DHM-Blog | Deutsches Historisches Museum http://www.dhm.de/blog Wed, 13 Mar 2024 16:16:30 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.4.3 Aus Naturmaterialien Geld machen – Porzellan-Notgeld /blog/2024/03/13/aus-naturmaterialien-geld-machen-porzellan-notgeld-aus-sachsen/ /blog/2024/03/13/aus-naturmaterialien-geld-machen-porzellan-notgeld-aus-sachsen/#respond Wed, 13 Mar 2024 09:11:43 +0000 /blog/?p=8449 Aus Naturmaterialien Geld machen - Porzellan-Notgeld aus Sachsen Ein Blick in die Sammlungen des Deutschen Historischen Museums zeigt die große Vielfalt an Objekten, die im Bezug zu verschiedenen Epochen und Themen deutscher Geschichte stehen. Sie erzählen Geschichten von zurückliegenden oder aktuellen Lebenswelten, von berühmten und eher unbekannten Personen und Ereignissen. In unserer neuen Blogserie #Umweltsammeln stellen wir die Vielfalt unserer Sammlungsobjekte zum Themenfeld „Umwelt“ vor. Dabei eröffnen überraschende Fragestellungen der Sammlungsleiter*innen neue Perspektiven auf historische Objekte und oftmals erstaunliche Parallelen zu heutigen Fragestellungen. Naturmaterialien wie Ton wurden in Krisenzeiten nicht nur für die üblichen Zwecke, also z.B. zur Herstellung von Gefäßen genutzt, sondern mit Erfindungsreichtum auch auf andere Weise verwandt. Zeugnisse dieser anderen Art der Verwendung befinden sich in der Finanz- und wirtschaftsgeschichtlichen Sammlung des Museums, wie die Sammlungsleiterin Dr. Lili Reyels berichtet. ]]> Aus Naturmaterialien Geld machen – Porzellan-Notgeld

Lili Reyels | 13. März 2024

Ein Blick in die Sammlungen des Deutschen Historischen Museums zeigt die große Vielfalt an Objekten, die im Bezug zu verschiedenen Epochen und Themen deutscher Geschichte stehen. Sie erzählen Geschichten von zurückliegenden oder aktuellen Lebenswelten, von berühmten und eher unbekannten Personen und Ereignissen. In unserer neuen Blogserie #Umweltsammeln stellen wir die Vielfalt unserer Sammlungsobjekte zum Themenfeld „Umwelt“ vor. Dabei eröffnen überraschende Fragestellungen der Sammlungsleiter*innen neue Perspektiven auf historische Objekte und oftmals erstaunliche Parallelen zu heutigen Fragestellungen.

Naturmaterialien wie Ton wurden in Krisenzeiten nicht nur für die üblichen Zwecke, also z.B. zur Herstellung von Gefäßen genutzt, sondern mit Erfindungsreichtum auch auf andere Weise verwandt. Zeugnisse dieser anderen Art der Verwendung befinden sich in der Finanz- und wirtschaftsgeschichtlichen Sammlung des Museums, wie die Sammlungsleiterin Dr. Lili Reyels berichtet.

Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges kam es zu einer Knappheit an Bargeld, weil die Bevölkerung das edelmetallhaltige Kleingeld hortete. Durch die steigende Inflation hatte das Geld seinen Wert verloren, bald war das Silber in einem Markstück mehr wert als die Mark, zu der es geprägt war. Die Reichsbank setzte deshalb ab August 1914 Darlehnskassenscheine und Münzen aus Zink und Eisen in den Umlauf, dennoch ging den Deutschen das Kleingeld aus. Selbst die Auszahlung der Löhne geriet in Gefahr. Der Reichsfinanzminister genehmigte schließlich Ende 1916 die Herstellung lokaler Zahlungsmittel durch Kommunen und größere Betriebe. Gegen Ende des Krieges stieg der Bedarf an Kleingeld noch einmal sprunghaft an. Metalle wie Kupfer oder Nickel wurden für die Rüstungsindustrie gebraucht. So kam die Idee auf, nicht nur aus Papier, sondern sogar aus dem Naturmaterial Ton Notgeld herzustellen.

