Lebenszeichen

Meine Kindheit war behütet, so wie sie es in jener Zeit nur sein konnte. Ich wurde geboren am Karfreitag des Jahres 1940. Die ersten drei Kriegssommer verbrachten wir in Ahlbeck, einem Seebad auf der Insel Usedom.

 

Diese Reisen folgten einer Tradition der Eltern meiner Mutter, nachdem diese um 1900 aus Thüringen nach Berlin-Schöneberg gezogen waren. Dort eröffneten sie eine Kneipe. Großvater Wilhelm Riese war Stukkateur, arbeitete noch am Kölner Dom, ehe er Bier zapfte und später mit seiner Frau ein Seifen- und Parfümeriegeschäft in Berlin-Marienfelde eröffnete. Sein Leben lang behauptete er, ein Nachfahre des Rechengenies Adam Riese zu sein. Ich habe erhebliche Zweifel, da ich während meiner gesamten Schulzeit in Mathe auf mangelhaft bis ungenügend abonniert war. 1943 bekam ich Bronchialasthma und wurde in den Thüringer Wald verschickt. Später, als nach einem Bombenangriff eine Wand unseres Hauses nicht mehr existierte, wurden die Mutter und mein vier Jahre älterer Bruder ebenfalls evakuiert, und so lebten wir bis in den Sommer 1945 in einem kleinen Dorf nahe der hessischen Grenze. Ferien machten wir in Berlin, und ich glaube mich zu erinnern, dass wir einen Großteil unserer Besuche im Luftschutzkeller eines Bunkers in Lankwitz verbrachten.

Im April 1945 wurde Thüringen zuerst von den Amerikanern befreit und kurz danach noch einmal von den Russen. Der sowjetische Kommandant jener Truppe, die in unserem Dorf Quartier machte, warf die Rumpffamilie Müller kurzerhand aus der Wohnung, beförderte das überflüssige Mobiliar aus dem Fenster und zog bei uns ein. Wir flüchteten in ein nahe gelegenes Bauernhaus, wo ich fassungslos mit ansehen musste, wie der Bauer die neugeborenen Katzen in einem Wasserbottich ersäufte. Das hat mich mehr beeindruckt als die bescheidenen Umstände unseres täglichen Lebens. Dabei hatten wir sehr viel mehr Glück als Millionen anderer Menschen, denn auf einem Bauernhof gab es immer reichlich zu essen.

Ein Fischhändler aus unserem Stadtviertel Marienfelde, der den einzigen Lastwagen weit und breit über den Krieg gerettet hatte, brachte uns in halsbrecherischer Fahrt auf zerbombten Straßen zurück nach Berlin. Dieser Transport, bei dem auch das gerettete Inventar verladen wurde, kostete meine Eltern die letzten Ersparnisse.

Jahre später spielten mein Vater und dessen Bruder Reinhard einmal wöchentlich Skat mit diesem Geldschneider. Bei Spiel und Alkoholorgien nahmen die Müller-Brüder dem Fischhändler regelmäßig viel Geld ab. So holte sich meine Familie auf unkonventionelle Art zurück, was sie für die Reise Thüringen - Berlin hatte blechen müssen. Außerdem pinkelten die beiden Müllers am Ende einer Skatnacht regelmäßig an die Nobelkarosse ihres stets verlierenden dritten Mannes. Dieser Mensch besaß die erste Mercedes-Limousine im südlichen Berlin nach dem Krieg. Ich überlebte die ersten Nachkriegsjahre in unserem zerstörten Elternhaus wahrscheinlich nur, weil ich nicht mondsüchtig bin. Um in das elterliche Schlafzimmer zu gelangen, in dem mein Kinderbett stand, musste ich eine frei in die Natur hinaus ragende Treppe benutzen, denn mangels Baumaterial und Geld gab es lange Zeit keine Möglichkeit, die eingestürzte Wand des Hauses wieder herzustellen.

Den Winter 47/48 werde ich nicht vergessen. Mein Goldfisch in seinem viel zu kleinen Wasserbehälter stand häufig nachts auf dem unbeheizten Kachelofen im Wohnzimmer. Eines Morgens war er, von einem Eispanzer umgeben, klaglos erfroren. Wenn es aber einmal Holz oder Kohle für den Ofen gab, dann war es warm im Haus, denn es gab die Ofenrohrschlange, die in bizarren Windungen durch mehrere Räume führte und so viel Wärme abgab, dass selbst die Eisblumen an den Innenscheiben der Fenster schmolzen.

