Selbstbild im April 80 (1980)

Zuerst erscheint alles eindeutig. Wirklichkeitsgetreu gibt sich die Selbstdarstellung des Malers. Der Naturalismus ist so weit getrieben, dass selbst das feinste graue Barthärchen noch zu seinem Recht kommt. Kritisch blickt der Künstler auf die Welt, geht zu ihr auf Distanz, um ein unabhängiges und unbestechliches Zeugnis von ihr abzulegen. Allerdings trügt der naturalistische Schein. Und das aus mehreren Gründen.
Das Proportionsverhältnis des Körpers stimmt nicht. Der Kopf mit dem gewaltigen Vollbart ist zu groß. Dieses Missverhältnis könnte man fälschlich als Mittel der Karikatur des Selbst deuten. Tatsächlich knüpft der Maler mit dieser Form an die Tradition der flämischen Porträtmalerei an. Brustporträts aus der Künstlerwerkstatt des Meisters von Flémalle oder Jan van Eycks illustrieren das. Die Körperhaltung, die Prechtl einnimmt, ist auch vom Spiegel bedingt. Daher begegnen wir ihr oft in Autoporträts. Als eines der berühmtesten Künstlerselbstbildnisse der deutschen Kunstgeschichte gilt Albrecht Dürers von 1498. Dieses ist die erste greifbare Persönlichkeitsschilderung eines deutschen Malers, die mit vorher nie gekannter Ähnlichkeit die Züge seines Schöpfers wiedergibt. Ein Dokument des erwachten künstlerischen Selbstbewusstseins.
Prechtls Selbstbildnis weist einen nicht minder hohen Grad an Ähnlichkeit auf. Jedoch irritieren in der mit größter Perfektion vorgetragenen naturalistischen Darstellung die Attribute, die kunstvoll in Bart und Kleidung eingefügt und gleichsam mit dem Hemd zur Verschmelzung gebracht sind.
Wer ist dieser mittelalterlich gerüstete Krieger mit Schwert, der wie ein Torero den Stier mit einem roten Tuch reizt? Was bedeuten die Attribute? Sind sie Symbole? Wenn ja, wofür?

 
 

