JANET YATES
Das heroische Portrait


Die Fotografien Yousuf Karshs sind Zeugnis einer bewundernswerten Meisterschaft - sie berühren die Imagination der breiten Öffentlichkeit. Ihr Stellenwert hat inzwischen historische Dimensionen. Mit seiner Fotografiekunst hat Karsh im Verlauf seiner weit über ein halbes Jahrhundert reichenden Karriere einprägsame Bilder der Großen und Schönen in die Welt gesetzt. Aber das Wesen dieser Bilder entzieht sich mancher Erklärung, denn es gründet auf unserer unerklärlichen Sehnsucht nach Größe.

Bei der Analyse seiner berühmten oder auch weniger bekannten Aufnahmen stoßen wir auf neue Gesichter des Fotografen Karsh. Rahmenbedingungen und Richtung werden von der Zeit und dem Ort bestimmt, in denen Karshs Werk entstand. Doch womöglich läßt eine erneute Betrachtung der Umstände, unter denen sich seine Kunst entwickelte, das Gesamtwerk in neuem Licht erscheinen - die Entstehung und Entwicklung des großen Ruhms, den Karsh in Nordamerika und Europa genießt.

  Auszüge aus dem gleichnamigen Katalog zur Ausstellung - "YOSUF KARSH - Helden aus Licht und Schatten",
mit freundlicher Genehmigung des G+H Verlages, Berlin.

Das heroische Porträt

Karshs Porträts bestechen zuerst durch ihren heroischen Glanz, und genau dieser berührt uns zutiefst. Also gilt dem Heroischen an seiner Fotografiekunst unsere besondere Aufmerksamkeit. Wie Roland Barthes schrieb, "sind die großen Porträtfotografen auch große Mythologen. (1)" Karsh schuf einen Schatz öffentlicher Ikonen, um die sich eine Fülle von Geschichten und Assoziationen rankt.

Ein Held wird allgemein wegen seiner Taten und Tugenden bewundert; Held - Erinnerungen an griechische Sagen: Herkules, Odysseus, Achilles, die Götter des Olymp. In der Moderne ist diesem Begriff die ursprüngliche Tragik abhanden gekommen; moralische Größe, Können und Widerstandswillen sind dazugekommen. Obendrein zeichnet sich heute ein Mensch, der aus eigenem Antrieb dem Guten dient, geistige Größe zeigt und das Leben lebenswert macht, durch sein Wissen aus. Betrachtet man von diesem Standpunkt aus den modernen Helden, wird umso deutlicher, was Karsh für seine Betrachter festhielt.

Karshs Modelle wußten, daß sie vor großem Publikum ins Rampenlicht traten, wenn sie vor seiner Kamera Platz nahmen. "Karsh - Sie haben mich unsterblich gemacht!" rief der kanadische Zeitungsmagnat Lord Beaverbrook, als er sein Porträt zu Gesicht bekam. Nie widersprachen die Modelle der Veröffentlichung ihrer Abbilder. Wie die Statuen der Römer fanden sie ihr öffentliches Forum.

Karsh posierte all seine Kunden selbst, setzte sie in Szene, um "die Größe mit einem Blitz hervorzuzaubern". Er glaubte an "den einen Augenblick, in dem Augen, Hände, Haltung zum Spiegel des Verstands, des Herzens und der Seele werden. Diesen Moment heißt es festzuhalten. Den flüchtigen Augenblick der Wahrheit (2)." So etwa lautete der Ehrenkodex, nach dem Karsh den Umgang mit seinen Modellen gestaltete: "Ich bin mir gewiß, daß niemandem gedient wäre, wenn ich statt der menschlichen Größe die schwachen Momente meines Gegenübers zutage förderte. Diese sind es nicht wert, festgehalten zu werden." (3) Also konnten seine Modelle sich ganz auf ihn verlassen - er setzte sie ins beste Licht. Karsh gab gern zu, daß er seine Helden verehrte. (4) Sein Bewußtsein des Heroischen durchdrang sein Wesen, seinen Stil und konsequenterweise seine Fotografien. Man hat die These aufgestellt, "daß Karsh den Horror seiner frühen Erfahrungen nicht als Grund zur Bitterkeit ansah, sondern ihn als Impuls für ein lebenslanges Interesse an wahrer Größe und positiver Macht nutzte (5)." Schon in frühen Jahren übernahm Karsh Moral, Wertsystem und Vorstellungen über die Rolle der Geschlechter, die in seiner Wahlheimat Kanada, und mehr oder minder im gesamten kolonial geprägten Britischen Empire herrschten. Er machte Karriere in einer Gesellschaft, die an eine bessere Zukunft durch wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt glaubte. Karshs Werk basiert "auf einer Philosophie, die Würde, Güte und Genie des Menschen vertritt (6)."