Dennoch: In meiner Erinnerung waren es schöne Jahre. Es gab Mutproben, die darin gipfelten, über einen frei hängenden Eisenträger im dritten Stock einer Ruine zu balancieren, es gab die ehrenvolle Aufgabe, als Ministrant der Redemptoristengemeinde St. Alfons bei der Messe zu assis-tieren, und schließlich die Gründung einer Jugendgruppe der Berliner Jesuiten. Ich habe bei diesen Patres viel für mein späteres Leben gelernt. Wir zelteten in der Mark Brandenburg, spielten Fußball und wurden schon sehr früh mit den Gräueltaten der Nazis an Millionen andersdenkender und anders gläubiger Menschen konfrontiert. In der Schule fand das Dritte Reich nicht statt.

Mein Vater war vor dem Zweiten Weltkrieg Tuchhändler und arbeitete in einem sehr vornehmen jüdischen Geschäft in der Leipziger Straße. Der Religionslehrer meiner Mutter war Clemens August Graf von Galen, der spätere Bischof von Münster, über den es in meinem Großen Brockhaus von 1978 heißt, dass er "nachdrücklich gegen die Kirchen- und Rassenpolitik des nationalsozialistischen Regimes auftrat".

Meine Eltern waren sicher keine Widerstandskämpfer, aber die Bindung zu jüdischen Freunden und die konservativ-katholische Lebenseinstellung meiner Mutter ließen ein Engagement für die Nazi-Ideologie einfach nicht zu. Es war also schlüssig, dass mein Vater mir nach dem Krieg das Buch "Der SS-Staat" von Eugen Kogon zu lesen gab, in dem dieser über das System und die Gräueltaten während seiner sechsjährigen Haft in nationalsozialistischen Konzentrationslagern detailliert Auskunft gab. Dieses Buch hat mich tief berührt und verstört. Nichts hat den Prozess des Erwachsenwerdens mehr beeinflusst als diese Dokumentation des Bösen. Als ich das Buch zum ersten Mal in Händen hatte, war ich acht Jahre alt. Ich beschreibe diesen Lebensabschnitt so ausführlich, weil er sich fundamental unterscheidet von einer heutigen Kindheit und Jugend.

Während meine schulischen Leistungen immer mehr zu wünschen übrig ließen, erweiterte ich meinen Horizont auf angenehmere Weise. 1957 bereits trampte ich von Berlin bis nach Sizilien. In der Tasche hatte ich ca. DM 150,- und in eine Hose eingenäht zusätzlich 20 Pfennig. Dieses Geld war von strategischer Bedeutung. Hatte man als Anhalter Berlin erreicht, war man noch lange nicht zu Hause. Aber die S-Bahn erreichte jeden Zipfel der Stadt, und diese Bahnfahrt kostete eben 20 Pfennig.

Auf dieser Reise lernte ich in Rom, nahe der Trajanssäule, einen eleganten älteren Herrn kennen, der unaufhörlich Noten zu Papier brachte. Es stellte sich heraus, dass er Komponist und Dirigent war. Sehr beeindruckend, aber nichts gegen die Tatsache, dass eben dieser Herr dem damaligen Kardinalstaatssekretär Amleto Giovanni Cicognani Klavierunterricht im Vatikan gab. Diese Bemerkung, eher beiläufig geäußert, hatte gewaltige Folgen. Mein Komponist schrieb mir mehrere sehr einfühlsame Briefe, in denen ein gewisser Ganymed eine herausragende Rolle spielte. Ich überlas es, weil ich es nicht verstand, und bat meinen römischen Statthalter, um Karten für eine Audienz bei Papst Johannes XXIII nachzusuchen. Die Silberhochzeit meiner Eltern war der gegebene Anlass. Die Einladung erfolgte, und so fuhren meine Eltern, mein Bruder, seine Verlobte und ich in einem gerade erworbenen, sehr maroden Mercedes 170 von Berlin nach Rom.