Als historische Anknüpfungspunkte dienten unter anderem die zahlreichen Medaillen aus Porzellan, die auf dem Vorbild der Medaille aus Metall fußten. Die Idee wurde 1917 erstmals umgesetzt: Es entstand die erste keramische Kleingeldersatzmarke in Deutschland zu 10 Pfennig von der Porzellanfabrik Philipp Rosenthal & Co. in Selb (Nordbayern).

Ihr folgte unter anderem die Porzellanfabrik Pfeffer in der Stadt Gotha, die aus dem sogenannten Pfeffer-Porzellan städtisches Notgeld herstellte. Material und Prägetechnik waren dazu jedoch ungeeignet, die Produktion wurde schließlich eingestellt. Die Stadt Gotha ließ an ihrer Stelle 1921 in der Staatlichen Porzellan-Manufaktur Meißen neue Münzen herstellen. Die Gothaer „Quarzmünze“ im Wert von 50 Pfennig befindet sich in der Sammlung des Deutschen Historischen Museums.

Porzellan-Notmünze (Quarz) der Stadt Gotha im Wert von 50 Pfennig, Gotha 1920, Porzellan, gegossen

Von den in der Folge entwickelten verschiedenen Münzen aus Feinsteinzeug und Biskuitporzellan erlangte das Notgeld aus Meißen besonders große Bekanntheit. Aus Sachsen wurden für viele Städte und Gemeinden in Deutschland Notgeldmünzen aus „Böttgersteinzeug“ geprägt. Der Münzgraveur und Medailleur an der sächsischen Staatsmünze in Muldenhütten Friedrich Wilhelm Hörnlein schnitt die Stahlstempel zur Münzherstellung nach Entwürfen, die vor allem Emil Paul Börner, Bildhauer und Maler aus Meißen, kreiert hatte.

Steinzeug ist eine gebrannte keramische Masse. Damit der Scherben Steinzeugqualität bekommt, muss die keramische Masse in der Regel bei Temperaturen zwischen 1.200 °C und 1.300 °C gebrannt werden. Sachsen steht besonders in der Tradition der Porzellan- und Steinzeugherstellung und knüpft damit quasi bei der Notgeldherstellung an: 1706 war das „Böttger-Steinzeug“ durch Johann Friedrich Böttger, einem Apotheker und früheren Alchimisten, und Ehrenfried Walther von Tschirnhaus, einem Naturforscher und Leiter der sächsischen kurfürstlichen Laboratorien, entwickelt worden. Bei dem Feinsteinzeug handelte es sich um „rothes Porcelain“ – das höfische Böttgersteinzeug wurde einige wenige Jahre produziert und verwendete eine Mischung aus Rohstoffen aus der Umgebung Dresdens wie Ton, roter Bolus und Eisenoxid. August der Starke hatte durch ein Dekret bestimmt, das alles aus heimischen Rohstoffen zu sein hatte – ein frühes Beispiel von Nachhaltigkeit und Regionalität.

Auch das Porzellan-Notgeld des frühen 20. Jahrhunderts aus Meißen wurde laut Verordnung des Sächsischen Finanzministeriums aus dieser ursprünglichen Zusammensetzung des frühen 18. Jahrhunderts hergestellt. Das Material bot viele Vorteile für den Umlauf als Währung: Es war gegen Wasser unempfindlich und wurde nicht schnell schmutzig, außerdem besaß es eine hohe Bruchfestigkeit. Durch die leichte, schüsselartige Vertiefung in der Mitte der Münzen befand sich der Hauptteil der Masse am Rand und stabilisierte sie; gleichwertige Münzen konnten so aufeinandergelegt und in Rollen für den Transport verpackt werden.