Karsh benutzte seine Bildsprache, um äußere Identität und menschliche Größe seiner Modelle zu unterstreichen. Gestik, Mimik, Blick - die Körpersprache fördert den Charakter des Porträtierten zutage; die Botschaft ist eindeutig. Dabei unterstreicht die Beleuchtung zusätzlich die Geschichte, die Karsh erzählen will. Auch die Requisiten stützen den Eindruck, den er hinterlassen möchte. Wie ein Souffleur gibt er eindeutige, interpretatorische Stichworte. Seine Ikonografie ist für europäische und nordamerikanische Betrachter dementsprechend eingängig. Kein Wunder, daß seine Porträts für Briefmarken und Banknoten verwendet wurden und weite Verbreitung in Illustrierten und in anderen Massenmedien fanden.

Karsh schuf Vorbilder und mit ihnen ein überzeugendes Helden-Pantheon - Figuren, zu denen wir aufsehen können. Nahe fühlen wir uns diesen Helden, weil "die Fotografie uns die Welt näherbringt, als sie in Wirklichkeit ist (7)." Insgeheim fürchten wir zwar die Fehlbarkeit dieser Helden, doch Karsh macht sie für uns glaubhaft. Zu seinen Heroen zählen auch die Künstler: die Schauspielerin Ruth Draper, zum Beispiel, die mit ihrer One-Woman-Show das Publikum zu wahren Begeisterungsstürmen verführte - es aber auch zu Tränen rühren konnte. Sie benutzte bei ihren Auftritten kaum Requisiten, höchstens einen Schal, ein Tuch; auf Karshs Foto von 1936 ähnelt sie einer griechischen Göttin, angesiedelt zwischen Komödie und Tragödie. Eigentlich folgte Karsh in seiner Darstellungsweise den klassischen Porträtmalern des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts - einem Van Dyck oder Joshua Reynolds. Ähnlich mystisch stellte er auch Jean Sibelius dar - mit geschlossenen Augen und einer nach dem Herzen greifenden Hand; ein Mann, der der Symphonie seines Innern lauscht. In Karshs Porträtkunst summieren sich Nuancen und Gesten zu einem Ergebnis, das über die Summe der faßbaren Details hinausgeht.

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür ist das Porträt der amerikanischen Malerin Georgia O'Keeffe in ihrem Atelier in Abiqui, New Mexico. Sie existiert, abgeschirmt wie in einem Sanktuarium, in dem sie in völliger Ruhe ihre Kunst ausübt. Ich, ihr Gegenüber, versetze mich in ihre Person und spüre ihrer Kreativität nach. Schwarz gekleidet, mit glatt gekämmtem Haar und ausgeprägtem Gesicht wirkt sie völlig im Einklang mit sich selbst. Auch ich, die Betrachterin, bin inspiriert, ehrfürchtig und fühle mich angesprochen, ohne mein Leben umkrempeln oder selbst Höhenflüge riskieren zu müssen. Also - Karsh verkleinerte den Abstand zwischen der Kreativität seines Modells und der Normalität des Betrachters. Das visuelle Erleben seiner Bilder verbindet zwei Welten.

  Auszüge aus dem gleichnamigen Katalog zur Ausstellung - "YOSUF KARSH - Helden aus Licht und Schatten",
mit freundlicher Genehmigung des G+H Verlages, Berlin.

