Der "gottlose" Maler von Nürnberg
Michael Mathias Prechtl, die Kunst, die Literatur, der Hintersinn

von Hans Peter Willberg

 

 

Die Buchillustration spiegelt die Kunst ihrer Zeit. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war sie sogar ein gleichberechtigter Bestandteil der Künste: Im Jugendstil und den verwandten Strömungen waren Architektur und Malerei, Kunstgewerbe und Buchkunst gleichwertige und gleich geachtete Glieder eines "Gesamtkunstwerks". Auch das Buch in sich wurde als Gesamtkunstwerk aufgefasst und gestaltet. Zuvor, zur Zeit des Historismus, gab es zwar auch Illustratoren von epochaler Bedeutung, wie Adolf Menzel oder Gustav Doré, doch ihre großartigen Zeichnungen (die in xylographische Reproduktionen umgesetzt werden mussten) steckten in Büchern mit - aus heutiger Sicht - grauenvoller Typographie.

Dagegen waren die Künstler des Jugendstils angetreten: Originalgraphik, die Gestaltung des gesamten Buches aus einer Hand oder aus einem Geist, nicht historisierendes Nacherzählen, sondern Gestalten aus dem Geist der neuen Zeit, für den neuen Menschen. Aufbruchstimmung. Doch der Aufbruch war nicht von Dauer; eine Künstler-Generation nur, dann kamen Kommerzialisierung und Trivialisierung. Die vegetativen Pflanzengirlanden wurden zur sinnentleerten Dekoration wie zuvor die historisierenden Einfassungen. Der Ansatz der Jugendstil-Buchkunst, die Auffassung des Buches als Ganzheit, blieb jedoch virulent, bis heute. Die Entwicklung der Buchkunst teilt sich seither in zwei Stränge. Auf der einen Seite das Buch als Kunstwerk, bei dem alle Teile - Schrift, Illustration, Papier, Druck, Einband - mit höchstem Anspruch aufeinander bezogen gestaltet sind. Diesen Weg gingen die Pariser Künstler mit den "Malerbüchern" und die deutschen Buchkünstler mit den Pressendrucken. Auch die lebendige Bewegung der "Künstlerbücher" der Gegenwart, die von höchstem künstlerischem Anspruch bis zum selbstgebastelten Kunstgewerbe reicht, hat dort ihre Wurzeln. Gemeinsam ist ihnen allen der elitäre Anspruch: kleine Auflagen, hohe Preise.

Auch der andere Weg, den das illustrierte Buch im 20. Jahrhundert nahm, hat seinen Ansatz in den Bestrebungen des Jahrhundertbeginns. Das illustrierte Buch für jedermann, wohlfeil und in großen Auflagen, aber dennoch in allen Teilen bewusst als Ganzheit gestaltet. Die Entwicklung der Technik - Klischee statt Holzstich, die Lithographie, später der Offsetdruck - machte das möglich. Diese Entwicklung führte zu einer ersten Blüte der Buchillustration; Max Liebermann, Alfred Kubin, Josef Hegenbarth, um nur einige Namen stellvertretend zu nennen. Viele Verlage wetteiferten mit ihren schönen illustrierten Büchern.

Das war die hohe Zeit der deutschen Buchillustration, als die Maler Bücher illustrierten. Heute gibt es an Kunsthochschulen Klassen, die Berufs-Illustratoren ausbilden, die aber keine Chance haben, diesen Beruf je auszuüben.
Denn nach dem Krieg, in den 60er und 70er Jahren, versiegte dieser fruchtbare Strom. Nur noch wenige Verlagshäuser, vorab die Büchergilde Gutenberg, pflegten das illustrierte Buch. Die "normalen" Verlage scheuten und scheuen seither vor dem Verlegen von Illustrationen zurück; angeblich, weil das zu teuer sei und von den Lesern nicht honoriert würde. Der Markt gebe das nicht mehr her.

