"zur
frage des realismus: die gewöhnliche anschauung ist, dass ein
kunstwerk desto realistischer ist, je leichter die realität in
ihm zu erkennen ist. Dem stelle ich die definition entgegen, dass
ein kunstwerk desto realistischer ist, je erkennbarer in ihm die
realität gemeistert wird." (Bertolt Brecht, Arbeitsjournal, 4.8.40)
"Niemand,
nehme ich an, wird bestreiten, dass all unser Wissen aus dem Fragen
resultiert, ja dass das Fragen das bedeutsamste intellektuelle
Werkzeug ist, das dem Menschen zur Verfügung steht." (Neil Postman,
Die zweite Aufklärung, 1999)
Den
griechischen Philosophen Sokrates (um 470-399 v. Chr.) verurteilt
die Polis von Athen zum Tode. Sie begründet ihr drakonisches Strafmaß
mit der Verführung der Jugend - zur Vernunft. Dieses Todesurteil
ist einer der berühmtesten Angriffe auf die Freiheit des Denkens
in der europäischen Geistesgeschichte.
Grundlage
des Sokratischen Philosophierens ist der Dialog und die Kunst
des Fragens. Der Gesprächsstil von Sokrates ist gefürchtet. In
einem Zustand der heillosen Verwirrung oder gar der völligen Ratlosigkeit
lassen seine Fragen die Gesprächsteilnehmer zurück. Eine Sache,
über die sie vorher Klarheit haben oder zu haben glauben, verliert
im Dialog mit dem Philosophen ihre Durchsichtigkeit, wird immer
unklarer und undurchsichtiger mit der Folge, dass vorher als wahr
erachtetes Wissen als schnöder Glaube bloß steht. Gewissheit weicht
quälender Ungewissheit. In einer solchen Situation ist vieles
nicht mehr klar. Denkt man sie radikal weiter, ist alles unklar,
wird das Nichtwissen absolut. Dann weiß man nur noch eines mit
Sicherheit: Dass man nichts weiß.
Diese
verstörende Einsicht zu gewinnen, ist Grundvoraussetzung für das
sokratische Philosophieren. Erst jetzt ist die Sicherheit, die
sich auf nur benutzte, aber nicht reflektierte und bedachte Begriffe
stützt und daher eine Scheinsicherheit ist, erschüttert. War das
Denken vorher durch Dogmen, Glaubenssätze, eingelullt und ruhig
gestellt worden, kann es nun aus dem dogmatischen Schlaf erwachen.
Mit ihm erhebt sich der Zweifel. Und treibt an zum Überdenken
des bisher Selbstverständlichen und Vertrauten.
Das
Staunen steht am Anfang allen Philosophierens. Das Erstaunen über
das vertraut Alltägliche schlägt Funken, Neugier entflammt. Das
Feuer der Betrachtung und des Nachdenkens wird zur Prüfung des
bis dahin Gewussten und schafft neue Einsichten. Der sokratische
Dialog lehrt die Menschen über sich selbst, ihre unreflektierten,
unüberlegten Kenntnisse zu staunen. Die Unwilligen empfinden das
Fragen als Ärgernis, die Willigen erkennen, dass die Skepsis eine
Tugend ist. Dass im fragenden Suchen das Denken vorangeht. Oder
wie es der französische Aufklärer Denis Diderot am Tag vor seinem
Tod formulierte: "Der erste Schritt zur Philosophie ist der Unglaube."
Michael
Mathias Prechtl ist ein solcher Ungläubiger. Besonders deutlich
wird seine Denkungsart in einem kleinen Bild einer umfangreichen
Serie, die seit 35 Jahren immer noch nach ihrem Arbeitstitel benannt
ist, die sogenannte Intime Sitten- und Kulturgeschichte des Abendlandes.
Das 19 x 22 cm messende Bild heißt Der schreckliche Marinerichter
Philostratos verurteilt Sokrates zum Tode.
Auf
der linken Seite sehen wir in einer blauen Tunika den Philosophen
Sokrates in Handschellen. Ein antiker Soldat hat ihm einen Strick
um seinen Hals gelegt. Rechts von ihm mit einer braunen Tunika
sitzt Philostratos. Er grinst über das ganze Gesicht und verschränkt
seine roten Hände wie zum Gebet. Eine Frau reicht ihm ein Waschgefäß
dar.