1919 hatte die Staatliche Porzellanmanufaktur Meißen in Sachsen begonnen, die Probemodelle der Münzen zu entwerfen, zu prägen und in separaten Brennöfen zu brennen. Der Direktor der Manufaktur, Max Adolf Pfeiffer, hatte damit Pläne im großen Stil, denn das Finanzministerium des Deutschen Reiches hatte in Erwägung gezogen, flächendeckend staatliches keramisches Notgeld herauszugeben. Eine heftige Diskussion über die Vor- und Nachteile des roten Feinsteinzeugs entbrannte, die letztendlich gegen die Einführung von Keramikgeld als Reichsgeld entschieden wurde. Daher haben die Probemünzen aus dem Jahr 1920 vor allem Sammlerwert – sie wurden bereits kurz nach Erscheinen in entsprechenden Kreisen hoch gehandelt.

Porzellan-Notmünze (Böttgersteinzeug) aus Sachsen im Wert von 50 Pfennig, Staatliche Porzellanmanufaktur Meißen, Prägung, 1920

Dennoch entschloss sich der Staat Sachsen 1921 als erstes Land, das sogenannte Sachsengeld – die Probestücke der Meißner Manufaktur – als offizielles Porzellan-Notgeld in Umlauf zu bringen. Bis zu einem Gesamtwert von 5 Millionen Mark wurden die Geldersatzzeichen aus braunem Böttgersteinzeug von der staatlichen Finanzhauptkasse ausgegeben, zum Nennwert von 20 Pfennig, 50 Pfennig, einer Mark und zwei Mark.

Porzellan-Notmünzen aus Sachsen, Staatliche Porzellanmanufaktur Meißen 1921, Böttgersteinzeug, geprägt

Hergestellt wurden auch Münzen zu fünf, zehn und 20 Mark. Die Manufaktur Meißen arbeitete zwar direkt im Auftrag des Sächsischen Staates, galt aber nicht als Prägestätte in Sachsen. Als Geldersatz waren schließlich mit Genehmigung aus Berlin nur die Stücke mit der Jahreszahl 1921 zugelassen, ausschließlich aus diesem Jahr war eine Ausgabe der Münzen gültig.

Porzellan-Notmünzen aus Sachsen, Staatliche Porzellanmanufaktur Meißen, 1921, Böttgersteinzeug, geprägt

Das auf den Stücken zu fünf, zehn und 20 Mark aufgebrachte Golddekor sollte an die frühere Reichsgoldwährung erinnern; diese Nennwerte waren vor dem Ersten Weltkrieg als Goldstücke im Umlauf. Die Farben wurden nach der Bemalung noch zusätzlich eingebrannt. Neben der obligatorischen Wert-, Jahres- und Herkunftsangabe mit typischen Motiven von Produktionszweigen verwiesen die Schwertzeichen auf jeder Münze auf die Herkunft aus der Meißener Porzellan-Manufaktur.

Sogar internationales Interesse bestand am Meißener Porzellangeld. Als Guatemala in Mittelamerika die Ausgabe neuer Münzen erwog, beauftragte man 1922 Proben für 2-Pesos-Stücke, die von Emil Paul Börner entworfen wurden. Zur Ausgabe gelangten diese Münzen aber nicht.

Guatemala, Porzellanmünze, 2 Pesos, N 90/1391, Porzellanmanufaktur Meißen, Böttgersteinzeit, geprägt, um 1920

Am 17. Juli 1922 erfolgte ein staatliches Verbot der Herstellung jeglichen Notgeldes, was allerdings nicht überall befolgt wurde. Man ersetzte die Wertbezeichnungen einfach durch andere Symbole, wie zum Beispiel ein Eichenblatt oder eine Rosette.

Am 1. November 1923 wurde die Rentenmark eingeführt. Damit verschwand schließlich das Notgeld aus Porzellan.


Literatur

Scheuch, Karl: Münzen aus Porzellan und Ton der Staatlichen Porzellan-Manufaktur Meissen und anderen Keramischen Fabriken des In- und Auslandes, Biebertal 1978, S. 35

Münzen aus Porzellan, in: Das Fenster in der Halle der Kreissparkasse Köln, März 1962

Dr. Lili Reyels

Dr. Lili Reyels ist Leiterin der Sammlung Finanz- und Wirtschaftsgeschichte am Deutschen Historischen Museum.

