Dezember 1945: Die erste »Friedensweihnacht« wird gefeiert. In allen Zonen Deutschlands versuchten Hilfsorganisationen, zumindest für die Kinder ein Weihnachtsfest mit Geschenken zu schaffen. Kirchliche und karitative Einrichtungen sorgten durch Spenden für dringend benötigte Kleidung und besonders Schuhe. In der sowjetischen Zone machte vor allem die »Volkssolidarität« mit Sammelaufrufen auf die trostlose Lage der Kinder, Flüchtlinge und Vertriebenen zu Weihnachten aufmerksam. Diese im Oktober 1945 von der KPD aus verschiedenen SolidaritätsAktionen (wie »Rettet das Kind«, Brandenburg; »Volkssolidarität gegen Winternot«, Sachsen; »Heim und Arbeit«, Mecklenburg) heraus gebildete Massenorganisation wollte mit dem »Volksweihnachten 1945« wenigstens ihnen eine bescheidene Weihnachtsfreude bereiten. Der Berliner Magistrat hatte mit seiner Aktion »Rettet die Kinder« zu Spenden aufgerufen. Sonderzuteilungen von Mehl, Zucker und Tannenbäumen sollten dazu beitragen, nach fünf Kriegsjahren eine friedliche, weihnachtliche Stimmung aufkommen zu lassen. Sogar der Weihnachtsmarkt im Lustgarten fand wieder statt, wenn auch in sehr beschränktem Umfang.
Im Verlauf der fünfziger Jahre drifteten Ost- und Westdeutschland immer stärker auseinander: Das Jahr 1955 marVierte für beide deutsche Staaten einen bedeutenden Einschnitt; die Pariser Verträge sicherten der Bundesrepublik eine bedingte Souveränität, gleichzeitig wurde der Eintritt in die NATO vollzogen. Die DDR gehörte im selben Jahr zu den Mitbegründern des Warschauer Paktes und hatte dank dem Staatsvertrag mit der Sowjetunion ebenfalls staatliche Selbständigkeit erlangt. Somit war die Blockbildung verfestigt, die Wiedervereinigung in weite Ferne gerückt.
Das Weihnachtsfest in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre wurde zunehmend durch den wachsenden Wohistand geprägt: Allein 70.000 Fernseher konnten im Dezember 1955 verkauft werden, Parfum und Schmuck folgten auf der Geschenkeliste. Hochwertige und teure Spielsachen waren bei den Eltern gefragt: Der Umsatz der Spielwaren- und Christbaumschmuck-lndustrie lag in diesem Jahr bei 272 Millionen DM.' Die Kirchen in Deutschland mahnten, über der materiellen Zufriedenheit nicht den christlichen Charakter des Weihnachtsfestes zu vernachlässigen: »Wie ist es heute mit der Weihnachtsbotschaft? Wird sie noch ernstgenommen? Doch! Denn wir haben ja Weihnachtsgratifikationen, ein ausgezeichnetes Weihnachtsgeschäft, Weihnachtswerbung in herrlichen Schaufenstern! Doch wie ist es damit: Weihnachten feiern, Weihnachten erleben, Weihnachten im Leben verwirklichen?«2 Und der Köiner Erzbischof Kardinal Frings forderte die Bundesbürger in seiner Weihnachtsbotschaft zu Genügsamkeit und Selbstbescheidung auf: »LaDt ab von dem hektischen Streben nach Erhöhung des Lebensstandards! Lernt es wieder, zufrieden zu sein, auch wenn andere mehr haben als wir.«3 Tatsächlich waren Weihnachtsgottesdienste und Christmetten 1955 überfüllt wie nie zuvor. Das Bedürfnis nach Ruhe, Frieden und Besinn~ichkeit im hektischen Alltag, die »Sehnsucht nach innerem Gleichgewicht« nannten Geistliche als Gründe für den verstärkten Zustrom. Dennoch wollten sie nicht von einer kirchlichen Neubesinnung sprechen: »Wenn auch die Kirchen im allgemeinen voller sind als früher, so nimmt doch der Heilige Abend offenkundig eine Sonderstellung ein. Vorsichtigerweise wird man deshalb urteilen müssen, daß wohl nicht so sehr der Sinn für die Kirche und das Verlangen nach der christlichen Verkündigung die entscheidende Rolle spielt, sondern eher das Bedürfnis nach einer schönen Feier der Heiligen Nacht.«4 Der Kirchgang entsprach der familiären Tradition: Er gehörte einfach dazu.