Ein Blick auf die westeuropäische Kunstgeschichte des Spätmittelalters ermöglicht Antworten. Die Ritterfigur mit dem wallenden blauen Schulterumhang, der dem Künstler zum modischen Accessoire gereicht, stellt den Erzengel Michael dar. In der mittelalterlichen Kunst tritt er mit Rüstung und Schwert im Kampf gegen Luzifer oder andere dunkle Kräfte auf. Fast unverändert zitiert Prechtl diese Figur aus einem berühmten Gemälde: Der Fall der rebellischen Engel von Pieter Brueghel dem Älteren (1527/28?-1569).
Einzige Abweichungen: das rote Tuch, das den Schild, und der Stier, der das Ungeheuer ersetzt. Aber warum ein Stier? Und in welcher Beziehung stehen Tier, Erzengel und Maler? Eine Gemeinsamkeit liegt auf der Hand. Erzengel und Künstler sind Namensvettern. Beide heißen Michael. Das ist aber nicht alles. Der Erzengel Michael war im Mittelalter der Schutzpatron der Maler. Der Stier ist Sternzeichen - Prechtl ist im April 1926 geboren - und Symboltier zugleich. Und er ist das Attribut eines weiteren Heiligen, des heiligen Lukas, des Schutzpatrons der Malergilden.
Lukas ist einer der vier Evangelisten. In der mittelalterlichen Evangelistendarstellung hat jeder der vier ein Tiersymbol. Bei Lukas ist es der Stier. Er symbolisiert die inspirative Kraft.
Zwei Darstellungstypen des Lukas waren in der Kunst des Spätmittelalters weit verbreitet: der sitzende Gelehrte, der die heiligen Schriften zu Papier bringt, und der Maler der Gottesmutter Maria, die ihm mit dem Kind "Modell" sitzt. Oft dabei ist der Stier. Der letzte Typus, Lukas als Maler, wurde sehr populär bei den Malergilden im 15. Jahrhundert. In Deutschland zeigt dieses Motiv die Madonna häufig als Erscheinung. Gegen Ende des Jahrhunderts verbreitet sich im oberdeutschen Raum das modifizierte Motiv, das Lukas in seiner Werkstatt zeigt, wie er im Fenster die Madonna als himmlische Erscheinung im Glorienschein sieht und sie malt. Im bewussten Gegensatz zur irrealen Vision wird der Maler bei der Arbeit ganz realistisch wiedergegeben. Einen Hinweis auf Arbeit gibt es auch bei Prechtl. Es ist der blaue Stoff des Halstuchs, das aus dem Mantel des Erzengels gebildet wird.
Das Attribut des Stieres legt nahe, dass sich Prechtl in seinem Selbstbildnis auch als Evangelist Lukas darstellt. Dass hier ein "Rollenspiel" aufgeführt wird. Wir sehen Prechtl am Tisch sitzend, im Begriff, mit seinem Pinsel seine Gedanken auf das vor ihm liegende Papier zu bringen. Beide angesprochenen Darstellungstypen des Evangelistenbildes sind in Prechtls Selbstbildnis zu einem Bild "zusammengezogen". Es zeigen sich der Denker an seinem Schreibtisch und der Maler (in seiner Werkstatt), dessen Blick von etwas außerhalb des (Bild)Raumes, für uns unsichtbar, gebannt ist. Durch die Verknüpfung beider Darstellungstypen präsentiert sich Prechtl als Denker und Maler, als Denkmaler.
Haben wir soweit die symbolischen Anspielungen erhellt, bleibt die wichtige Frage: Wozu das ganze reizvolle Spiel?
Eine Antwort darauf zu geben, ist weitaus schwieriger als die bloße Symboldeutung. Selbstporträts dienen neben der Selbstpräsentation immer auch der Vergegenwärtigung und kritischen Befragung des Selbst. Wie sein Vor-Bild Dürer zeigt Prechtl sich selbstbewusst und damit dem Alten ebenbürtig. Doch gleichzeitig wurzelt sein Rollenspiel ganz in der Moderne und spiegelt die Entfremdung des Künstlers wider, die die fortwährende Selbstbespiegelung zur Vergewisserung des Selbst erst notwendig macht.
Sicher ist, das Thema des heiligen Lukas drängt sich nicht zufällig auf. In seinem Rahmen legt der Maler Prechtl ein Bekenntnis zu seinem Selbstverständnis als Künstler in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ab. Nürnberg, die Stadt, in der Prechtl seit einem halben Jahrhundert lebt, war berühmt für seine mittelalterliche Malergilde und seine Künstler, dessen berühmtester Dürer ist. Das Motiv des malenden Lukas erinnert an diese große Kunsttradition und ist eng mit der alten Stadtgeschichte verwoben. Auf diese Tradition bezieht sich Prechtl. In diese Tradition stellt er sich - ein Nachfahr Dürers. Und er knüpft eine Verbindung zwischen sich und den Vorfahren, zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Moderne und Tradition. Keine Moderne ohne Tradition - Überwindung der Tradition, Kennzeichen der umwälzenden Moderne, setzt die Auseinandersetzung mit ihr voraus -, neue Kunst macht die Tradition des Alten fruchtbar: Das sind einige der Grundanschauungen in Prechtls Kunstbekenntnis.
In der figurativen Kunst der BRD und der DDR der 70er und 80er Jahre ist die Reflexion und die Rezeption der Kunst des Spätmittelalters und der Renaissance keinesfalls selten. Prechtls manieristische Form ist kein Einzelfall. Besonders in der Kunstströmung des Realismus ist sie anzutreffen, oft als Verfremdungs(V-)Effekt. Hierin offenbart sich Prechtl als "Realist". Er verfremdet die von ihm aufgezeichnete Gegenwart oder Vergangenheit so, dass sie von sich andere als die vertrauten Ansichten gibt und damit eine weitere, entweder nicht gezeigte oder nicht wahrgenommene Wirklichkeit preisgibt.
Seine "Ehrfurcht" vor den großen Traditionen und Werken der Kunstgeschichte ist keine Ehrfurcht in dem Sinne, dass sie ihn in Ehrerbietung, gar Anbetung einer fetischisierten Kultur paralysiert, wie das oft der Fall war beim Umgang des Bildungsbürgers mit den Relikten der sogenannten Hochkultur Westeuropas. Prechtl arbeitet dagegen. Er sieht in Kunstgeschichte und Geschichte einen nützlichen Steinbruch zum Schaffen von Neuem. Er spielt mit dem alten Material, passt es seinen Interessen und Bedürfnissen an, befragt es als Dialektiker zugleich neu auf die Gegenwart hin. Geschichte und Gegenwart werden zu einem neuen, verfremdeten Bild der Wirklichkeit zusammengesetzt. Es entsteht so die Montage einer Realität, die nicht nur ungewöhnliche Perspektiven auf die Vergangenheit schafft, sondern auch einen neuen Blick auf die Gegenwart zulässt und diesen damit auf andere als die ausgetretenen Pfade aufmerksam macht, die in die Zukunft führen.
Für die Wiedergabe der Haut wendet Prechtl die Technik des Hand- und Hautabdruckverfahrens an. Er macht seine eigenen Hände mit ihrer spezifischen Oberfläche zu Druckträgern. Damit erzeugt er das für seine Bilder so typische Raster auf den Hautpartien seiner Figuren, das die Stofflichkeit von lebender, warmer Haut illusioniert.

Kai Artinger