Das
Bild hat nur vier unterschiedlich große Figuren, sein kompositorischer
Aufbau erscheint einfach und übersichtlich. Doch es ist voller
Anspielungen. Im Titel findet sich die sichtbarste Spur zur inhaltlichen
Erschließung der Darstellung. Der "schreckliche Marinerichter"
ist Dr. Hans-Karl Filbinger (geb. 1913), der von 1966 bis 1978
Ministerpräsident von Baden-Württemberg und einer der erfolgreichsten
und mächtigsten CDU-Politiker in der Bundesrepublik Deutschland
war. Als Marinerichter hatte er im Zweiten Weltkrieg mehrfach
an der Verhängung von Todesurteilen gegen Wehrmachtsangehörige
mitgewirkt. Philostratos hat eindeutig Filbingers Gesicht. Als
Vorlage diente Prechtl ein Foto des christlich-konservativen Politikers,
das ihn en face breit lächelnd zeigt, die Hände wie zum Gebet
gefaltet. Der westdeutsche Plakatkünstler Klaus Staeck entwarf
1978 ein Plakat, das dasselbe Foto mit einer Landschaft des romantischen
Malers Caspar David Friedrich, dem Gemälde Das Kreuz im Gebirge
(Tetschener Altar, 1807/8) kombiniert. Hier hinterfangen die Strahlen
der Sonne, die hinter dem Berg auf- oder untergeht, Filbingers
Kopf und bilden eine Gloriole. Bei seiner Vergangenheit und der
Art und Weise, wie Filbinger sie nach ihrem Bekanntwerden rechtfertigte,
boten sich für Staeck gerade diese beiden Bilder für die Fotomontage
an. Sie präsentiert den Politiker als Schein-Heiligen.
Als
Marinerichter hat Filbinger Todesurteile verhängt. Diese Verstrickung
in Todesurteile verknüpft Prechtl mit dem Todesurteil gegen Sokrates.
Dem Marinerichter gibt er den Namen Philostratos. Das ist eine
recht eigenwillige Übertragung des Namens Filbinger ins "Küchengriechisch":
Philo für Fil, stratos für Stratege. In seiner Amtszeit als Ministerpräsident
legte der "politische Stratege" Filbinger die Grundlagen zur Verwandlung
des Bundeslandes Baden-Württemberg in ein "Musterländle". Wir
können allerdings auch eine andere, nicht von Prechtl beabsichtigte
Deutung vornehmen, die nicht weniger passend ist. Diesen Interpretationsspielraum
hat der Betrachter bei Prechtl. Und das Deuten seiner Geschichtsbilder
ist bei aller Ernsthaftigkeit des künstlerischen Vortrags vor
allem ein Spiel, in dem das Fragen lustvoll ausgekostet werden
darf.
Philostratos
ist der Name eines anderen griechischen Philosophen. Den Namen
tragen mehrere Vertreter der zweiten Sophistik im 2./3. Jahrhundert
n. Chr. aus einer lemnischen Familie. Bedeutend ist Flavius Philostratos
II., der in Athen und am römischen Kaiserhof wirkt. Ursprünglich
meint das Wort "Sophist" einen Weisen und Gelehrten (griech. sophos:
klug, weise). Im 5./4. Jahrhundert v. Chr. bezeichnet "Sophist"
als Sammelbegriff eine Gruppe von Philosophen, die traditionelle
ethische, religiöse und politische Anschauungen rational hinterfragen.
Mit ihrer "Sophistik" genannten Lehre beginnt eine neue aufklärerische
Epoche der griechischen Philosophie. Die Anhänger des Sokrates
stehen den Sophisten kritisch gegenüber. Sie, unter ihnen besonders
Platon, werfen ihnen Wortverdreherei vor. Ihre Absicht sei nicht,
durch rationale Argumente zu überzeugen, sondern durch unredliche
rhetorische Mittel zu überreden. Trugschlüsse, die nicht auf einem
logischen Fehler, sondern auf bewusster Irreführung basieren,
seien dazu ihr Mittel. Sophistisch zu argumentieren wird zu einem
ernsten Vorwurf - und ist es bis heute geblieben. Auch im modernen
Sprachgebrauch wendet sich der Begriff gegen rhetorische Spitzfindigkeit
und Haarspalterei.
