Von Körpern und anderen Dingen -
Deutsche Fotografie im 20. Jahrhundert

Eine Ausstellung im Deutschen Historischen Museum, Berlin
19. November 2003 bis 16. Februar 2004,

Ausstellungshalle von I. M. Pei

Kurz-Konzept von Klaus Honnef

In Zeiten des Umbruchs und der Krise stellt sich verstärkt die Frage nach dem Sinn des Lebens, und die Recherche nach Identität und Ort des Einzelnen innerhalb seiner sozialen und kulturellen Umwelt beginnt von Neuem. Woher kommen wir, wer sind wir? Solche elementaren Fragen überlagern dann in der Regel die Erforschung der Seelenwelt und Bespiegelung des Ego, die in scheinbar ruhigen Zeiten die Oberhand haben, und rücken wiederum historische und kulturelle Perspektiven ins Blickfeld. Kein visuelles Medium ist geeigneter, die neuerlich auftauchenden Fragen der sozialen Existenz anschaulicher zu beleuchten als die Fotografie. Nicht zuletzt deswegen erfreut sich die Fotografie gerade unter jungen Menschen, die mit dem Fernsehen, dem Medium zerstreuter Wahrnehmung, aufgewachsen sind, steigenden Interesses. Foto-grafische Bilder halten zur genauen Betrachtung an und können beständig überprüft werden. Nur wer seine Vergangenheit kennt, hat Aussicht auf eine Zukunft. Seltener hatte eine Aussage größere Berechtigung als in einer diffusen Medienwelt.

Zweimal im Zwanzigsten Jahrhundert hat die deutsche Fotografie in der Geschichte des foto-grafischen Mediums eine herausragende Rolle gespielt: nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und nach der Revolte der Jugend gegen die etablierten Mächte in Europa und den USA während der sechziger und siebziger Jahre. Mit den Schlagworten "Neues Sehen" und "Neue Sachlichkeit" sowie "Kunst mit Photographie" sind diese Impulse jeweils gekennzeichnet worden. In beiden Fällen stand die ästhetische Frage der Fotografie im Zentrum der Aufmerk-samkeit der Fotografen und Künstler, und sie entdeckten die Fotografie als legitimes künstlerisches Medium mit einer gleichwohl eigenständigen Ästhetik.

Berlin war vor dem Nationalsozialismus das Zentrum der fotografischen Avantgarde, Motor und Brückenkopf zugleich. Die avancierten Künstler aus Russland und Ungarn fanden hier vielfältige Resonanz. Nach dem Ende des nationalsozialistischen Terrorregimes erbten mehrere Städte im westlichen Teil Deutschlands wie Essen, Köln und Düsseldorf den "fotografischen" Rang Berlins.
Die dritte Version eines groß angelegten Zyklus' von Ausstellungen zum Thema "Deutsche Photographie" widmet sich im Gegensatz zu den vorangegangenen in Bonn und Erfurt vor-nehmlich der künstlerischen und soziokulturellen Dimension des technischen Mediums und berücksichtigt die komplexen Bezüge und Korrespondenzen zur Kunst der Avantgarde sowie den damit einhergehenden dramatischen Wandel in der anschaulichen Darstellung des Wirk-lichen. Zugleich erscheint die Fotografie dadurch als ein Produktionsfaktor von Wissen über die Perspektivität einer jeder Darstellungsform. Eine Art übergreifender Klammer liefert die besondere Konzeption des Körpers in der Fotografie der beleuchteten Jahre, von der sogenann-ten "Maschinenästhetik" mit der Etablierung der "kalten persona" in der Weimarer Republik über die Heroisierung und Hypostasierung des Physischen in der Nazizeit bis zur Pluralisierung und Fragmentarisierung der Körper in der zweiten Jahrhunderthälfte samt dem Versuch einer neuen Körperdefinition in fotografischer Fremd- und Selbstdarstellung. Die Folie dieser Demonstration des körperlichen Aspekts in der Fotografie bildet die architektonische Umwelt der Moderne.