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Christoph Stölzl und das Deutsche Historische Museum /blog/2024/03/05/christoph-stoelzl-und-das-deutsche-historische-museum/ /blog/2024/03/05/christoph-stoelzl-und-das-deutsche-historische-museum/#respond Tue, 05 Mar 2024 10:01:17 +0000 /blog/?p=8434 Christoph Stölzl und das Deutsche Historische Museum Am 10. Januar 2023 verstarb der Gründungsdirektor des Deutschen Historischen Museums, Prof. Dr. Christoph Stölzl. Am 17. Februar 2024 wäre er 80 Jahre alt geworden: Mit einem „Abend für Christoph Stölzl“ erinnerten wir an einen enthusiastischen Ideengeber, Kulturhistoriker und Ermutiger, der unser Haus nachhaltig prägte. Die Festrede, die wir hier veröffentlichen, hielt Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Jürgen Kocka.]]> Christoph Stölzl und das Deutsche Historische Museum

Jürgen Kocka | 5. März 2024

Am 10. Januar 2023 verstarb der Gründungsdirektor des Deutschen Historischen Museums, Prof. Dr. Christoph Stölzl. Am 17. Februar 2024 wäre er 80 Jahre alt geworden: Mit einem „Abend für Christoph Stölzl“ erinnerten wir an einen enthusiastischen Ideengeber, Kulturhistoriker und Ermutiger, der unser Haus nachhaltig prägte. Die Festrede, die wir hier veröffentlichen, hielt Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Jürgen Kocka.

Jürgen Kocka bei der Festrede zur Erinnerung an Christoph Stölzl im DHM am 17.02.2024, Foto: © DHM/Matthias Völzke


Christoph Stölzl war vieles zugleich und nacheinander: Historiker, Museumsdirektor, Feuilletonchef, Abgeordneter und Senator, Auktionator, Präsident einer Musikhochschule, daneben kontinuierlich Autor und öffentlicher Intellektueller: ein Mann vieler Berufe, Rollen, Interessen und Talente. Er war damit originell und erfolgreich.  Zukünftige Stölzl-Biografen – und die wird es geben – werden herausfinden müssen, aus welchen inneren Antrieben sich seine risikobereite,  ideenreiche, produktive, rastlose Öffnung zu immer Neuem ergab, und aus welchen Quellen seine Kraft stammte, um dennoch die kontrollierte, kohärente, imponierende  Persönlichkeit zu sein, die er war.

Aber seine Tätigkeit als Gründer und erster Direktor des DHM von der Mitte der 1980er bis zum Ende der 1990er Jahre ragt in seiner Biografie hervor. Sie hat ihn zu einer Figur der Zeitgeschichte gemacht, durch sie ist er zu einem einflussreichen, wirkungsvollen Akteur der Kulturpolitik geworden, im Übergang von der Bonner zur Berliner Republik.

Auf Christoph Stölzl und die Entstehung des DHM konzentriere ich mich im Folgenden. Es ist die Periode, in der ich am meisten mit ihm zu tun hatte. Und es passt in eine Veranstaltung, mit der dieses Haus an seinen Gründer – und damit auch an die mit seiner Gründung verbundenen Erwartungen – erinnert.

Die Diskussion über ein deutsches Nationalmuseum nahm Anfang der 1980er Jahre Fahrt auf, auch angeregt durch vorangehende erfolgreiche historische Ausstellungen – über die Staufer (1977), die Wittelsbacher (1980) und über „Preußen. Eine Bilanz“ 1981 im hiesigen Gropius-Bau. Besonders diese Preußen-Ausstellung war wichtig, sie hatte beispielsweise zur Folge, dass über Sinn und Unsinn eines Deutschen Historischen Museums oder aber – alternativ – eines „Forums für Geschichte und Gegenwart“ diskutiert wurde, das ganz und gar auf thematisch wechselnde Ausstellungen unter der Regie wechselnder Ausstellungsmacher setzen würde. Zum „Forum“ tendierte die Regierung des Landes Berlin mit Volker Hassemer als zuständigem Senator.