Durch
den Namen Philostratos wird Filbinger als Sophist in diesem negativen
Sinne gekennzeichnet. Den Grund lieferte er selbst mit seiner
Rechtfertigung der Todesurteile, an denen er beteiligt war. Als
im Februar 1978 die "Affäre Filbinger" durch die Erzählung Eine
Liebe in Deutschland des Schriftstellers Rolf Hochhuth in der
Wochenzeitung Die Zeit ins Rollen kam und die Vergangenheit des
"furchtbaren Juristen" (Hochhuth) öffentlich bekannt wurde, stritt
Filbinger erst einmal monatelang die Todesurteile ab. Dann gab
er eines zu. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel wies in Akten
aus der Zeit Filbingers als Marinerichter zwei weitere Todesurteile
nach, an denen er 1945 mitgewirkt hatte.
Filbinger
stand als Lügner da. Dagegen wehrte er sich mit dem Argument,
er habe sich an die beiden nun bekannt gewordenen Todesurteile
nicht erinnert, weil sie in Abwesenheit der Betroffenen ergingen
und deshalb für sie keine Konsequenz hatten. Ein sophistisches
Argument. Nicht weniger spitzfindig erschien Filbingers Erklärung,
die beiden Todesurteile wären gegen Deserteure ergangen, die sich
im Frühjahr 1945 einer Hilfsaktion der deutschen Marine zur Überführung
von 2,5 Millionen Menschen über die Ostsee entzogen hatten.
Im
Verlauf der Affäre rückten zahlreiche CDU-Parteifreunde von Filbinger
ab. Er musste als Ministerpräsident im August 1978 zurücktreten.
Bis heute sieht er sich als Opfer einer "Medienkampagne", die
nach Meinung seiner Freunde maßgeblich von der Staatssicherheit
der DDR gesteuert worden war. Hochhuths Erzählung wurde kürzlich
vom baden-württembergischen Kultusministerium als Pflichtlektüre
für die Abiturprüfung an den Beruflichen Gymnasien im Jahr 2002
gestrichen.
Filbinger
und Prechtl erlebten beide den Nationalsozialismus und den Weltkrieg.
Doch der eine war Richter im Auftrag der Macht und der andere
junger einfacher Soldat an der Front und "Kamerad" der Verurteilten.
Prechtls Bild geht über diesen zeithistorischen Bezug weit hinaus.
Der Titel lautet ja: Der schreckliche Marinerichter Philostratos
verurteilt Sokrates zum Tode. Spätestens hier stellen wir fest,
dass der Betrachter mit mehreren Bedeutungsebenen konfrontiert
ist. Eine weitere Ebene ist, dass der Marinerichter Filbinger
Sokrates zum Tode verurteilt hätte, hätte er in der Polis gesessen.
Er hätte sein Richter sein können. Denn mit den Polis-Vertretern
gemein hat er die Beteiligung an Todesurteilen mit anfechtbaren
Begründungen. In seiner Rechtsprechung als Richter des totalitären
nationalsozialistischen Regimes ähnelt er den Richtern des Sokrates,
deren Urteil Unrecht war, obzwar es in der griechischen Demokratie
gefällt wurde. Sokrates, der von seiner Unschuld fest überzeugt
war, trank den Giftbecher trotzdem aus, um die Demokratie zu schützen.
Ein Paradox. Denn gerade diese Demokratie hatte ihn zum Tode verurteilt.
Doch hätte er den Schuldspruch der Polis abgelehnt, hätte er zugleich
das demokratische Zustandekommen der Entscheidung und damit das
Prinzip der Demokratie in Frage gestellt. Das Prinzip stellte
er aber über seine Person, deshalb akzeptierte er das Unrecht.
Filbingers Todesurteile sind nach Maßstäben demokratischer Rechtsprechung
Teil eines undemokratischen Systems. Ihre Begründungen waren inhuman
und nicht weniger rabulistisch als die Argumente, mit denen Filbinger
sein Vergessen seiner dunklen Vergangenheit erklärte.