Ist die Verweigerung der Verleger der wahre Grund für die Krise der Buchillustration? "Die Illustration spiegelt die Kunst ihrer Zeit" wurde eingangs postuliert. Sie reagiere auf die Strömungen und Bewegungen der "großen Kunst". Und vor allem: Beide konnten bislang in der gleichen Weise rezipiert, "gelesen" werden. Das gilt für den impressionistischen Zeichnungs-Zauber eines Max Slevogt, die Holzschnitt-Kraft Frans Masareels, die Sozialkritik bei George Grosz, die verfeinerte Verselbstständigung der Linie und Struktur bei Imre Reiner. So lange die Kunst inhaltsbezogen, "erzählerisch" war, konnte die Buchillustration Schritt halten. Als die Themen der Kunst das Malen selbst, die Spannung, der Rhythmus von Linie, Fläche und Farbe wurde, war der Faden zur inhaltsbezogenen Buchillustration gerissen. Auch die auf die gesellschaftliche Situation bezogenen Kunstrichtungen wie die Pop-Art oder die Avantgarde unserer Tage konnten und können sich nicht im illustrierten Buch niederschlagen. Vielleicht im Künstlerbuch, nicht aber im auf die Literatur bezogenen Verlagsbuch.

Wohl wurde in dieser Zeit weiter illustriert, von Gunther Böhmer, Hans Fronius oder Georg Eisler zum Beispiel, und zwar in subjektiv gesehen hoher Qualität. Aber im Grunde war die Sprache ihrer Illustrationen Wiederholung und nicht Weiterentwicklung, ohne Verbindung zu den Kunstströmungen der Zeit. Die Krise der Buchillustration gründet nicht auf die Ignoranz der Verleger, sondern auf dem Verlust des gemeinsamen Bodens von Malerei und Illustration.

In der DDR war das anders, da blühte die Buchillustration bis zuletzt. Die Verleger wetteiferten mit schönen illustrierten Büchern, die Illustratoren hatten Aufträge, auch die etablierten Maler illustrierten, die Leute kauften illustrierte Bücher. Der Grund: In Ostdeutschland hatten Malerei und Illustration den gemeinsamen Boden behalten. Die Kunst in der DDR war den Weg der West-Kunst nicht mitgegangen - aus welchen Gründen auch immer. Die Malerei blieb themen- und inhaltsbezogen, sie war erzählerisch - was auch immer die Themen und die Stilformen sein mochten. Da konnten die Illustratoren mithalten, der Faden war nicht gerissen. Die Krise der Buchillustration hat die ostdeutschen Buchkünstler erst nach der Wende ereilt. In den letzten zehn Jahren wurden von deutschen Verlagen immer weniger illustrierte Bücher verlegt.

In dieser illustrationsfeindlichen Welt tritt Michael Mathias Prechtl an und malt Bilder zu literarischen Texten, unbeeindruckt von der angeblichen Krise der Illustration, unbekümmert um die vermeintliche Ferne zur Kunst der Zeit, unbeeinflusst von Kritikermeinungen. Seine Arbeiten werden verlegt, von den Leuten verstanden und gekauft. Prechtl wendet nicht die Mittel der Kunst seiner Zeit auf die Buchillustration an, er geht einen anderen, einen eigenständigen Weg; er malt (der Begriff "Illustration" passt nicht zu seiner Arbeit), was er als Leser und als Zeitgenosse erlebt und nicht, was ihn als Maler interessiert. Sein Ausgangspunkt ist der Text und was darin und dahinter steckt.

Warum illustrieren bildende Künstler literarische Texte? Weil ihnen beim Lesen Bilder vor die Augen treten, die sie - wie es ihr Metier ist - festhalten wollen. Dabei denken sie in der Regel nur an ihr eigenes Bild-Erlebnis und nicht an den Leser des Buches. Das Ergebnis ist meist, dass sie dem Leser das zeigen, was er schon gelesen hat oder gleich lesen wird. Textwiederholung durch Zeichnung. Doch was nützt es dem Leser, wenn er liest, dass Wildtöter das Kanu zum Fluss trägt und Max Slevogt ihm nochmals wunderschön vorzeichnet, dass Wildtöter das Kanu zum Fluss trägt. Manche Künstler, Emil Orlik zum Beispiel, vermeiden Szenen-Darstellungen und geben mehr oder weniger unverbindliche Hintergrund- und Stimmungsbilder - statt der dramatischen Geschehnisse auf der Dschunke wird das Boot in der Weite des Flusses gezeigt. Ist das textgerechte Illustration? Nur wenige Illustratoren deuten bewusst und sagen dem Leser, wie der Text zu verstehen sei: so und nicht anders. Dieter Masuhr etwa, der aus Hebels lustig-böser Kalendergeschichte, in der ein armer kleiner Jude sich im Sack versteckt und, als der Husar auf den Sack einschlägt "kling kling" ruft, damit der glaube, es sei Glas darin, eine Genickschuss-Exekution macht.