Kurz vor dieser historischen Reise hatte ich im Wäscheschrank meiner Eltern auf der Suche nach möglicherweise vorhandener, nicht vorzeigbarer Literatur einen Photoapparat entdeckt. In ein Leinentuch gewickelt hatte er den Krieg als Wertobjekt überdauert. Leider war das gute Stück beschädigt. In Berlin gab es aber eine Vertragswerkstatt des Kameraherstellers, und so ließ ich den Apparat heimlich reparieren und nahm ihn mit nach Rom. Wir erreichten die Ewige Stadt, obwohl der Wagen ab München etwa zu gleichen Teilen Öl und Benzin verbrauchte. Zur Generalaudienz in Sankt Peter am Ostersonntag 1960 trug ich den gewendeten Hochzeitsanzug meines Vaters. Unter dem Jackett versteckt wartete der Photoapparat auf seine Nachkriegspremiere. Die Müllers saßen in Reihe 3, direkt unter den Säulen Berninis, drei Armlängen entfernt von Seiner Heiligkeit. Neben uns Kardinäle, Fürsten, Bischöfe und überhaupt nur edle Menschen.

Ich machte mein erstes Bild eines prominenten Mannes. Das Photo, entwickelt und vergrößert in einer Berliner Drogerie, begleitet mich bis auf den heutigen Tag. Es zeigt Johannes XXIII, unscharf, verwackelt und stark unterbelichtet. Mein photographisches Urportrait.
Es war überhaupt eine große Zeit. Ich verlobte mich 1961 in Arcachon an der französischen Atlantikküste mit Minimi, der Tochter eines Weinbauern aus dem Anjou im Westen Frankreichs. Mit meinem Bruder und einigen Freunden organisierten wir schon seit 1956 - der Zweite Weltkrieg war erst elf Jahre Geschichte - auf privater Ebene deutsch-französische Treffen in Berlin und in Frankreich, lange bevor Adenauer und de Gaulle 1963 den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag unterschrieben.

Auf einer dieser Reisen lernte ich die schöne Französin kennen. Nachdem wir uns ein Jahr lang täglich einen Brief geschrieben hatten, wollte ich Minimi unbedingt in Frankreich besuchen. Ich jobbte kurz vor dem Bau der Mauer für ein Reiseunternehmen aus Köln und besorgte in Ostberlin Visa für Osteuropareisende. Diese Tätigkeit wurde fürstlich belohnt, und so flog ich im Juli 1961 von Berlin nach Paris. Von dort reiste ich 1. Klasse mit dem Zug nach Bordeaux, um dann standesgemäß dem Taxi auf einem staubigen Zeltlagerplatz bei Arcachon zu entsteigen. Meine Freundin hielt dort tagsüber allzu freizügig gekleideten jungen Frauen Moralvorträge. Die katholische Kindheit hatte mich wieder. Wenige Tage später stattete der Kardinal von Bordeaux unserem Missionslager einen Besuch ab und verlobte mich mit Josèphe Doneau, genannt Minimi. Aus diesem Anlass ließ ich ihn tief in meine Zigarrenkiste greifen. Ich hätte es nicht tun sollen. Seine Eminenz verstarb vier Wochen nach seinem Besuch am Meer.

Die Verlobung war nicht zu halten, aber meine Kenntnis der französischen Sprache hat mir 21 Jahre später die Türen des Elysée-Palastes geöffnet. Damals empfing mich François Mitterrand zu einer Audienz. Ich konnte dem französischen Staatspräsidenten in seiner Sprache relativ schnell klar machen, warum er gerade mit einem deutschen Photographen zusammen ein Buch machen sollte. Zurück zu jenen Jahren, in denen meine Lebensplanung entschieden wurde: Nachdem ich wieder und wieder das Klassenziel nicht erreicht und in mehreren Privatschulen mein Unwesen getrieben hatte, ordnete meine Mutter eine Eignungsprüfung auf einem der dafür zuständigen Ämter in Berlin an. Ergebnis: Bäcker braucht das Land!

Dieser heilsame Schock trieb mich zur Aufnahmeprüfung an der HfBK, der Hochschule für Bildende Künste, im Oktober 1962. Ich bestand und kam in die Klasse von Hans Jaenisch. Noch immer sah ich aus wie ein großes Kind, der Zeit in vielen Lebenslagen weit hinterher und fassungslos ob all der Orgien, die sich innerhalb und außerhalb des Studiengeländes abspielten. Ich trug sehr häufig ein weißes Hemd, eine schwarze Krawatte und darüber den Kittel aus dem Fundus eines befreundeten Chirurgen. Der Mann hatte den schönen Namen Doktor Knöchelmann. Während einige aus meiner Klasse soffen und auch sonst nichts ausließen, zeichnete ich Konrad Adenauer nach Pressephotos. Sehr bald war ich gebrandmarkt als Spinner und retardierter Jesuitenzögling. Ich hingegen sog meinen Honig aus dieser unerhörten Position und bat meinen Bundesbruder Rainer Candidus Barzel, jesuitisch noch stärker geprägt als ich, Adenauer, dem ersten Helden meiner Photographenkarriere, zu seinem 90. Geburtstag am 5. Januar 1966 eine Portraitzeichnung überreichen zu dürfen. Der Geburtstag Adenauers wurde mit Glanz und Pomp gefeiert, nur mich vergaß Herr Dr. Barzel in seinem Fraktionszimmer. Später ging das Bild verloren. Wahrscheinlich hängt es im Wohnzimmer einer in die Jahre gekommenen Sekretärin in Bonn.