Die
Polis verfolgte das in der Persönlichkeit des Sokrates verkörperte
unabhängige kritische Denken. Das Ärgernis des Fragens sollte
aus der Welt geschafft werden. Die Todesurteile der nationalsozialistischen
Justiz im Krieg verfolgten eine im Wesen verwandte Absicht. Sie
schufen ein Klima der Angst und zielten auf die Vernichtung aller
Menschen, die sich dem Terrorsystem nicht mehr unterwerfen und
in irgendeiner Weise entziehen wollten und damit die Unabhängigkeit
ihres Geistes zeigten. Diese gewaltsame Unterdrückung des freigeistigen
Individuums hat, das zeigt Prechtl, eine lange Tradition in der
europäischen Geschichte. Der "vorsätzliche Mord durch den Staat",
als welchen Albert Camus 1957 die Todesstrafe in seinem Buch Die
Guillotine brandmarkte, reicht vom Urteil gegen Sokrates über
die Hinrichtung Jesu Christi bis zur Liquidierung von Deserteuren
im Zweiten Weltkrieg. Nicht zufällig sind die Hände des Philostratos
alias Filbinger in Prechtls Bild blutrot. Wie einst Pontius Pilatus
wird auch er seine Hände in der dargereichten Schüssel in Unschuld
waschen. "Schreckliche" Richter taten das zu allen Zeiten. Die
Unrechtsprechung hat eine lange, weit zurück reichende Tradition.
Das haben auch die beiden von Prechtl exemplarisch in den Hauptfiguren
vorgestellten Denkhaltungen: Das freie, autonome, immer durch
die Macht in seiner Existenz bedrohte und das konformistische,
sich der Macht unterwerfende, dienende Denken.
Es
gibt einen Kommentar des Künstlers zu seinem Bild: "In der sogenannten
Intimen Sitten und Kulturgeschichte ..., einer ernsthaft-ironischen
Umwertung ewiger Werte, bringe ich oft zeitlich und geographisch
weit voneinander entfernte Vorgänge und Figuren in ein Bild, um
zu demonstrieren, Vergangenheit ist nur dann glaubhaft vorstellbar,
wenn in ihr Gegenwart stattfindet. Ein geradezu biblisches Gleichnis
ist eine Darstellung der Unerbittlichkeit der Richter aller Zeiten
... Da sitzt unser Zeitgenosse, der ehemalige Marinejurist F.,
und wäscht seine Hände in Unschuld. Ihm wird von einem Schergen
der gebundene Philosoph zugeführt. Die anachronistische Assoziation
Sokrates-Urteil, Pontius Pilatus, diktatorische Justiz soll die
oft genug fragwürdige menschliche Rechtsfindung gegenzeichnen."
Wesenselement
aller 75 Bilder der Intimen Sitten- und Kulturgeschichte ist das
unabhängige Denken und der von Scheuklappen unverstellte skeptische
Blick auf die europäische Geschichte. Manchmal zeichnet Prechtl
mit einem brutalen Realismus, etwa in seinen Bildern zum Bauernkrieg,
manchmal mit einem Sinn fürs Raffinierte und Erotische. In Des
Malers Jerg Ratgeb blutiges Ende (1976) stellt er mit schonungsloser
Drastik die fürchterlichen Todesqualen dar, die der mit den aufständischen
Bauern sympathisierende süddeutsche Maler erlitt. Verurteilt zur
erschwerten Vierteilung durch ein Rossgespann, schleifte man ihn
1525 erst zur Richtstatt in Pforzheim und zerriss ihn dann dort.
Da die geballte Pferdestärke allein zum Zerreißen des menschlichen
Körpers nicht ausreichte, mussten dem lebenden Delinquenten die
Glieder angehackt, die Sehnen durchtrennt werden. Das Erleiden
der Strafe, die zugleich Folter war, übersteigt menschliches Vorstellungsvermögen.
Nicht zufällig erinnert Prechtls Darstellung an die Ikonographie
der Kreuzigung. Jörg Ratgeb, der sich hinter die religiös begründeten
Artikel der revolutionären Bauernschaft gestellt hatte und wegen
angeblichen, aber nie aufgeklärten "Hochverrats" verurteilt wurde,
wird zum Märtyrer der Bauernsache. Prechtl steht mit dieser Sicht
nicht allein. In der 1972 posthum verlegten großen Ratgeb-Monographie
mit dem Untertitel Ein Maler und Märtyrer aus dem Bauernkrieg
hat der Kunsthistoriker Wilhelm Fraenger eine ähnliche Deutung
vorgenommen. Unmissverständlich drückt sich Prechtls Haltung auch
in den beiden Titeln eines anderen Bauernkriegsbildes aus: Wie
man Bauern ausnimmt, heißt der eine, wortspielerische, weil das
Ausweiden eines Bauern dargestellt ist, und: Die Folterung und
Ermordung der für ihre Rechte kämpfenden Bauern durch Eck, Luther,
Waldburg und Konsorten der andere.