In der Regierungserklärung des neugewählten Bundeskanzlers Helmut Kohl von 1983 und im „Bericht zur Lage der Nation“ von 1985 wurde dagegen die Errichtung eines Deutschen Historischen Museums angekündigt, zuletzt als „Geburtstagsgeschenk“ des Bundes an die Stadt Berlin zu deren bevorstehendem 750. Jubiläum im Jahr 1987. Der Kanzler sah das DHM zusammen mit dem gleichzeitig geplanten und errichteten „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ als einen Teil der „Wende“, die er nach den langen Jahren sozialliberalen Regierens in Gang setzen wollte. Man mag bezweifeln, dass eine solche Wende wirklich stattgefunden hat. Aber sie zeitigte einige Ergebnisse, die beiden Museen gehören dazu. Sie wären wohl ohne das entschiedene Engagement des Kanzlers nicht entstanden.

In Berlin war man über das Angebot nicht nur erfreut. Überhaupt gewann die Kritik an dem Vorhaben 1985/86 erheblich an Fahrt, und zwar parallel zum „Historikerstreit“ von 1985/86, dieser heftigen, in den allgemeinen Medien von Historikern und anderen ausgetragenen Kontroverse um den Ort des Holocaust in der deutschen Geschichte. Der wichtigste Einwand gegen das Museum beruhte auf der Befürchtung, hierdurch werde der „Entsorgung“ deutscher Geschichte Vorschub geleistet, die Erinnerung an deren dunkle Seiten marginalisiert und insofern ein Stück „Schadensabwicklung“ betrieben, mit dem Ziel einer nationalpolitisch eingefärbten Identitätsbildung durch ein regierungsseitig indoktriniertes Geschichtsbild.

1985 wurde eine Sachverständigenkommission eingesetzt mit Museumspraktikern (darunter Stölzl, der damals das Münchener Stadtmuseum leitete), Historikern (darunter auch ich) und anderen, unter dem Vorsitz von Werner Knopp, dem Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Diese Kommission hatte den Auftrag, ein Konzept für das geplante Museum zu erarbeiten. Sie hat sehr selbstständig gearbeitet, ohne weitere inhaltliche Vorgaben durch die beteiligten Regierungen. Zahlreiche Hearings und mehrere Konferenzen fanden statt, die Medien begleiteten unsere Arbeit kritisch, selten dürfte ein großes Museum mit so viel Öffentlichkeit konzipiert worden sein. Ich rekapituliere drei von der Kommission getroffene Entscheidungen, die überdauert haben.

Zwar blieb es bei der Entscheidung für ein Museum, aber die nicht mehr weiter verfolgte Idee eines Forums fand gleichwohl Eingang in das Konzept, denn dieses sah ein Museum mit zwei Standbeinen vor: eine Dauerausstellung zur deutschen Geschichte und die Veranstaltung von zeitlich begrenzten Ausstellungen zu wechselnden, auch aktuellen Themen in Folge, an denen auch Gestalter von außen beteiligt sein sollten.

Was die Inhalte und Ziele des zu errichtenden Museums anging, hat in den Diskussionen der Kommission nie die Gefahr einer nationalgeschichtlichen, gar nationalistischen Engführung bestanden. Als Aufgabe wurden Aufklärung und Verständigung, Erkenntnis und Besinnung im Umgang mit der „deutschen Geschichte in ihrem europäischen Zusammenhang und ihrer inneren Vielfalt“ formuliert. Unbedingt zu berücksichtigende Thematiken wurden umrissen , darunter die Frage nach nationalen Gemeinsamkeiten der Deutschen; Herrschafts- und Staatsbildung, Freiheit und Unterdrückung;  soziale Ungleichheiten und Konflikte; Wirtschaft, Arbeit und das Verhältnis zur Natur; kulturelle und religiöse Deutungen, Wissen und Wissenschaft. Es war ein Vorschlag zur Befassung mit deutscher Geschichte in zivilisationsgeschichtlicher Absicht, verbunden mit dem Aufruf, die dunklen Seiten dieser Geschichte weder zu verdrängen noch zu verabsolutieren.1 Die Befürchtung, dass das DHM eine Anstalt zur vaterländischen Aufrüstung bei gleichzeitiger Relativierung der NS-Vergangenheit sein würde, trat in den Kommentaren nach seiner Eröffnung – aus gutem Grund – völlig zurück.