Publikum und Verbreitung der Bilder

Karsh kannte seine Betrachter und wußte sie zu bedienen. Obwohl er sein Hauptwerk den Prominenten dieser Welt widmete, waren Publikum und Hauptabnehmer die breite Öffentlichkeit - die ihn berühmt machte. Als großer Menschenkenner und begabter Mythenbilder schuf er nicht nur wunderbare Fotos, sondern er wußte auch für wen. "Fotografieren heißt Bedeutung verleihen" (8) - genau dies tat Karsh und die Öffentlichkeit applaudierte. Die breite Öffentlichkeit, in Nordamerika wie in Europa, wußte seine Porträts der Reichen, Schönen und Mächtigen durchaus zu schätzen.

Karshs Bekanntheitsgrad wurde durch die Verbreitung seiner Fotos enorm befördert. Wie schon in den Anfängen der nordamerikanischen Porträtfotografie galt auch in der Ära Karsh, daß "der wahre Erfolg der Prominentenporträts in der Schaffung eines Markts lag" (9). Karshs Popularität spiegelt seine vielseitige Meisterschaft; er war und ist eine eindrucksvolle Persönlichkeit, talentiert, charmant und ungeheuer arbeitsam - im Verlauf seiner Karriere erfüllte er weit über 15.000 Porträtaufträge. Immer war er ein Meister der Intuition. Karsh baute seine Kontakte zu den Medien und politischen Organisationen systematisch auf - was ihm viele Türen öffnete. Eine Briefserie vom Herbst 1933 (10) beleuchtet, mit welchem Geschäftssinn er aus seinem gerade eröffneten Atelier in Ottawa seine Kontakte zu Zeitschriften in Montreal und Toronto pflegte. Er bot den Zeitschriften Fotos von Debütantinnen aus Ottawa an, umsonst oder gegen Honorar, je nach Zeitschrift, je nach Stand der Geschäftsbeziehungen. In jedem Fall bestand er auf der Nennung seines Namens, seines später weltberühmten Logos "Karsh of Ottawa", und forderte dieses bei Nichtnennung vehement ein. (11) Folglich wurde er bald mit den Prominenten, die er ablichtete in einem Atemzug genannt. (12)

Schon bevor Karsh im Herbst 1933 sein eigenes Atelier eröffnete, griff er aktiv im den Vertrieb seiner Fotos durch die Massenmedien ein. Beim Dominion Drama Festival lernte er Adele M. Gianelli, die Gesellschaftsredakteurin von Saturday Night kennen und schickte ihr im folgenden Mai eine Reihe Aufnahmen zur Begutachtung und eventuellen Veröffentlichung. (13) Besonders zu diesem Magazin, das in Toronto den Markt beherrschte, entwickelte er über den Herausgeber B. K. Sandwell eine intensive, dauerhafte Geschäftsbeziehung. Kurz nachdem Saturday Night im Dezember 1933 eine ganze Seite seiner Fotos von der "Romeo und Julia"- Aufführung des Ottawa Little Theatre abgedruckt hatte, sicherte die Zeitschrift sich das Exklusivrecht an Karshs Arbeiten. (14)

(Interessanterweise schrieb Karsh darüber in seiner Biographie, "die Prominenz der Schauspieler habe dabei neben dem Können des Fotografen womöglich eine Rolle gespielt!" (15)) Für seine Theaterfotos und Gesellschaftsreportagen bedeutete der Abdruck in Saturday Night ein exponiertes Schaufenster, und die Zeitschrift ihrerseits war mit seinen eindrucksvollen Aufnahmen mehr als zufrieden - besonders natürlich als sie im Januar 1942 exklusiv das berühmte Churchill-Porträt veröffentlichen konnte.

