Ein
Blick auf die westeuropäische Kunstgeschichte des Spätmittelalters
ermöglicht Antworten. Die Ritterfigur mit dem wallenden blauen Schulterumhang,
der dem Künstler zum modischen Accessoire gereicht, stellt den Erzengel
Michael dar. In der mittelalterlichen Kunst tritt er mit Rüstung und
Schwert im Kampf gegen Luzifer oder andere dunkle Kräfte auf. Fast
unverändert zitiert Prechtl diese Figur aus einem berühmten Gemälde:
Der Fall der rebellischen Engel von Pieter Brueghel dem Älteren (1527/28?-1569).
Einzige Abweichungen: das rote Tuch, das den Schild, und der Stier,
der das Ungeheuer ersetzt. Aber warum ein Stier? Und in welcher Beziehung
stehen Tier, Erzengel und Maler? Eine Gemeinsamkeit liegt auf der
Hand. Erzengel und Künstler sind Namensvettern. Beide heißen Michael.
Das ist aber nicht alles. Der Erzengel Michael war im Mittelalter
der Schutzpatron der Maler. Der Stier ist Sternzeichen - Prechtl ist
im April 1926 geboren - und Symboltier zugleich. Und er ist das Attribut
eines weiteren Heiligen, des heiligen Lukas, des Schutzpatrons der
Malergilden.
Lukas ist einer der vier Evangelisten. In der mittelalterlichen Evangelistendarstellung
hat jeder der vier ein Tiersymbol. Bei Lukas ist es der Stier. Er
symbolisiert die inspirative Kraft.
Zwei Darstellungstypen des Lukas waren in der Kunst des Spätmittelalters
weit verbreitet: der sitzende Gelehrte, der die heiligen Schriften
zu Papier bringt, und der Maler der Gottesmutter Maria, die ihm mit
dem Kind "Modell" sitzt. Oft dabei ist der Stier. Der letzte Typus,
Lukas als Maler, wurde sehr populär bei den Malergilden im 15. Jahrhundert.
In Deutschland zeigt dieses Motiv die Madonna häufig als Erscheinung.
Gegen Ende des Jahrhunderts verbreitet sich im oberdeutschen Raum
das modifizierte Motiv, das Lukas in seiner Werkstatt zeigt, wie er
im Fenster die Madonna als himmlische Erscheinung im Glorienschein
sieht und sie malt. Im bewussten Gegensatz zur irrealen Vision wird
der Maler bei der Arbeit ganz realistisch wiedergegeben. Einen Hinweis
auf Arbeit gibt es auch bei Prechtl. Es ist der blaue Stoff des Halstuchs,
das aus dem Mantel des Erzengels gebildet wird.
Das Attribut des Stieres legt nahe, dass sich Prechtl in seinem Selbstbildnis
auch als Evangelist Lukas darstellt. Dass hier ein "Rollenspiel" aufgeführt
wird. Wir sehen Prechtl am Tisch sitzend, im Begriff, mit seinem Pinsel
seine Gedanken auf das vor ihm liegende Papier zu bringen. Beide angesprochenen
Darstellungstypen des Evangelistenbildes sind in Prechtls Selbstbildnis
zu einem Bild "zusammengezogen". Es zeigen sich der Denker an seinem
Schreibtisch und der Maler (in seiner Werkstatt), dessen Blick von
etwas außerhalb des (Bild)Raumes, für uns unsichtbar, gebannt ist.
Durch die Verknüpfung beider Darstellungstypen präsentiert sich Prechtl
als Denker und Maler, als Denkmaler.
Haben wir soweit die symbolischen Anspielungen erhellt, bleibt die
wichtige Frage: Wozu das ganze reizvolle Spiel?
Eine Antwort darauf zu geben, ist weitaus schwieriger als die bloße
Symboldeutung. Selbstporträts dienen neben der Selbstpräsentation
immer auch der Vergegenwärtigung und kritischen Befragung des Selbst.
