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Dargestellt ist eine für die Phase des Stellungskrieges im Ersten Weltkrieg typische Schützengrabenlandschaft. Aus dem mit Holz befestigten und mit Stacheldraht gesicherten Graben sieht der Betrachter über die Sohle ins Niemandsland, hinüber zu den feindlichen Stellungen. Darüber erstreckt sich ein hoher Himmel, der zwei Drittel des Bildes ausmacht.

In der bildlichen und schriftlichen Überlieferung des "Großen Krieges" spielt das Himmelsmotiv eine herausragende Rolle als vielschichtige Metapher für Freiheit und Leiden. In der Gedächtnismalerei aller im Krieg involvierten Nationen ist der Himmel oft symbolisch aufgeladen. Radziwill macht hier keine Ausnahme, auch er trägt seinem Kriegserlebnis Rechnung.

Bei aller Detailtreue in der Schilderung der örtlichen Verhältnisse zeigt er aber nicht den Blick aus dem Schützengraben, wie er sich den Soldaten tatsächlich dargeboten hatte. Denn der Betrachter blickt nicht durch die Schutz bietenden Holzverschalungen. In der Komposition ist der Betrachterstandpunkt höher angelegt. Somit schauen wir von einer erhöhten, militärisch ungeschützten Position ins Niemandsland.

Sowohl die untere wie die obere Bildzone sind voller symbolischer Anspielungen. Auf der Sohle des Grabens, am Fuße eines verwitterten Holzpfahls des Stacheldrahtverhaus, liegt ein durchschossener deutscher Stahlhelm.

Während die Vegetation des Schlachtfeldes überall ausgelöscht, "tot" ist, blühen vor dem Stahlhelm einige rote Blumen. Vielleicht handelt es sich um Bartnelken. Die kleinen roten Blüten erinnern entfernt an den in Flandern und Nordfrankreich weit verbreiteten Klatschmohn. Sowohl die untere wie die obere Bildzone sind voller symbolischer Anspielungen.
Im Großbritannien der Nachkriegszeit wurden die rotblühenden Mohnpflanzen unter dem Namen "Poppies" zum Symbol des Weltkrieges. Die jedes Kriegsjahr aufs neue wachsende Blütenpracht in Nordfrankreich und Flandern hatte besonders starken Eindruck auf die Soldaten gemacht, die sie angesichts ihrer von Zerstörung und Tod bestimmten Umwelt als widersinnig und paradox empfanden.

Ausschnitt, Franz Radziwill: Grab im Niemandsland; 1934, Öl/Leinwand/Holz, (Belin, Deutsches Historisches Museum)

Auf den Pfahl genagelt, hängt ein kleines Zettelchen mit den Worten "Für das Vaterland". Dieses Ensemble bezeichnet das Grab des unbekannten deutschen Soldaten im Niemandsland. Nicht weit davon entfernt läuft links im Vordergrund eine Ratte.

Über dem Niemandsland als der dunkelsten Zone erhebt sich der merkwürdig aufgerissene, gelb-graue Himmel. Die Lichtverhältnisse sind unwirklich. Die vordersten Holzpfähle leuchten eigentümlich hell aus der dunklen Zone heraus und schaffen so eine Verbindung zwischen dem Todesstreifen und dem Himmel. Wie eine "Apotheose" erhebt sich der Pfahl am Grab in diese Bildzone.

Es ist kein bestimmtes Grab gemeint. Genaugenommen wird überhaupt keine richtige, sondern eine improvisierte Grabstelle gezeigt. Die Lage des Stahlhelms und das Blatt Papier am Pfahl deuten nur an. Allein durch die Kenntnis des Bildtitels ist der Betrachter in der Lage, das Ensemble als Grab zu interpretieren. Willkürlich gewählt scheint die Position des Helms und Pfahls jedoch nicht zu sein, denn die Lichtregie hebt sie besonders hervor.

Ausschnitt, Franz Radziwill: Grab im Niemandsland; 1934, Öl/Leinwand/Holz, (Belin, Deutsches Historisches Museum)

Es ist kaum vorstellbar, daß das deutsche Heer einen gefallenen Kameraden unmittelbar vor dem Schützengraben bestattet hätte. Aus dem Niemandsland wurden die Verwundeten und Gefallenen in der Regel geborgen und im Hinterland begraben, soweit das die Gefechtssituation erlaubte. Zwar kam es nicht selten vor, daß Gräber infolge der Verschiebung der Gefechtszone und von Gebietsverlusten plötzlich an einen Schützengraben angrenzten, doch diesen Zustand fängt Radziwills Gemälde nicht ein.

Otto Dix, mit dem Franz Radziwill eng befreundet war, hielt eine solche Situation in einer frühen Zeichnung auf einer Feldpostkarte von 1916 fest. Sie trägt den bezeichnenden Titel "Schlechtes Grab".