Seine ersten politischen Kontakte knüpfte Karsh ebenfalls durch seine Verbindungen zum Ottawa Little Theatre, und zwar über den Sohn des Generalgouverneurs, Viscount Duncannon, und seine Freundschaft mit Solange Gauthier. Durch beider Vermittlung erhielt er die Chance, den Vertreter der englischen Krone in Kanada, Generalgouverneur Lord Bessborough und dessen Frau, zu fotografieren. Karsh pflegte auch diesen Kontakt und porträtierte später dann den nächsten Gouverneur, Lord Tweedsmuir (John Buchanan); außerdem kultivierte er seine Beziehungen zum kanadischen Premierminister, William Lyon Mackenzie King. Sein Draht zur höchsten politischen Ebene Kanada ermöglichte, daß er 1936 in Quebec Franklin D. Roosevelt - den ersten amtierenden amerikanischen Präsidenten, der Kanada besuchte - neben Lord Tweedsmuir und William Lyon Mackenzie King in Quebec im Bild festhielt.

Je bekannter Karshs Bilder wurden, desto besser funktionierte sein Erfolgsrezept; inzwischen wurden seine Fotos überregional verbreitet. 1938 verhalf B. K. Sandwell ihm zu einer Einzelausstellung in Toronto, die später im Chateau Laurier in Ottawa gezeigt wurde. (16) Diese Ausstellungen brachten Karsh nicht nur ein neues Publikum, sondern unterstrichen auch den Kunstcharakter seiner Arbeiten. Die durch seine politischen Kontakte ermöglichten Churchill-Porträts ermöglichen schließlich seinen internationalen Durchbruch. Mit zunehmender Bekanntheit wird er mit großen Aufträgen betraut, wie 1943 mit der Porträtserie britischer Persönlichkeiten, für die er von Saturday Night einen Vorschuß und von den National Archives of Canada ein Empfehlungsschreiben erhält. Dieser Portefolio besitzt bereits internationalen Charakter, die Aufnahmen gehen auch außerhalb Kanadas durch die Presse; die London Illustrated News drucken einen Großteil von ihnen ab. (17) Diese Bilder, dazu die Musikerporträts für eine RCA Werbekampagne und Aufträge des Magazins Life zählen zu Karshs bekanntem Frühwerk. Viele erschienen in Karshs erstem Buch "Faces of Destiny". Nun konnte man sich seine Fotos ins Haus holen. Karshs Bildtexte unterstrichen noch einmal den für ihn typischen heroischen Blick; seine Anekdoten verknüpften Fotograf und Modelle miteinander und förderten den Ruhm des Schöpfers.

Karsh bediente die breite Öffentlichkeit im Grunde nach den Prinzipien der Marktwirtschaft. Verbreitung, Häufigkeit und Produkt-Engagement - nach diesen Werbefaktoren brachte er das Produkt - in diesem Fall, Karsh - an den Konsumenten. Der Kreislauf funktioniert bis heute: Die Vertrautheit der Bilder steigert nicht nur unsere Begeisterung, sondern verstärkt auch die Erinnerung an sie. Sicher war die Qualität der Aufnahmen der Schlüssel zur Veröffentlichung - doch erst die wiederholte Darstellung in den unterschiedlichsten Publikationsorganen machte die Person des Fotografen so populär. Je mehr Fotos von Karsh veröffentlicht wurden, desto mehr verlangte die breite Öffentlichkeit danach, desto stärker entwickelte sich die Nachfrage seitens der Medien. Mit der Zeit wurde Karsh zunehmend zum Partner bei der Schaffung eines konsumentenfreundlichen Bildermarktes.

  Auszüge aus dem gleichnamigen Katalog zur Ausstellung - "YOSUF KARSH - Helden aus Licht und Schatten",
mit freundlicher Genehmigung des G+H Verlages, Berlin.