Das
Bild Kleopatras Lustfahrt auf dem Nil (1967) illustriert mit der
Üppigkeit der nackten Körper weitere Facetten von Prechtls Serie:
menschliche Sexualität, Körper, und eben diesen Sinn für Wortspiele.
Lustfahrt nimmt Prechtl wörtlich. Kleopatra reist auf einem riesigen
Phallus und gibt sich sexuellen Genüssen hin. 1967 war eine solche
"Sittengeschichte" sicherlich nichts Gewöhnliches. Vielleicht
kann man sie als witziges künstlerisches Zeugnis einer sich bewusster
werdenden, freieren Sexualauffassung ansehen, die sich die Lust
nicht mehr uneingeschränkt von Bigotterie und Doppelmoral verbieten
lässt. Allerdings feiert sich hier der männliche Eros. Und es
geht weniger um die sexuellen Praktiken des Altertums als um sexuelle
Fantasien der Jetztzeit.
In
einigen Bildern ist das Sexuelle auf surreale Weise verfremdet.
In Jakob Orpheus in der Unterwelt (1966) ist die Scham einer Frau
zugleich der Schnurbart eines Männergesichts, in Dürer in Antwerpen
(1973) erscheint einer der Frauenakte durch das Gesicht eines
bärtigen Mannes zwischen ihren Schenkeln als Hermaphrodit. Keineswegs
sind die Bilder der Intimen Sitten- und Kulturgeschichte also
immer ernst und philosophisch, stets aber tiefsinnig. Viele Bildtitel
sind Wortspiele, doppelsinnig wie bei Vincent [van Gogh] leiht
Nana sein Ohr (1969). Zweifelsohne ist ein aufmerksamer Betrachter
gefordert. Der Inhalt muss betrachtend erforscht, erarbeitet werden.
Oft erschließt sich erst dann der hintergründige Humor. Nur selten
liegt der Inhalt auf den ersten Blick klar auf der Hand.
Die Intime Sitten- und Kulturgeschichte ist nicht chronologisch
aufgebaut. Die einzelnen Bilder zu sehr unterschiedlichen historischen
Epochen und Themen verbindet untereinander kein roter Faden. Sie
müssten, wie der Künstler selbst meint, bei einer Publikation
erst in eine Ordnung gebracht werden. Trotz dieses lockeren Zusammenhangs
ist ihnen aber das unorthodoxe Geschichtsverständnis gemein. Und
der Wunsch zu kommentieren. Prechtl bezieht Stellung zu Vergangenem
und Gegenwärtigem, handelt es sich dabei nun um die Ermordung
Leo Trotzkis (Kaukasische Bergsteigertragödie, 1976) oder das
Verhältnis von Tradition und Moderne in der Gegenwartskunst (Rembrandt
erfindet 1669 im volltrunkenen Zustand die informelle Malerei,
1972). Die Serie ist mit Darstellungen von Grünewald, Cranach,
Picasso, Rivera und anderen auch eine sehr persönliche Kunstgeschichte.
Häufig
betrachtet Prechtl die Geschichte von unten. Nicht immer ist sein
von der Gegenwart in die ferne Vergangenheit geschlagener Bogen
offensichtlich, nicht immer reflektiert er tagespolitische oder
gesellschaftliche Ereignisse der Zeitgeschichte im Spiegel der
Historie. Doch in der Regel zielt er bei seiner "Geschichtsstunde"
auf bisher Ungefragtes, scheinbar Abseitiges, auf die lange Zeit
in der offiziellen, von seiner Warte aus konformistischen Geschichtsschreibung
vernachlässigten Triebkräfte menschlichen Tuns.
Der
Beginn der Bilderfolge unter einem Progressivität verheißenden
Titel fällt in das Jahr 1965. Der Titel selbst ist ein Kuriosum.