Diese Einschätzung unterstreicht eine im »Spiegel« veröffentlichte Umfrage: Das Wichtigste am Weihnachtsfest 1955 war für 49 Prozent der Bundesbürger »Freude bereiten, schenken, Weihnachtsstimmung, Familienfeier und Kinderglück«, 30 Prozent nannten die christliche Botschaft und den Kirchgang. Zwei Jahre später waren nur noch 21 Prozent dieser Meinung. Immerhin 32 Prozent der Befragten (gegenüber 21 Prozent im Jahr 1955) schätzten dagegen ihr persönliches Wohlbehagengutes Essen und Trinken, Zufriedenheit und Gesundheithöher ein.5 Gleichzeitig bemühten sie sich, ihren Wohlstand zu teilen: durch Päckchensendungen in die DDR und nach West-Berlin - allein 1955 über 3 Millionen6 - und durch großzügige Spenden für Hilfsprojekte gegen Hunger und Not nicht nur in Deutschland, sondern in aller Welt.7
Auch in der DDR stand das Weihnachtsfest im Zeichen des Schenkens, selbst wenn noch zehn Jahre nach Kriegsende Konsumgüter teilweise nur über Bezugsscheine erhältlich waren. In der Vorweihnachtszeit berichteten Zeitungen und Zeitschriften von hohen Umsätzen der Geschäfte und Kaufhäuser, die wegen des großen Andrangs sogar sonntags geöffnet waren. Die Konsumgenossenschaften und die HO warben auf Plakaten mit vollen Warenkörben; überall wurde betont, daß die DDR-Bürger dank der sozialistischen Aufbauarbeit gut versorgt seien. Dennoch waren in vielen Familien Pakete aus dem Westen hochwillkommen: Sie enthielten meist Kaffee, Schokolade oder Seife (Abb. 1-5). Doch auch von 0st nach West wurden Pakete geschickt; vor allem kunstgewerbliche Erzeugnisse wie Christbaumschmuck und Kerzen kamen aus der DDR.
Gleichzeitig wurde das Weihnachtsfest in den fünfziger Jahren immer stärker als »Friedensfest« postuliert (Abb. 6). Die kommunistischen Machthaber wollten die christliche Botschaft vom »Frieden auf Erden« durch einen Friedensgedanken ersetzen, der nur im Sozialismus verwirklicht werden könne; er wurde »zum Mittelpunkt des Weihnachtsfestes und zur politischen Botschaft...«8 Die »Tägliche Rundschau« erläuterte diese Botschaft 1952: »Fest des Friedens, dieses Wort führen die Menschen in der Deutschen Demokratischen Republik nicht nur im Munde, sie handeln auch danach. Mehr als je gedenken sie in diesen weihnachtlichen Tagen derjenigen, die in aller Welt für den Frieden kämpfen und leiden ... Sie sorgen für die westdeutschen Friedenskämpfer in den Gefängnissen und Zuchthäusern Adenauers. Nicht einen Augenblick vergessen sie, wie sehr sie es gerade ihnen allen zu verdanken haben, daß auch in diesem Jahre in der Deutschen Demokratischen Republik eine Friedensweihnacht gefeiert wird. Dieses Bewußtsein ist es, das jeder Weihnachtsfeier in der Deutschen Demokratischen Republik ... einen besonderen Ausdruck verleiht. Das ist das Neue in der Art, Weihnachten zu feiern.«9
Ein besonders krasser Versuch der Umdeutung des Weihnachtsfestes war das Bemühen, in den fünfziger Jahren das sowjetische »Jolkafest« einzuführen: Auf dem Weihnachtsmarkt, in Kindergärten und Schulen präsentierte sich statt des Weihnachtsmannes »Väterchen Frost«, der mit Lichtern geschmückte Baum sollte nun »Jolkatanne«'° heißen: »Zur gleichen Zeit (1956) nämlich wurde unseren Kindern ... eingeredet, daß das Christkind und der Weihnachtsmann ... nur Märchengestalten wären. Das Weihnachtsfest mit allem drumherum wäre altmodisch und vielleicht nur noch etwas für die Dummen. Das Fest aber, welches stattdessen in der Sowjetunion gefeiert wird, nämlich das >Jolkafest<, bei dem Väterchen Frost schöne Geschenke bringt, wäre viel schöner. Wir, die Eltern, haben uns vehement dagegen gewehrt. Es war meines Erachtens unübersehbar, daß das Weihnachtsfest mit seiner Glaubensbot schaft, mit seiner langen Kultur und Tradition stetig, aber langsam und kaum merkbar zurück gedrängt werden sollte.«"
Die ideologische Indienstnahme des Weihnachtsfestes im Alltag scheiterte: Weihnachten blieb in 0st wie West in erster Linie ein Familienfest, das in traditioneller Weise mit gutem Essen, Geschenken unter dem Weihnachtsbaum und einem Gottesdienstbesuch gefeiert wurde.