Das Gesamtwerk

Die diesen Katalog begleitende Ausstellung liefert den umfassenden Beweis für Yousuf Karshs enormes Werk über sechs Jahrzehnte. Zu den gezeigten Bildern gehören die Prominentenfotografien, seine kommerziellen Projekte, die Filmstandbilder - dazu seine Anfänge bei seinem Onkel Nakash in Ottawa. Bewundernd stehen wir vor einem gewaltigen, kunstvollen und variationsreichen Œuvre. Zugleich fordert das Werk dieses bedeutenden Fotografen die Analyse nach den gegenwärtigen Standards geradezu heraus - Analyse zur Steigerung des Verständnisses und der Vertiefung der Bewunderung. Dieser Katalog möchte das Verhältnis zwischen Bewunderung und Analyse verdichten.

Die über 300 Fotografien und 45 Druckerzeugnisse der Ausstellung bieten eine einzigartige Chance, Yousuf Karsh nicht nur oberflächlich kennenzulernen, sondern seine lange und schillernde Karriere eingehend zu bewerten. Ein beträchtlicher Teil der ausgestellten Fotografien wird zum erstenmal in der Öffentlichkeit gezeigt. Bei Sichtung des in den National Archives of Canada aufbewahrten Materials zu Karshs Leben faszinierte mich immer wieder die gebotene Vielfalt. Er schuf nicht nur "Faces of Greatness", sondern seine Bilder zeugen von erstaunlicher Lichtbeherrschung; die Porträts sind immer noch faszinierend, selbst seine kommerziellen Arbeiten bestechend.

Doch nach welchen Kriterien kam eine Fotografie in Umlauf? Hielt Karsh Arbeiten zurück, die ihm nicht gefielen - die er weniger schätzte? Vielleicht blieben so viele Bilder unbekannt, weil Karsh kein Interesse seitens der Öffentlichkeit vermutete, selbst wenn er das Resultat schätzte. Manche Aufnahmen, so "Weizenfarmer der Prärie", auf dem der Farmer bis zu den Knien im Weizen steht, wurden erst lange nach ihrer Entstehung im Rahmen einer großen Retrospektive gezeigt. Vermißte Karsh hier - wie auch bei "Farmer vor seinem Haus" - seinen sonst so typischen heroischen Blick? Er schrieb einmal: "Ich bezweifele ernsthaft, daß ein unbekanntes Gesicht bei Fotograf und Betrachter ähnliches Interesse wie ein prominentes hervorruft. Erwiesen ist, daß meine Prominentenporträts bekannter als alle meine übrigen Fotografien sind." (20) Dem fügte er hinzu, sein Porträt eines älteren Indianers sei "zwar fotografisch bedeutsam", jedoch bestimmt populärer, hätte es ein guter Maler gemalt, denn "die besten Porträts finden nicht zwangsläufig Beachtung, weil die Gesichter interessant sind." (21)

Karsh ließ es sich während seiner Karriere nie nehmen, die Auswahl seiner Fotos zur Veröffentlichung selbst zu treffen.

Wie Susan Sontag schrieb "muß Fotografie, um sich als Kunst zu legitimieren, den Begriff des Fotografen als auteur kultivieren und dazu die Vorstellung pflegen, daß alle Fotografien eines bestimmten Fotografen ein Gesamtwerk bilden (22)." Sie fährt fort, dies sei natürlich einfacher, wenn das Gesamtwerk auf einer Linie läge und sich ein Stil ablesen ließe. Karsh selbst erzählte einmal, wie konsequent er seine "Sammlung" (23) bekannter Persönlichkeiten erweitert hatte. Ein Bruch durch stilistische Umorientierung ist in seinem Werk nicht zu entdecken. Er war der Meister des heroischen Bildnisses; und diese Bildnisse wurden durch zahlreiche Anekdoten über seine Modelle zu Legenden. Gerade weil diese Geschichten immer wieder kursierten, machte sich das Publikum auch ein Bild von Yousuf Karsh. Die Aura der Prominenten färbte durch den persönlichen Kontakt auf ihn ab. Wie bei den frühen amerikanischen Porträtfotografen der Fall, wurde er als Fotograf genauso prominent wie seine Modelle. (24) Zeitschriften und Kunstbücher trugen dazu bei, sein Werk bekannt zu machen. Das unbekannte Werk dagegen ist ein faszinierender Beweis für seine Variationsbreite. Die ›neuesten‹ Arbeiten - Beispiele aus seinem letzten Portfolio - werden ebenfalls präsentiert.

