Kim Reynolds

Der Hof der Königin Victoria

Der Charakter eines jeden Hofs hängt einerseits von den politischen und kulturellen Umständen ab, unter denen er existiert, und andererseits von der Persönlichkeit und den Vorlieben des Monarchen, der ihm vorsteht: So wie der prachtvolle, stark durchstrukturierte Hof von Ludwig XIV. in Versailles ein einzigartiges Produkt der Ambitionen seines Königs und seines Zeitalters war, so spiegelt sich auch in Victorias Hof einerseits die persönliche Auslegung der Rolle der Monarchie durch die Königin und andererseits der Zustand des britischen Staates im 19. Jahrhundert wider. Im Verlauf ihrer Regierungszeit von fast 64 Jahren kam es in Großbritannien zu bedeutenden Umwälzungen, und der Charakter des Hofs veränderte und entwickelte sich parallel zum Leben der Monarchin.

Victorias Thronbesteigung am 20. Juni 1837 fand zu einem Zeitpunkt statt, als das Ansehen von Monarchie und Hof an einem in Jahrhunderten unerreichten Tiefpunkt angelangt war. Georg III. hatte zwar in England einiges geleistet, aber gleichzeitig die amerikanischen Kolonien verloren, und in den letzten zehn Jahren seiner Regierungszeit litt er an einer Krankheit, die deutliche Züge von geistiger Umnachtung trug. Sein ältester Sohn, der Prinzregent und spätere Georg IV., war als Spieler und Frauenheld verrufen und hatte die politischen Hoffnungen seiner Jugendfreunde enttäuscht. William IV., der nie gehofft hatte, König zu werden, war ein Seemann, der über ein Jahrzehnt mit einer Schauspielerin zusammenlebte und eine ganze Reihe unehelicher Kinder zeugte. Von 1810, dem Jahr, als Georg III. seiner Krankheit anheimfiel, bis zum Regierungsantritt der 18jährigen Victoria 1837 war der britische Hof von den Fehlschlägen und Schwächen seiner Monarchen gezeichnet. Der Verrat, den Georg IV. nach seiner Thronbesteigung an den liberalen Jugendfreunden aus der Whig-Partei begangen hatte, machte deutlich, daß der Hof kein verläßliches Sprungbrett zur politischen Macht mehr war, während die offenkundige Sittenlosigkeit eines von den königlichen Mätressen beherrschten Hofes und der Schlendrian des alternden Königs die Ursachen dafür waren, daß auch die andere traditionelle Rolle des Hofes nicht mehr ausgefüllt werden konnte, nämlich als strahlendes gesellschaftliches Zentrum der britischen Aristokratie und ihrer europäischen Gäste zu fungieren.