Er ist sachlich, unpoetisch und lässt an ein Geschichtsbuch denken,
zum Beispiel an Eduard Fuchs' mehrbändige Illustrierte Sittengeschichte
vom Mittelalter bis zur Gegenwart, die ab 1909 erschien. Die Begriffe
und ihre Beziehung zueinander sind nicht eindeutig. "Sittengeschichte"
ist kein Begriff der Geschichtswissenschaft. Wohl aber gibt es
eine Geschichte der Sitten. Die Präzisierung des Begriffs durch
das Adjektiv "intim" legt nahe, dass Gegenstände behandelt werden,
die ansonsten nicht Teil des historischen Diskurses sind, etwa
die Sexualität. Das Adjektiv ließe sich auch auf den Begriff "Kulturgeschichte"
beziehen, dann würde jedoch der Unterschied zwischen "intimer
Sitten-" und "intimer Kulturgeschichte" unklar werden. Zudem stellte
sich die Frage, was eine intime Kulturgeschichte sei. Wäre ihr
Gegenstand nicht kongruent mit dem der intimen Sittengeschichte?
Und: Ist nicht jede Geschichte der Sitten immer auch eine Kulturgeschichte?
Warum werden im Arbeitstitel diese beiden Methoden der Geschichtswissenschaft
genannt, ohne das einsichtig ist, wie ihre Untersuchungsfelder
differieren? Irritierend und merkwürdig ist auch, wie ein Maler
eine Sitten- und Kulturgeschichte "erzählen" will, wo ihm selbst
doch nur das Medium Bild und Stift, Pinsel und Farbe zur Verfügung
stehen. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und seit des Bedeutungsverlusts
der Historienmalerei wird es nicht mehr als die Aufgabe der bildenden
Kunst angesehen, ein Bild der Geschichte zu liefern.
Die
westdeutsche Geschichtswissenschaft ist in den 60er Jahren im
Wandel, die Sozialgeschichte gewinnt große Bedeutung. Für diese
sind die Sitten und die Kultur Forschungsgegenstände. Gegen die
bis dahin dominierende Politik- und Verfassungsgeschichte setzen
sich die Mentalitätsgeschichte und historische Anthropologie durch
und fördern eine Entwicklung, die der marginalisierten Kulturgeschichte
größeres Gewicht gibt. Die Nach-Adenauer-Ära mit ihren durch Umbrüche
und von Reformen eingeleiteten gesellschaftlichen Wandlungen ist
überhaupt eine Zeit neuer Fragen an die Geschichte. Daher ist
Prechtls Projekt nicht zufällig. Im Arbeitstitel schlägt sich
dieser Wandel des Geschichtsverständnisses und die Neugewichtung
der Forschungsthemen nieder. So ungewöhnlich sein Projekt in der
bildenden Kunst damals war und wohl heute noch ist, so sehr passte
es ins damalige gesellschaftliche Klima. Andere bildende Künstler
begannen sich Mitte der 60er Jahre ebenfalls intensiv mit Geschichte
zu beschäftigen. Man denke hier nur an den österreichischen Bildhauer
Alfred Hrdlicka, der sich mit dem deutschen Faschismus auseinandersetzt,
Prechtl ist mit ihm bekannt und hat ihn gezeichnet, oder an Künstler
in der DDR, unter anderen Fritz Cremer, Willi Sitte und Werner
Tübke. Das dokumentarische Theater Peter Weiss' eroberte 1965
mit dem Stück Verfolgung und Ermordung des Jean-Paul Marat die
deutschen und internationalen Bühnen (in Prechtls Sittengeschichte
findet das Marat-Thema 1977 Eingang mit dem Blatt Der unglückselige
Tod des Jean-Paul Marat in Charlotte Cordays Badewanne). Das sind
nur einige wenige Beispiele von vielen. Die Beschäftigung mit
Geschichte gerade in den Künsten dieser Jahre ist verbreitet.
Auf die BRD bezogen spiegelt sich darin das Bedürfnis nach einer
gesellschaftlichen Neubestimmung, die ohne die kritische Aufarbeitung
der Vergangenheit nicht zu haben war. Hierhin einzuordnen ist
auch die Wiederentdeckung der gegenständlichen und realistischen
Kunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den 60er Jahren,
in Deutschland insbesondere die Neubewertung der Neuen Sachlichkeit
und ihrer veristischen Vertreter. Dass Künstler wie George Grosz,
Otto Dix und Max Beckmann, alles Maler, denen Prechtl große Bedeutung
beimisst, heute Klassiker der modernen Kunstgeschichte sind, dafür
wurde der Grundstein jedoch schon nach dem Zweiten Weltkrieg gelegt.