  Auszüge aus dem gleichnamigen Katalog zur Ausstellung - "YOSUF KARSH - Helden aus Licht und Schatten",
mit freundlicher Genehmigung des G+H Verlages, Berlin.

Möglichkeiten der Analyse

Karshs Werk erschließt sich vielseitiger Betrachtung - und zwar durchaus im Kontrast zur offiziellen Interpretation, die der Fotograf in Büchern und selbst inszenierten Ausstellungen häufig mitgeliefert hat. In fünf Artikeln bieten bekannte Spezialisten auf dem Gebiet der Fotografie, Kunst oder Sozialwissenschaft neue Betrachtungsansätze. Jede dieser multidisziplinären Perspektiven beleuchtet andere Aspekte des Yousuf Karsh und seines weniger bekannten, selten publizierten und kritisierten Werks.

Zum einen werden Karshs Porträts auf dem traditionellen Hintergrund der Porträtkunst eingehend untersucht. Sara Stevenson, Kuratorin der Abteilung Fotografie in der Scottish National Portrait Gallery, vergleicht Karshs moralischen Heroismus mit der Praxis der frühen schottischen Porträtfotografen Hill & Adamson. Lilly Koltun, Leitende Konservatorin der National Archives of Canada, konzentriert sich auf Karshs Anfänge, seine Entdeckung des Kunstlichts, die Einflüsse des Theaters, seine Affinität zu den klaren Umrissen, deutlichen Formen und der Lichtführung einer Neuen Sachlichkeit. Sie bezieht sich dabei nicht nur auf Karshs eigene Berichte, sondern erforscht die Trends seiner Zeit.

Die marxistisch orientierte Historikerin Rosemary Donegan, freie Kuratorin und Autorin in Toronto, diskutiert den Stellenwert, den Karshs Arbeiterporträts in seinem Gesamtwerk einnehmen. Karsh sieht den Arbeiter als wesentliches, humanes Element in scharfem Gegensatz zum ästhetischen Fetisch Maschine. Auch die frühen Werbeaufträge, die Industriefotografie als Resultat einer neuen Public Relations Praxis - des Corporate Identity Designs - werden unter die Lupe genommen. Zudem finden auch jene international weniger bekannten Arbeiten Karshs Beachtung. Jill Delaney, Archivarin der National Archives of Canada, stellt Karshs Projekt, die Serie "Canadian Cities" für die Zeitschrift Maclean's, vor. Sie ordnete die Städteporträts seiner übrige Porträtkunst unter und demonstriert, wie er die Mythenbildung seiner Wahlheimat unterstützte. Last, but not least, bietet die Historikerin und Autorin Mary Panzer einen fotografischen Überblick über die bedeutende Rolle Yousuf Karshs in der Geschichte seiner Zunft. In einer Fotografiegeschichte des 20. Jahrhunderts hat dieser Künstler in jedem Kapitel seinen angestammten Platz.

 

Ausblick

Karsh ist in der breiten Öffentlichkeit wegen seiner Bilder und seiner heroischen Botschaft unvermindert beliebt und bekannt. Die Frage bleibt, ob dies auch noch in zwanzig Jahren gilt. Ein Blick auf die berühmten Porträtisten des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts zeigt, daß nicht die Modelle, sondern die Schöpfer in die Unsterblichkeit eingegangen sind. Reynolds, Lawrence und van Dyck sind noch heute Zeugen des heroischen Charakters ihrer Zeit. Vielleicht kommt Karsh die Rolle eines Tacitus zu, des großen Dokumentators, der eine Epoche im Bild festhielt. Er selbst schrieb einmal: »Zu meiner großen Zufriedenheit haben viele Menschen durch meine Fotografien herausragende Persönlichkeiten unserer Zeit kennengelernt, und ich hoffe, sie haben dabei einen intimen Einblick und tiefe Einsichten erhalten.« (25) Diese Ausstellung möchte das Interesse an Yousuf Karsh vertiefen, und dies in einem Land, in dem zwar seine Bilder bekannt sind, sein Name jedoch Wenigen vertraut ist. Die damit einhergehende erneute Analyse wird, davon bin ich überzeugt, neue Aspekte seines Werks erhellen und die allgemeine Anerkennung und Bewunderung wecken.