Anders sah es auf der politischen Ebene aus: Hier war Weihnachten ein weiterer Anlaß für Agitation und ein Mittel, den Gegner zu diffamieren. Die 1958 in der DDR erschienene Broschüre »Weihnachtsgeschenke« ist solch ein Instrument des Kalten Krieges: Sie berichtet über wirtschaftliche Mißstände in der Bundesrepublik und hebt dagegen die Fortschritte bei der Versorgung der DDR-Bevölkerung hervor. Entsprechend dem weihnachtlichen Thema steht der Frieden im Mittelpunkt der Schrift: Ihm drohe Gefahr durch Bundeswehr und NATO. Westdeutschland wird als Kriegstreiber bezeichnet, in dem alte Nazis herrschen, die die DDR erobern wollen. Die größte Gefahr gehe von den amerikanischen Atomwaffen auf westdeutschem Boden aus: »Weihnachten bringt auch Ihnen Stunden der Besinnung. Denken Sie daran, welch große Gefahr die Atombombenbewaffnung der Bundeswehr bedeutet! ... Es ist hohe Zeit, daß die friedliebenden Bürger die Verständigung Westdeutschlands mit dem ersten friedliebenden deutschen Staat, der DDR, in ihre eigenen Hände nehmen.«12
So bot der Begriff »Friedensweihnacht« der DDR immer wieder Gelegenheit, sich als »besseren«, weil friedliebenden deutschen Staat darzustellen und in aufwendiger propagandistischer Weise einerseits gegen die Bundesrepublik zu polemisieren, andererseits die eigene Bevölkerung mit Erfolgsmeldungen vom richtigen Weg der DDR zu überzeugen.
1961 war das Jahr der politischen Krisen und militärischen Auseinandersetzungen, wie der Kuba-Krise, des Putsches in Algerien, der Invasion Goas und des Berliner Mauerbaus im August. Damit erreichte das deutsch-deutsche Verhältnis seinen Tiefpunkt.
Weihnachten 1961 stand ganz im Zeichen der Mauer: der »Schandmauer« bzw. des »antifaschistischen Schutzwalls«. Als das Fest näherrückte, erhielt der Berliner Senat von den Alliierten die Ermächtigung, mit Ost-Berliner Behörden Kontakt aufzunehmen. Dabei sollte - über Vermittlung des Roten Kreuzes - die Einrichtung von Passierscheinstellen erörtert werden, damit wenigstens zu Weihnachten Familienmitglieder einander besuchen könnten. Der Versuch scheiterte: Der Westen beklagte die »Unmenschlichkeit des Ulbricht-Regimes«13, im Osten wurde der »demagogische Mißbrauch des Roten Kreuzes«14 angeprangert.
Das »Kuratorium Unteilbares Deutschland« veranstaltete zu Weihnachten 1961 die Aktion »Licht an der Mauer«, bei der mehrere hundert mit Lichterketten geschmückte Weihnachtsbäume entiang der Berliner Sektorengrenze aufgestellt wurden. Die Bäume waren von verschiedenen westdeutschen Städten und Gemeinden gespendet worden. Ein neunjähriges Flüchtlingskind, dessen Mutter bei der Flucht verhaftet worden war, schaltete am 17. Dezember um 1740 Uhr während einer Feierstunde die Lichterketten ein. »Es sind etwa 50.000 Kerzen, die, sobald die Dunkelheit hereinbricht, an Ulbrichts KZ-Mauer aufleuchten. Trotz hoher Sichtblenden und übereinandergetürmter Betonwände können es die KZ-Wächter nicht verhindern, daß die Ostberliner den Lichterglanz entiang >ihrer Staatsgrenze< sehen. Und selbst die gröSten Scharfmacher unter Ulbrichts >Arbeiter- und Bauern-Soldaten< steckten verschämt die Köpfe weg, als Westberliner am Sonntagabend an der Mauer entianggingen«, berichtet das »Spandauer Volksblatt« vom Beginn des spektakulären Ereignisses, das in der übrigen West-Berliner Presse ebenfalls ein breites Echo fand15(Abb. 7).