Für Prechtl wäre das zu direkt. Er deutet auch, aber mit Augenzwinkern. Er liebt die Anspielung, aber nicht die Festlegung. Er sagt nicht, wie man das lesen muss, sondern was einem alles beim Lesen einfallen kann und speziell, was ihm beim Lesen alles eingefallen ist. Die besten seiner Bilder sind vieldeutig, mit doppeltem Boden und ohne Assoziations- und Interpretationsgrenzen.

Bei Prechtl durchdringen sich seine Erlebnisse beim Lesen der Texte, die eigene Biographie, das politische und gesellschaftliche Engagement, die historische Verwurzelung, die künstlerische Umsetzung und die handwerkliche Ausführung, alles in der gleichen Intensität. Beispielhaft ist das an seinen Bildern zu Dantes Göttlicher Komödie zu zeigen. Die Blätter sind mit größter Könnerschaft und Sorgfalt durchgearbeitet, die anatomische Korrektheit bis ins Detail, die Oberflächenstrukturen, die Differenzierung der Ton-in-Ton-Nuancen, das ist meisterhaftes Handwerk. Die Stellung der Bilder auf der Buchseite, wie sie gewissermaßen aus dem Text der Nebenseite, aus dem Inneren des Buches herauswachsen und wie sie die typographische Basis des Satzspiegels aufnehmen, beweist die durchdachte Planung des Ganzen und nicht nur des Einzel-Bildes. Die Entscheidung, statt umfassender Szenarien Einzelschicksale darzustellen, zu fokussieren statt zu generalisieren und dabei nicht die Beobachter, Vergil, Beatrice und Dante zu zeigen, sondern mit deren Augen zu sehen, ist das Ergebnis einer intensiven intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Text. Das was die Augen sehen, das Grauen und Entsetzen, ist durchtränkt von dem, was sich dem jungen Menschen an Grauenvollem und Entsetzlichem im Gefangenenlager tief und unlöschbar eingeprägt hat. Doch nicht nur persönliches Erleben, sondern auch Miterleben als Zeitgenosse spielt hinein. So wie Dante seine Zeitgenossen in der Hölle und im Fegefeuer entdeckt, so entdeckt Prechtl zum Beispiel den Mussolini. Und dass Beatrice aussieht wie ein oberpfälzisches Bauernmädel, erklärt sich ebenfalls aus der Biographie (wenn da nicht noch engere Verbindungen bestehen).

Prechtl wählt die Themen, die Bücher zu denen er seine Bilder malt, selbst aus (mit ganz wenigen Ausnahmen). Es sind Werke der Weltliteratur. Er liest sie nicht nur, er durchforscht sie und alles, was dazu gehört ("Ich weiß jetzt alles über Füchse", sagt er bei der Arbeit an Goethes Reineke Fuchs), er durchgräbt und untergräbt ohne Ehrfurcht vor den großen Namen der Autoren und ohne Ehrfurcht vor sonst jemandem.

In der Utopia des Thomas More hat er den Jäger vom Fall gemalt. Das Textzitat lautet: "Die Utopier haben deshalb dieses ganze Geschäft des Jagens als eine Sache, die freier Männer unwürdig ist, an die Metzger verwiesen, deren Handwerk sie - wie bereits erwähnt - durch Sklaven abmachen lassen." Der Metzger-Jäger Prechtls, vor 1986 gemalt, mit seiner blutbefleckten Schürze und dem totgeschossenen Wild über der Schulter hat den Kopf des Franz Josef Strauß, weiland Bayerischer Ministerpräsident (der von seiner letzten Jagd, 1988, nicht lebend zurückgekommen ist). So etwas bringt Ärger mit der Obrigkeit und den Wächtern der guten Sitte. Prechtl scheut diesen Ärger nicht, vielleicht provoziert er ihn sogar. Es könnte vermutet werden, dass Prechtls sarkastische Kritik an den politischen und gesellschaftlichen Zu- und Umständen mit dem vehementen Angriff der in den 70er Jahren tonangebenden Studentenbewegung zu tun hat, die alles Bürgerliche verachtet und verdammt. Das kann nicht sein. Prechtls kritische Auseinandersetzung ist autonom. Die "68er" wollten einreißen, um dann aufzubauen und neu anzufangen. Auch die bürgerliche Ästhetik wurde entlarvt und verdammt. Prechtls Ästhetik hat mit Niederreißen nichts zutun, er steht unbeirrt in der Tradition der abendländischen Kunst, seine Gesellschaftskritik hat nichts zu tun mit der naiven Utopie, einen neuen, besseren Menschen schaffen zu können. Die Wurzel von Prechtls Unbotmäßigkeit sind tiefer und älter. Er steht den "gottlosen" Malern seiner Wahlheimat Nürnberg näher, den Brüdern Beham und dem Georg Pencz, die es wagten, in den Reformationswirren und im Bauernkrieg als Maler Position gegen die Obrigkeit zu beziehen, als der Zeitgeist-Revolution der 68er. Im Gegenteil, er stellt diese Leute mit seinem Bild Raphael is out bloß, in der ein Zeitgeist-Kunstkenner, seine Blöße verkrampft bedeckend, die erschrockene Madonna durchstreicht, die über dem Fettstuhl des Joseph Beuys an der Wand hängt.