 

 

 

(1) Roland Barthes, Camera Lucida, New York 1981, S. 34.
(2) Yousuf Karsh, In Search of Greatness: Reflections of Yousuf Karsh, Toronto 1962, S. 95.
(3) Ebenda, S. 101.
(4) Ebenda, S. 155.
(5) Philip J. Pocock, »The Portraitist at Work« in: Karsh: The Art of the Portrait, National Gallery of Canada, Ottawa 1989, S. 82.
(6) James Borcoman, »The Art of the Portrait«, in: Karsh: The Art of Portrait, ebenda, S. 82
(7) Susan Sontag, On Photography, New York 1989, S. 24.
(8) Ebenda, S. 28
(9) Barbara McCandless, »The Portrait Studio and the Celebrity: Promoting the Arts«, in: Photography in Nineteenth Century America, Fort Worth: Amon Carter Museum, New York 1991, S. 71.
(10) Korrespondenz mit diversen Zeitschriften, Yousuf Karsh Fonds, R 613, Vol. 4-22, National Archives of Canada.
(11) In diesem speziellen Fall schreibt Karsh einen freundlichen, aber harten Brief, der mit dem Satz beginnt: »Beim Lesen des Standard vom 15. April empfand ich Begeisterung und Bedauern zugleich« und mit der Frage endet: »Kann ich mich in Zukunft auf Sie verlassen?« Yousuf Karsh Fonds, R 613, Vol. 4-23, National Archives of Canada.
(12) In diesem Brief heißt es, »die in der Zeitung abgedruckten Fotos seien sowohl von den Abonnenten als auch von der Redaktion hochgelobt worden.« Er schließt mit »meiner Genugtuung über die feine Arbeit, die Sie leisten.« Monica Graham vom Montrealer an Yousuf Karsh, 3. Jan. 1935, Yousuf Karsh Fonds, R 613, Vol. 4-22, National Archives of Canada.
(13) Yousuf Karsh an Adele M. Gianelli, Redakteurin der Saturday Night, 18. Mai 1933, Yousuf Karsh Fonds, R 613, Vol. 4-25, National Archives of Canada.
(14) Yousuf Karsh an Saturday Night, April 1934, Yousuf Karsh Fonds, R 613, Vol. 4-25, National Archives of Canada.
(15) Karsh, ebenda, S. 49.
(16) Korrespondenz zwischen B. K. Sandwell und Yousuf Karsh, Yousuf Karsh Fonds, R 613, Vol. 4-25, National Archives of Canada.
(17) Karsh war bereits im Dez. 1934 mit Fotos von »Tobias and the Angel« (Hauptrolle Viscount Duncannon) an die Zeitschrift herangetreten. Karsh an die Illustrated London News, 29. Dezember, 1943, Yousuf Karsh fonds, R 613, Vol. 4-22, National Archives of Canada.
(18) Siehe: John Frain, The Principles and Practice of Promotion, London 1986.
(19) Siehe: Al Ries u. Jack Trout, Positioning: The Battle for your Mind, New York 1981.
(20) Karsh ebenda, S. 94.
(21) Ebenda, S. 96.
(22) Sontag, ebenda, S. 137.
(23) Karsh, ebenda, S. 142.
(24) McCandles, ebenda, S. 53.
(25) Yousuf Karsh, A Fifty-Year-Retrospective, Toronto 1983, S. 23.

Aus: Yousuf Karsh - Helden aus Licht und Schatten,
Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, erschienen im G+H Verlag, Berlin.
ISBN 3-931768-49-X
Der Katalog ist über den Museumsladen des Deutschen Historischen Museums zu beziehen und kann per email unter
meiske@dhm.de bestellt werden.

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