Prechtls künstlerisches Prinzip der gezeichneten und gemalten
"Montage", wie es in dem Schrecklichen Marinerichter und in vielen
anderen Bildern der Intimen Sitten- und Kulturgeschichte angewandt
ist, und sein Detailrealismus haben ihre Wurzeln, neben der alten
Kunst, bei George Grosz, Otto Dix, John Heartfield, Karl Hubbuch,
Georg Scholz und anderen. Auch die von Prechtl gepflegte Verbindung
von Zeichnung und Malerei in Form der Mischtechnik der Aquarellzeichnung
gelangte in den 20er Jahren zu einer erneuten Blüte in der Kunstgeschichte.
In Verbindung mit Elementen anderer, jedoch immer figurativer
Kunsttendenzen wie dem Surrealismus, und mit eigenen genuinen
Techniken wie dem Handraster entwickelte Prechtl einen unverwechselbaren
Stil, der der Intimen Sitten- und Kulturgeschichte ihren eigentümlichen
Reiz verleiht.
Für
sein Geschichtsbild spielte Prechtls eigene Biographie eine ebenso
wichtige Rolle wie der sogenannte Zeitgeist der 60er Jahre. Darauf
hat er selbst mehrfach in Gesprächen und Texten hingewiesen. Zu
bellezistischem und autoritärem Denken versuchten ihn seine Lehrer
im "Dritten Reich" zu erziehen. Er verbrachte seine Jugend unter
dem Diktat der nationalsozialistischen Weltanschauung, als Soldat
hieß man ihn, für sie im Krieg kämpfen. Als Gefangener der Sowjetunion
lernte er die Geschichtsauffassung des Kommunismus kennen. 1949
dann, nach seiner Rückkehr, lernte er Demokratie buchstabieren
und erlebte in den Nachkriegsjahren die Geschichtsverdrängung.
Diese Erfahrungen brachten Prechtl zu der Erkenntnis, er hätte
schon in jungen Jahren drei verschiedene, sich gegenseitig ausschließende
Geschichtsdeutungen erlernen müssen. Das war sein Beweggrund,
sich ein eigenes Bild von der Geschichte zu machen.
Sechs
Jahre nach der "Affäre Filbinger", 1984, entstand das Bild des
Schrecklichen Marinerichters. Diese zeitliche Verschiebung ist
ein Resultat der Arbeitsweise des Künstlers und der Bedeutung,
die die Intime Sitten- und Kulturgeschichte innerhalb seiner vielen
künstlerischen Projekte hat. Erscheint Prechtl ein Thema oder
Ereignis für seine Serie interessant, notiert er es sich mit einem
Titel auf einer Liste (siehe Seiten 132, 133). Dort wartet es
auf Bearbeitung. Irgendwann, wenn er Lust, vor allem aber Zeit
hat, macht er aus seiner Idee das Bild. Bei manchen der heute
vollendeten 75 Blätter verging zwischen Idee und Realisierung
nur wenig Zeit, das Blatt Die Polizei von Athen prügelt die Jünger
des Sokrates (1968) ist ein solcher Fall, bei anderen brauchte
es Jahre. Einige Male dauerte es sogar Jahrzehnte. Die Intime
Sitten- und Kulturgeschichte ist in der Werkstatt des Malers eher
ein Nebenprodukt, wenn auch ein feines, eine Art Steckenpferd,
wenn ein Künstler, der sein Hobby zum Beruf gemacht hat, so eines
überhaupt hat, das heißt die Arbeit an der Sitten- und Kulturgeschichte
ist eine, die hinter anderen, wichtigeren Aufträgen zurückstehen
musste und muss, bis für sie Zeit bleibt. Es erstaunt nicht, dass
die Serie bis heute nicht abgeschlossen ist.
Ein
weiterer Grund für die Endlosigkeit dieses Projekts mag aber auch
in seinem Konzept liegen. Die Geschichte kann immer wieder neu
befragt, das Bild der Zukunft stets neu entworfen werden. Materialknappheit
gibt es nicht. Neues wird entdeckt, kommt hinzu, harrt der Darstellung.
Und das Prinzip der Serie verlangt das nächste Bild. Das, was
der Künstler in einem Bild nicht sagen kann, verwirklicht er im
nächsten. Ein potentiell endloser Prozess, wie das Denken. Es
sei denn, es erwachte nie aus seinem dogmatischen Schlaf.
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