Prechtl wird von der Kunstkritik gern angegriffen, weil er nicht im jeweils aktuellen "Stil" malt. Als ob es wichtig wäre, woher ein Maler seine Energie gewinnt, wenn er nur Energie ausstrahlt und überträgt. Der Versuch, Prechtls Werk ein- und zuzuordnen, führt nicht weit. Man erfährt mehr von ihm, wenn man seine Bilder studiert. Ein paar Beispiele für die Doppelbödigkeit der Bilder Prechtls, ausgewählt aus dem Leben des Benvenuto Cellini (das Buch ist 1994 in der Büchergilde Gutenberg erschienen, Prechtl hat vier Jahre daran gearbeitet).

Es klingt wie ein Kalauer: Das Medusenhaupt hat das Antlitz der Duse. Doch was wird daraus: Das maskenhaft starre Porträt wirkt suggestiver und bedrohlicher, subtil schrecklicher als es je eine antikisierende Schreckensmaske sein könnte.
"Hagelkörner, so groß wie Zitronen" heißt es im Text, Prechtl macht daraus einen surrealen Zitronen-Hagel (Saurer Hagelschlag ist sein Kommentar), aber er malt nicht irgendwelche Zitronen aus dem Naturkundebuch; das sind Zitronen-Individuen, reale Zitronen-Porträts, bis hin zum genau studierten Aufplatzen beim schmerzlichen Treffer. Aus ihrer geöffneten Seite tropft das Herzblut der Taube aufs Auge des wie tot unter dem Leichentuch Darniederliegenden; der starre Blick des glattgefiederten (heiligen?) Tieres und das blicklose, blutbefleckte Auge des schütterhaarigen Mannes, eine Situation, die zu mystischen Spekulationen anregen kann. Was ist der literarische Hintergrund? Dem Cellini ist ein Splitter ins Auge geraten, sein Arzt hat ihm zur Behandlung mit Taubenblut geraten. Prechtls Kommentar: Taubenblut tut Augen gut. Doch diese profane Deutung straft die mystischen Gefühle nicht Lügen.

Wie ist dieses Bild zu deuten? Die Friedenstaube ist totgeschossen, die Kirche, repräsentiert durch den Kardinal, ist vom Zwang zum Scheinfrieden erlöst und kann ihr wahres Gesicht mit dem bösen Blick zeigen. Oder ist es so: Der Heilige Geist ist niedergefahren, aber nicht, um den Kardinal zu erheben, sondern ihn schwer belastend. Jede Bedeutung ist richtig, auch wenn Cellini nichts weiter erzählt, als dass er seine Schützen-Meisterschaft durch einen Schuss auf die Taube beweist und dadurch Ärger mit dem Kardinal bekommt, der sich persönlich bedroht fühlt.

