen Unsterblichkeit. Können wir uns Ernest Hemingway überhaupt noch anders vorstellen als wie er uns in dem Porträt von Karsh erscheint? Seine Porträts von John F. Kennedy, von Martin Luther King und vielen anderen sind Zeichen von Größe, von visionärer Kraft, von Humanität und Menschlichkeit.

Es ist der amerikanische Traum, aber es ist auch ein alter Menschheitstraum von der Gerechtigkeit und von der Würde des Menschen. Karsh ist der große Zauberer, der mit seiner Kamera die Helden von heute erzeugte. Wer von ihm "gekarsht" wurde, zählt noch heute zu den Großen des 20. Jahrhunderts. Wie Petrus mit dem Schlüssel vor dem Himmelstor, schließt Karsh mit seiner Kamera das Tor zum Bilderhimmel der Unsterblichkeit auf. Sein Werk ist die fotografische Begleitmusik zu den Idealen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, der Erklärung der Menschenrechte.

Dieser Katalog hat sich viel vorgenommen. Er möchte zum einen das Hauptwerk - die Porträts - von Yousuf Karsh in Deutschland bekannter machen. Eine Einzelausstellung über ihn hat es in Deutschland noch nicht gegeben. So widmet sich ein großer Bildteil seiner Porträtkunst. Zum anderen möchten wir auch den anderen Karsh, den Karsh der Werbung der frühen fünfziger Jahre und den Karsh nationaler Auftragswerke, wie seine Fotoserie "Seeing Canada" von 1955 zu den verschiedenen Provinzen Kanadas, in den Aufsätzen und der Ausstellung vorstellen.

Dieses ehrgeizige Unternehmen war nur möglich mit großer Unterstützung auf kanadischer Seite. Ich danke der Gastkuratorin, Janet Yates aus Ottawa, für ihre Recherche vor Ort, für ihre Hinweise auf die Autoren der englisch sprechenden Welt, die sich in letzter Zeit mit dem Werk von Karsh beschäftigt haben. Durch Frau Yates sind erst die zahlreichen Kontakte zu den Institutionen in Ottawa, der National Gallery und vor allem den National Archives of Canada, gebündelt worden, die alle zusammen die Yousuf Karsh-Ausstellung im Deutschen Historischen Museum ermöglichten.

Mein Dank gilt dem Leiter der National Archives of Canada, Ian Wilson, der den Fotonachlaß von Karsh betreut und die Hauptarbeit bei der Erschließung für diese Ausstellung und die Neuanfertigung von Abzügen geleistet hat. Dank an Lynne Armstrong, Jill Delany und Lilly Koltun, die für uns in den letzten Monaten in den National Archives zur Verfügung standen. Ebenso Dank an die Autoren, die über den Atlantik hinweg die Entstehung des Katalogs mit Engagement begleitet haben.

Yousuf Karsh, der heute 92jährig in Boston lebt, hat unser gemeinsames Werk von Anfang an mit Wohlwollen und großer Anteilnahme verfolgt. Ich bin ihm persönlich dankbar, daß er uns unvoreingenommen sein Werk und das Bild, das dieser Katalog von ihm zeichnen würde, anvertraute. Die Freude darüber, daß Deutschland seine Arbeiten in dieser Fülle kennenlernen würde, mag sich darin ausgedrückt haben, daß er der Fotosammlung des Deutschen Historischen Museums dreizehn seiner Arbeiten schenkte. Dies mag auch der Fürsprache des langjährigen Assistenten von Yousuf Karsh, Jerry Fielder, zu verdanken sein, der unser Anliegen zur Ausstellung und zum Katalog, dem Altmeister der Porträtfotografie gewinnend übermitteln konnte.

Berlin, Oktober 2000

Aus: Yousuf Karsh - Helden aus Licht und Schatten,
Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, erschienen im G+H Verlag, Berlin.
ISBN 3-931768-49-X
Der Katalog ist über den Museumsladen des Deutschen Historischen Museums zu beziehen und kann per email unter
meiske@dhm.de bestellt werden.

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