Schon im Herbst 1965 war ich von Berlin nach Bonn auf den Münsterplatz gefahren, wo ich mit meiner alten Kamera die ersten Portraits dieses unvergleichlichen Menschen machte. Es war zu der Zeit noch relativ einfach, einem prominenten Politiker nahe zu kommen. In Rhöndorf, südlich von Bonn, hatte sich Adenauer zwischen den Weltkriegen ein Haus gebaut, in dem er noch immer wohnte. Es gab jeden Tag die Gelegenheit, ihn zu beobachten, wie er aufrecht und wunderbar altmodisch gekleidet, den Zennigsweg hinaus auf die Straße zu seinem alten Daimler ging, wo ihn Herr Selbach, sein treuer Fahrer, erwartete. Dort konnte man ihn knipsen und, wenn man sich traute, ihm auch die Hand geben. Immer wenn ich ihn sah, schlug mir das Herz bis zum Hals. Dennoch blieb die Hand ruhig genug um zu photographieren. Adenauer nahm mich irgendwann zur Kenntnis, belustigt über den jungen Mann mit dem altmodischen Apparat. Erst Rainer Barzel machte mich mit ihm offiziell bekannt. Das war am 22.3.1966 während des Bundesparteitages der CDU in Bonn. Von dieser Begegnung gibt es Bilder, die mir heilig sind. Zwanzig Jahre später veröffentlichte ich dann zusammen mit Golo Mann ein Buch mit dem Titel "Konrad Adenauer". Die leider viel zu früh verstorbene Ehefrau von Erich Böhme, für kurze Zeit meine Agentin, überzeugte den Sohn von Thomas Mann, meinen Photographien einen literarischen Text zur Seite zu stellen. Ich habe Golo Mann ein einziges Mal getroffen - bei seinen Freunden im Rheinischen.

Ich habe Konrad Adenauer in den letzten 18 Monaten seines Lebens mehrere Male gesehen und ihn zuletzt bei einem Herrenessen im Hotel Königswinter in Bonn photographiert. Das war im Januar 1967, an seinem 91. Geburtstag. Zu der Zeit war die kurze Kanzlerschaft Ludwig Erhards schon zu Ende, und Kurt Georg Kiesinger stand einer großen Koalition vor. 1969 wurde Willy Brandt zum Bundeskanzler gewählt und führte bis 1974 eine Koalition mit der F.D.P. Ich hatte also viel zu tun, denn mir war damals schon klar, dass meine Arbeit mit Adenauer der Ausgangspunkt für eine Jahrzehnte lange Auseinandersetzung mit den deutschen Kanzlern sein würde. Ich reiste viel in der Republik umher, beobachtete den alternden Ludwig Erhard und begleitete Kiesinger im Bundestagswahlkampf 1969.

Bislang hatte ich meine Kanzlerbegegnungen alle selbst organisiert und war völlig unabhängig in meinem Tun. Es gab keinen Auftrag, keine Beeinflussung, kein Honorar. Erst einige Mitarbeiter des Kanzlers Brandt, denen ich freundschaftlich verbunden war, versorgten mich mit Einladungen und verschafften mir Mitfahrgelegenheiten. So fuhr ich in den legendären Sonderzügen der SPD zu Wahlkampfzeiten, wanderte Mitte der siebziger Jahre drei Sommer lang mit dem Bänkelsänger und Mandolinenspieler Brandt durch deutsche Wälder und war 1977 Gast im norwegischen Haus seiner Frau Rut.
Diese Tage dort werden mir unvergesslich sein, denn der ehemalige Kanzler litt noch sehr unter den Folgen seines Rücktritts von 1974. Ich habe selten einen so verzweifelten, bitteren und depressiven Menschen gesehen. Die Portraits, die damals in der Einsamkeit Südnorwegens entstanden, sind für mich Zeugnisse aus dem Leben eines Mannes, der mir zeitlebens nah und fremd zugleich war. Bei Begegnungen war er häufig schweigsam und verschlossen. Die spätere Hinwendung zu Brigitte Seebacher und deren totale Inanspruchnahme Brandts war für viele Weggefährten das Ende einer engen persönlichen Beziehung.
1978 erschien mein erstes Buch. Es trug den Titel "Willy Brandt" und enthielt neben einer Portrait-, und Handstudiensammlung einen Textessay von Hermann Schreiber. Gefeiert wurde die Veröffentlichung bei einem gesetzten Abendessen im plüschigen Wirtshaus von Ria Maternus in Bad Godesberg. Am Morgen des folgenden Tages wurde Willy Brandt mit einem schweren, bis dahin nicht erkannten Herzinfarkt in eine Bonner Klinik gebracht. 1993, ein Jahr nach seinem Tod, veröffentlichte ich ein weiteres Buch über ihn, in dem Bilder von 1969 bis 1991 zu sehen sind.