Wie sein Vor-Bild Dürer zeigt Prechtl sich selbstbewusst und damit
dem Alten ebenbürtig. Doch gleichzeitig wurzelt sein Rollenspiel ganz
in der Moderne und spiegelt die Entfremdung des Künstlers wider, die
die fortwährende Selbstbespiegelung zur Vergewisserung des Selbst
erst notwendig macht.
Sicher ist, das Thema des heiligen Lukas drängt sich nicht zufällig
auf. In seinem Rahmen legt der Maler Prechtl ein Bekenntnis zu seinem
Selbstverständnis als Künstler in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
ab. Nürnberg, die Stadt, in der Prechtl seit einem halben Jahrhundert
lebt, war berühmt für seine mittelalterliche Malergilde und seine
Künstler, dessen berühmtester Dürer ist. Das Motiv des malenden Lukas
erinnert an diese große Kunsttradition und ist eng mit der alten Stadtgeschichte
verwoben. Auf diese Tradition bezieht sich Prechtl. In diese Tradition
stellt er sich - ein Nachfahr Dürers. Und er knüpft eine Verbindung
zwischen sich und den Vorfahren, zwischen Gegenwart und Vergangenheit,
Moderne und Tradition. Keine Moderne ohne Tradition - Überwindung
der Tradition, Kennzeichen der umwälzenden Moderne, setzt die Auseinandersetzung
mit ihr voraus -, neue Kunst macht die Tradition des Alten fruchtbar:
Das sind einige der Grundanschauungen in Prechtls Kunstbekenntnis.
In der figurativen Kunst der BRD und der DDR der 70er und 80er Jahre
ist die Reflexion und die Rezeption der Kunst des Spätmittelalters
und der Renaissance keinesfalls selten. Prechtls manieristische Form
ist kein Einzelfall. Besonders in der Kunstströmung des Realismus
ist sie anzutreffen, oft als Verfremdungs(V-)Effekt. Hierin offenbart
sich Prechtl als "Realist". Er verfremdet die von ihm aufgezeichnete
Gegenwart oder Vergangenheit so, dass sie von sich andere als die
vertrauten Ansichten gibt und damit eine weitere, entweder nicht gezeigte
oder nicht wahrgenommene Wirklichkeit preisgibt.
Seine "Ehrfurcht" vor den großen Traditionen und Werken der Kunstgeschichte
ist keine Ehrfurcht in dem Sinne, dass sie ihn in Ehrerbietung, gar
Anbetung einer fetischisierten Kultur paralysiert, wie das oft der
Fall war beim Umgang des Bildungsbürgers mit den Relikten der sogenannten
Hochkultur Westeuropas. Prechtl arbeitet dagegen. Er sieht in Kunstgeschichte
und Geschichte einen nützlichen Steinbruch zum Schaffen von Neuem.
Er spielt mit dem alten Material, passt es seinen Interessen und Bedürfnissen
an, befragt es als Dialektiker zugleich neu auf die Gegenwart hin.
Geschichte und Gegenwart werden zu einem neuen, verfremdeten Bild
der Wirklichkeit zusammengesetzt. Es entsteht so die Montage einer
Realität, die nicht nur ungewöhnliche Perspektiven auf die Vergangenheit
schafft, sondern auch einen neuen Blick auf die Gegenwart zulässt
und diesen damit auf andere als die ausgetretenen Pfade aufmerksam
macht, die in die Zukunft führen.
Für die Wiedergabe der Haut wendet Prechtl die Technik des Hand- und
Hautabdruckverfahrens an. Er macht seine eigenen Hände mit ihrer spezifischen
Oberfläche zu Druckträgern. Damit erzeugt er das für seine Bilder
so typische Raster auf den Hautpartien seiner Figuren, das die Stofflichkeit
von lebender, warmer Haut illusioniert.
Kai
Artinger