An der Aktion nahmen auch Berlins Regierender Bürgermeister Willy Brandt, der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Ernst Lemmer, und der geschäftsführende Vorsitzende des Kuratoriums Unteilbares Deutschland, Dr. Wolfgang Schütz, teil. Dieser forderte Berliner und Westdeutsche auf, Heiligabend Kerzen in die Fenster zu stellen, »um die Verbundenheit mit den Landsleuten in Ost-Berlin und der Sowjetzone zu dokumentieren«16.
Die Reaktion der Ost-Berliner Seite auf den weihnachtlichen Lichterglanz war heftig: »Vopos« bewarfen an mehreren Stellen die Bäume mit Steinen und ließen Lautsprecherwagen auffahren, die Propaganda sendeten.17 Das »Neue Deutschland« interpretierte die Aktion »Licht an der Mauer« vor allem als Provokation: »Hinter alidem stecken die bankrotten Bürgerkriegspläne, der schamiose Versuch, im Dunkel der Weihnachtsnächte den Frieden zu brechen und die am 13. August durchkreuzte Aggression gegen die DDR erneut in Szene zu setzen.«18
Einen Tag vor Weihnachten sendete das WestBerliner »Studio am Stacheldraht«..eine kurze Rede Willy Brandts. Darin forderte er: »Die Friedensbotschaft dieser Tage sollte keiner übersehen, der Waffen tragen muß.«19 Auch das Ministerium für gesamtdeutsche Fragen bat darum, nicht auf Flüchtende zu schießen.20 Gleichzeitig feierte die DDR-Presse die »Grenzsoldaten«, die »jetzt und an den kommenden Weihnachtstagen an der Staatsgrenze der DDR auf Wacht für den Frieden stehen«21, und berichtete von Weihnachtsfeiern, die die Verbundenheit der Bevölkerung mit den Grenzern beweisen sollten. Wieder einmal waren die Rollen verteilt: hier Friedensliebe, Demokratie und Sozialismus, dort Militarismus und Imperialismus, Reaktion und Kriegshetze.
Die Leidtragenden waren viele Berliner Familien, die das Weihnachtsfest getrennt feiern mußten. Gleichsam als Ersatz erscheint die Flut von Paketen und Päckchen, die sich wieder von West nach 0st ergoß: Rund 250.000 täglich waren es im Dezember 1961.22
Erst zwei Jahre später war es dann soweit: Das erste Passierscheinabkommen im Dezember 1963 ermöglichte es West-Berlinern, Weihnachten den Ostteil der Stadt zu besuchen. Etwa eine Million Passierscheine wurden damals ausgestellt.
Anmerkungen:
1 »Die Welt« vom 19. 12. 1955.
2 »Die Welt« vom 17 12. 1955.
3 »Die Welt« vom 27 12. 1955.
4 »Die Welt« vom 28. 12. 1955.
5 »Der Spiegel«, Nr 1, 1958, 5.16.
6 »Die Welt« vom 17 12. 1955.
7 1959 spendeten deutsche Katholiken 32 Millionen DM zur Unterstützung karitativer Organisationen. »Die Welt« vom 18. 12. 1959.
8 Christa Lorenz, Der Berliner Weihnachtsmarkt, Berlin 1987, 5.157
9 »Tägliche Rundschau« vom 25. 12. 1952.
10 Wie Anm. 8.
11 Helene Freifrau Ebner von Eschenbach, Der Lauscha-Schrank. Eine verpackte Geschichte, in: Christbaumschmuck. Aus den Sammlungen des Museums fur Volkskunde, Katalog der Ausstellung, Berlin 1992, 5.16 f.
12Weihnachtsgeschenke, hg. vom AusschuB für Deutsche Einheit, Berlin 1958.
13 »Der Tagesspiegel« vom 16. 12. 1961.
14 »Neues Deutschland« vom 23.12.1961.
15 »Spandauer Volksblatt« vom 19. 12. 1961.
16 »Der Tagesspiegel« vom 19. 12. 1961.
17 »Der Tag«, Nr. 24, 20. 12. 1961.
18 »Neues Deutschland« vom 23.12.1961.
19 »Spandauer Volksblatt« vom 24. 12. 1961.
20 »Spandauer Volksblatt« vom 17 12. 1961.
21 »Neues Deutschland« vom 19.12.1961.
22 »Spandauer Volksblatt« vom 17 12. 1961.