In den siebziger Jahren war ich weit davon entfernt, mein Leben mit photographischer Arbeit finanzieren zu können. Ich machte in Berlin Stadtrundfahrten, hielt Vorträge für Gäste des Gesamtdeutschen Instituts und betreute Jugendliche auf Reisen mit dem deutsch-französischen Jugendwerk. 1972 hatte ich zwar schon eine große Ausstellung mit Portraits der Kanzler Adenauer, Erhard, Kiesinger und Brandt, die erstmals in der Parlamentarischen Gesellschaft in Bonn gezeigt wurde, dann im Reichstag Station machte und später in einigen deutschen Städten zu sehen war. Die Resonanz in der Presse war beachtlich und sehr freundlich, aber davon konnte ich mich leider nicht ernähren. Ohne Brigitte, meine spätere Frau, die ich 1975 ausgerechnet auf einem Bundesparteitag der CDU kennen lernte, hätte ich viele meiner Bücher nicht realisieren können. Ich habe meine Verbindung zu Willy Brandt genutzt, um Bruno Kreisky in Wien zu treffen. Kreisky nahm mich mit zu Anwar el Sadat. Brandt schrieb auf meine Bitte hin einen Brief an François Mitterrand, und so entstand über jeden dieser großen und ungewöhnlichen Männer ebenfalls ein Buch.

Meine ausführliche künstlerische Begleitung des Bundeskanzlers Helmut Kohl erstreckte sich über einen Zeitraum von zehn Jahren. Spätestens da verengte sich die publizistische Wahrnehmung meiner Arbeit endgültig auf die Rolle des Kanzler-, Hof- und Leibphotographen. Auf dieser Welt gibt es unendlich viele "personal photographer", die Präsidenten, Regierungschefs, aber auch Königen und sonstigen Potentaten dienen. Deren Aufgabe besteht aus der Dokumentation öffentlicher Auftritte und findet mehr oder weniger jeden Tag statt. Meine Rolle ist aber die der subjektiven Wertung. Größere zeitliche Intervalle wecken die Neugier auf Veränderungen. Jedem Spitzenpolitiker ist die Last und Einsamkeit mit den Jahren ins Gesicht gemeißelt. Diese Leute begegnen uns regelmäßig in unserer guten Stube. Das Fernsehen ist das virtuelle Bindeglied zwischen den Machtmenschen draußen und ihren potenziellen Wählern. Ich habe mich in dem hier vorliegenden Band so ausführlich mit meinen Politikerportraits beschäftigt, weil ich dem millionenfach reproduzierten Bild meine eigene Sehweise entgegensetzen wollte. Dieses Buch - und ausführlicher noch die Ausstellung - berühren Themen, die mich seit Jahrzehnten begleiten. Die Stilleben sind ein Beispiel dafür. An der Publikation über Sergiu Celibidache habe ich viele Jahre gearbeitet, das Thema "Toiletten" müsste ich mit Gewalt stoppen, denn es begegnet mir tagtäglich.

Viele Bilder in der Ausstellung sind Ergebnis von Auftragsarbeiten. Ich habe unter anderem im stern, dem ZEITmagazin und dem Magazin der Süddeutschen Zeitung Portraits und Reportagen veröffentlicht. Die letzte freie Arbeit war die Konfrontation mit den Kindern aus dem Medizin-Historischen Museum der Charité in Berlin, die mich emotional sehr berührt hat.

Konrad. R. Müller

Der um einen Brief von Golo Mann ergänzte Text befindet sich im Buch zur Ausstellung "Terra cognita", erschienen im Steidl Verlag, Göttingen.

 

 


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