Die Ausstellung beginnt im historischen Teil mit den in dieser Hinsicht bedeutendsten und bekanntesten Fotografen. August Sander, Albert Renger-Patzsch, dem gebürtigen Ungarn László Moholy-Nagy, Karl Blossfeldt, Werner Mantz, Raoul Hausmann sowie Heinz Hajek-Halke. Letzterer schlägt eine Brücke zwischen der Kultur der Weimarer und der Bonner Republik. Zusammen mit Peter Keetman nämlich vertritt er auch die Tendenz der "Subjektiven Fotografie". Arno Jansen ist der bedeutendste Fotograf, der diese Tradition bis in die Gegenwart fortsetzt und mit dem Surrealismus verknüpft. Die wichtigsten ästhetischen Anregungen der "Neuen Sachlichkeit" und des "Neuen Sehens" nehmen Hilla und Bernd Becher und Floris M. Neusüss in ihren Werken auf. Die Schüler der Bechers wie Andreas Gursky und Candida Höfer repräsentieren den bekanntesten Zweig der Gegenwartsfotografie in Deutschland. Prägende Schulen haben ebenfalls Neusüss und Jansen aufgebaut.
Wesentliche Anstöße kamen in den siebziger Jahren von den avancierten Künstlern. Jürgen Klauke, das Paar Bernhard Johannes und Anna Blume sowie Katharina Sieverding erweiterten das ästhetische Konzept der Fotografie beträchtlich. In mehr oder minder engem Kontakt mit der Kunst der Avantgarde schufen Künstler-Fotografen wie F. C. Gundlach, Thomas Florschuetz, Wolfgang Tillmans, und vor allem Gabriele und Helmut Nothhelfer eigenständige fotografische Bildkonzepte über den Körper, teils in enger Verbindung mit überraschenden Entwicklungen der Modefotografie, teils in bewusstem Gegensatz dazu.

Schon die Liste der Teilnehmerinnen und Teilnehmer lässt erkennen, dass die Ausstellung das Spektrum der deutschen Fotografie in der Polarität der Schwerpunkte "Körper und Architektur" entfaltet. In prägnanten Bildern zeigt sie die vielfältigen Beziehungen zwischen den Menschen und ihrer Umgebung während der vergangenen hundert Jahre und vergegenwärtigt Architektur in diesem Zusammenhang als ein ambivalentes Element. Einerseits objektivieren sich in den Zeugnissen der modernen Architektur Baukörper mit eigenem Recht, die bisweilen eine menschenfeindliche Ausstrahlung besitzen können, andererseits erscheint Architektur in ihrer Funktion als Schutz, als Erweiterung der Haut, der Kleidung, als Hülle der Menschen. Ebenso manifestiert sich in den fotografischen Bildern der neu-sachlichen Fotografie die Verselbstän-digung der Dingwelt, der natürlichen wie der handwerklich oder industriell gefertigten, so dass sich für die menschliche Körperwelt aus diesem Umstand neuerliche Herausforderungen ergeben.

Der Schwerpunkt der Ausstellung liegt auf der zeitgenössischen Fotografie. Sie demonstriert die Bandbreite fotografischer Möglichkeiten von einer primär aus der Sicht des Malerischen geprägten Haltung mit einem noch körperlichen (handwerklichen) Einsatz (Anke Erlenhoff) bis zur "neuen Künstlichkeit" durch Verwendung digitaler Technik (Andreas Gursky), von der forcierten Inszenierung der Körper (Olaf Martens) bis zur "lapidaren Beiläufigkeit" in der Darstellung (Daniel Josefsohn).

Ein durchgängiges Subthema der Ausstellung ist die Zeit. Die Zeitlichkeit der Körper ist Gegenstand der Tableauxs von Dieter Appelt ebenso wie der "Timescapes" von Michael Ruetz und klingt unter der Hand auch in zahlreichen anderen Beiträgen immer wieder auf. Die zeitlich bedingte Auffassung vom Körper tritt in scharfen Kontrast zu der heroischen, gleichsam zeitlosen in den Bildern von Fotografen der dreißiger Jahre wie Herbert List, Leni Riefenstahl und Max Ehlert. Während List und Riefenstahl dem individuellen Körper klassischer Observanz huldigen, feiert Ehlert den menschlichen Körper als Element der wehrhaften Kolonne, Ornamente der Masse, die wenig später die Nachbarstaaten überrollen wird.
Obendrein entwirft "Von Körpern und anderen Dingen - Deutsche Fotografie im 20. Jahrhundert" ein Spiegelbild sämtlicher Spielarten moderner Autorenfotografie.