Das Glück des Unmöglichen
Bildbetrachtung zu M. M. Prechtls Utopisches Prinzip, 1985

von Kai Artinger

 

 

Wie sie da stehen! Selbstbewusst und unaufdringlich. In liebevoller Umarmung aneinander gekuschelt, zärtlich vereint, Schnauze an Schnauze. Einfach süß!

Und doch ein so unmögliches Paar. An diesem herzallerliebsten Anblick kann sich der moderne Mensch etwas aufrichten, der niedergedrückt ist von Selbstzerrissenheit und Widersprüchen, Ungleichheit und Ungerechtigkeit sowie vom endlosen Fluss der Nachrichten über Neid, Selbstsucht, Hass, Mord, Totschlag und vieles andere wenig Erbauliche mehr. Dieses tierische Paar macht das alles vergessen. Dass in der Geschichte der eine dem anderen immer ein Wolf war und heute noch ist. Es ist ein leuchtendes Beispiel für die Macht der Liebe, die das Animalische bezwingt und die rohen Instinkte in etwas Höheres, Fortentwickeltes, Fortschrittliches, in Kultur sublimiert. Die Grenzen der Natur werden überwunden durch ihre Steigerung ins Erhabene.

So stellt uns das Utopische Paar den gelungenen Zivilisationsprozess, den paradiesischen Zustand vor, in dem die Ungleichen gleich und die Andersartigen Brüder und Schwestern sind. Dieses rundum glückliche und zufriedene Paar ist das Beispiel für die ideale conditio humana: Niemand ist mehr bloßes Mittel, sondern Zweck des anderen. Der die Welt beherrschende Teufelskreis ist durchbrochen, die Evolution endlich an ihr Ende gekommen. Fressen muss Mann und Maus nicht mehr, und gefressen wird auch nicht mehr. Allüberall Harmonie und Idealität. Botschafter dieser Zukunftsvision sind die beiden. Schaf und Wolf. Bis in graue Vorzeit im Streit entzweit, waren sie die Stellvertreter eines unmöglichen Verhältnisses. Fabeln, Parabeln und Gleichnisse der vergangenen 1000 Jahre legen Zeugnis davon ab.

Bei Prechtl ist alles anders. Hier haben sie endlich zueinander gefunden, sind sogar unzertrennlich geworden. Sein Utopisches Paar ist die visuelle Parabel des Glücks des Unmöglichen. "Das utopische Prinzip wird erst wahr, wenn sich Wolf und Schaf in Liebe umarmen", sagte Prechtl.

Das Utopische Paar zierte als farbiger Schutzumschlag das 1986 von der Frankfurter Büchergilde Gutenberg herausgegebene Buch Utopia von Sir Thomas More, auf deutsch Morus genannt. Die von Prechtl mit 16 "zeitnahen Bildern" illustrierte Ausgabe des Buchs hatte bis 1991 vier Auflagen. Das Utopische Paar wurde zu dem populärsten und am häufigsten reproduzierten Motiv der Prechtlschen Bildwelt. Die Nürnberger Zeitung druckte es zur Jahreswende 1999/2000 gleich in Groß auf der Titelseite ihrer Sonderbeilage ab, unter der Überschrift "Krieg, Zerstörung und Hoffnung". Wie kein anderes war das 20. Jahrhundert beherrscht von Kriegen, Genozid, Vertreibung und Flüchtlingsströmen. Sie machen das vergangene Jahrhundert zum blutigsten und opferreichsten, seit der Mensch Geschichte aufzeichnet. Das Diktum vom Menschen als "Wolf" des Menschen bewies aufs neue seine Wahrheit, auch wenn der von Generation zu Generation überlieferte Spruch in einem Punkt nie stimmte: Wölfe rotten nicht ihre eigenen Artgenossen aus, das tut nur die Gattung Mensch. Richtig müsste es daher heißen, der Mensch ist dem Menschen ein Mensch. Die Aussage schließt all die Schrecken und das unvorstellbare Leid, die Menschen anderen Menschen bereiteten, ein.

Die Nürnberger Zeitung bildete das Utopische Paar als ironisches, nichtsdestotrotz ernst gemeintes Symbol der Hoffnung auf bessere Zeiten ab. Diese Sinnschicht erklärt möglicherweise die Beliebtheit des Motivs. Zwar ist der dargestellte Zustand wider die Natur und daher völlig unmöglich, insoweit folgt Prechtl einer pessimistischen Philosophie. Das kann der Mensch niemals erreichen, selbst wenn er es wollte. Doch das anthropomorphistische Wunschbild visualisiert mit seinem ganz und gar utopischen Verhältnis die denkbare Möglichkeit einer anders verfassten Welt. Die Freude, die das Bild macht, resultiert vielleicht aus der Erkenntnis, dass der Mensch die Fähigkeit hat, Gegebenes zu erkennen, es zu durchdringen, mit Wissen und Handeln zu übersteigen. Selbst wenn er das Unmögliche nicht möglich machen kann, erlebt er seine Phantasie als einen Augenblick des Glücks.

 

Aus:
Prechtls Welttheater,
Buch zur gleichnamigen Ausstellung,
erschienen
in der Edition Minerva, Wolfratshausen .
Der Katalog ist über den Museumsladen des Deutschen Historischen Museums zu beziehen und kann per email unter verkauf@dhm.de bestellt werden.
Mit freundlicher Genehmigung der Autoren und des Verlages.