Aus Not muss päpstliches Gold eingeschmolzen werden. Und was wird daraus? Der geheiligte Osterhase des Joseph Beuys.
Doch nicht allein die erzählerische Intensität macht die Wirkung von Prechtls Bildern aus. Die Art, wie gearbeitet wird, ist - wie bei jeder künstlerischen Produktion - von gleichrangiger Bedeutung. Bei Bildern, die für den Auflagendruck bestimmt sind, gehört die Planung der technischen Reproduktion zum Planungs- und Verantwortungsbereich des Künstlers. So jedenfalls sieht es Prechtl, er hat die gesamte Verantwortung für das Gelingen des Werks. Prechtls Bilder zur Literatur sind selbstständige "Tafeln", die neben den Textseiten stehen. Das ist die Tradition des Kupferstichs, der - auf einem anderen Papier gedruckt als der Text - ins Buch eingebunden werden musste - im Gegensatz zum Holzschnitt, der sich in die Textseite fügen und zur Lithographie, die sich sogar über die Schrift legen kann. Prechtls Bilder der sieben großen Bücher sind ebenfalls auf anderem Papier gedruckt als der Text. Die Fremdkörper sind jedoch kunstvoll eingefügt, ihr Kunstdruckpapier, das die Wiedergabe jeder Feinheit erlaubt, ist in der Färbung dem matteren Textpapier angepasst. Das Format der Bücher ergibt sich aus dem Format der alten, manchmal jahrhundertealten Papiere, auf denen Prechtl am liebsten arbeitet, samt ihren Knick- und Altersspuren. Alle seine Arbeiten sind in den Büchern im Originalformat wiedergegeben. Vergrößert oder verkleinert wird in keinem Fall. Prechtls Technik ist differenziert und raffiniert. Sepiazeichnung, Aquarellfarben, Gouachefarben, Abdruckverfahren, auch der Abdruck der eigenen Hautstruktur auf den Hautflächen seiner Figuren (die Kollegen sagen: wie macht er das nur?). Nichts wird zugemalt, der Hintergrund des Papiers spricht immer mit. Alles, was Prechtl zeichnet, "stimmt". Es ist beobachtet und studiert, formal wie inhaltlich - die Kleidung, die Kopfbedeckungen, Schuhe oder Gürtelschnallen, die Krallen oder Federn der Tiere, die Flinten und die Orden. Doch nicht, damit der Leser sehen kann: So hat es damals ausgesehen, sondern weil Präzision eine Voraussetzung für Prechtls Arbeiten und Denken ist.

Zurück zu dem, was erzählt wird, wozu die ganze zeichnerische Mühe und Sorgfalt dient. Prechtl hat mit spürbarem Vergnügen Bilder zum Candide von Voltaire gemalt und mit ihnen die Geschichten in der einen oder anderen Schicht ins Heutige übersetzt. So zerren nicht Bulgaren und Avaren am jungen Candide, um ihn in das jeweilige Lager zu befördern, sondern am jungen Michael Mathias (in seiner preußischen Grenadier-Uniform mit der hohen Mütze, auf der "Gott mit uns" zu lesen ist) zerrt Stalin von der einen und Hitler von der anderen Seite. Mitterand und Maggie Thatcher, der Großkritiker mit dem Brett vorm Kopf und viele andere erscheinen, die bei Voltaire nicht vorkommen, aber sicherlich vorgekommen wären, hätte er, wie sein Candide, noch ein paar Generationen weitergelebt und -geschrieben.

Prechtl scheint den Autor des Candide besonders zu schätzen, er preist seinen Mut, in einer Zeit voller Vor-Urteile keiner Autorität zu vertrauen, nicht Fürsten und Kardinälen, nicht Philosophen und Künstlern, sich mit jedem anzulegen und auch seine Freunde nicht zu verschonen, seine Kenntnis der Geschichte und der Geschichten - im Überblick wie im Detail -, seine Kenntnis der Menschen und ihrer Schwächen, seine Fähigkeit, das Schlimmste so zu sagen, dass man noch lachen muss, seine Kunst, das scheinbar Geistreiche zu entlarven und das Armselige zu erhöhen, die Leichtigkeit seiner Formulierungskunst, die Treffsicherheit - ein Florett statt schweren Säbels, doch manchmal auch die Rute -, den Einfallsreichtum, die geistige Beweglichkeit und vor allem die innere Unabhängigkeit von den Moden seiner Zeit, die Unvoreingenommenheit und Unbestechlichkeit. - Und indem er den Voltaire dieserart charakterisiert hat Prechtl ein Selbstporträt entworfen. Die Rose, die Voltaire auf dem letzten Bild überreicht, kann nur dem Kollegen Michael Mathias Prechtl gelten.

Aus:
Prechtls Welttheater,
Buch zur gleichnamigen Ausstellung,
erschienen
in der Edition Minerva, Wolfratshausen .
Der Katalog ist über den Museumsladen des Deutschen Historischen Museums zu beziehen und kann per email unter verkauf@dhm.de bestellt werden.
Mit freundlicher Genehmigung der Autoren und des Verlages.