In Bezug auf diese Grundsatzentscheidungen gab es in der Kommission sehr viel Konsens. Anderes war umstrittener. So betonten die einen sehr den Primat der auszustellenden Objekte und deren Fähigkeit, für sich selbst sprechen, wenn man ihnen nur ihre Authentizität und ihre Aura „zurückgäbe“. Andere, betonten jedoch, dass Exponate – wie andere historische Quellen auch – erst durch Fragen zum Sprechen gebracht würden. Sie setzten die Formulierung von Leitfragen durch, auch um größere Zusammenhänge begreiflich zu machen. Mit dieser Differenz verband sich die Frage nach dem angemessenen Verhältnis zwischen thematisch- analytisch und chronologisch gliedernden Darstellungsformen. Die Kommission verwandte einige Mühe darauf, eine angemessene Kombination beider Darstellungsprinzipien mithilfe unterschiedlich gestalteter Raumtypen vorzuschlagen.

Das Konzept, auf das sich die Kommission einigte, wurde regierungsseitig akzeptiert. Es lag zu Grunde, als das DHM am 28. Oktober 1987 in einer festlichen Veranstaltung im Reichstagsgebäude gegründet wurde, mit Christoph Stölzl als „Generaldirektor und Professor“ an der Spitze.

Was er, der aus München nach Berlin umziehende Gründungsdirektor, im Gepäck hatte, so schrieb Christoph Stölzl später in der Rückschau, „ das war die Erfahrung mit großen historischen Ausstellungen und die Praxis in der Leitung eines kulturgeschichtlichen Museums, das von der Gemäldegalerie bis zur Kinemathek alle Objektgattungen und Medien unter einem Dach vereinigte.“ Und er habe die „Lust zur Politik“ mitgebracht.2

Die „Lust zur Politik“ konnte er gut gebrauchen. Denn die Implementierung des Vorhabens stieß immer wieder auf Schwierigkeiten, unter anderem beim neu gewählten rot-grünen Berliner Senat, in einflussreichen Teilen der Berliner Öffentlichkeit und in den Verhandlungen mit den A- und B-Ländern im deutschen föderalen System.

Schnell gelang es – und das war sehr wichtig –, hoch qualifizierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, Kolleginnen und Kollegen zu gewinnen. Das gab der deutsche Arbeitsmarkt her, auch und gerade in Berlin, nach den vorausgegangenen Ausstellungen (zuletzt „Berlin-Berlin“ zum 750. Stadtjubiläum). Die rasch rekrutierte Kerngruppe von meist jüngeren Wissenschafts- und Museumsleuten machte sich unter Stölzls Leitung sofort an eine umfassende Erwerbungskampagne mit internationaler Reichweite, denn an historischen Objekten fehlte es dem neuen historischen Museum fast ganz, Geld dagegen war aus dem Bundeshaushalt hinreichend vorhanden.

Man betrieb die Vorbereitung des Museumsbaus. Den internationalen Wettbewerb gewann 1988 der Mailänder Architekt Aldo Rossi, mit einem hochinteressanten, postmodernen Entwurf, der im Spreebogen realisiert werden sollte.

Christoph Stölzl bei der Eröffnung der Ausstellung „1.9.39 Ein Versuch über den Umgang mit Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg”, 1.9.1989, Windscheidstraße, Berlin © DHM

Die erste, kleine und etwas improvisierte Wechselausstellung eröffnete das neue Museum am 1.  September 1989, in Erinnerung an den deutschen Überfall auf Polen genau 50 Jahre zuvor, mit dem der Zweite Weltkrieg begonnen hatte. Sie wurde in den Kellerräumen eines Industriehofs in Berlin-Charlottenburg gezeigt, wo das entstehende DHM provisorisch untergekommen war. Es war wohl eine typische Stölzl-Idee, die Ausstellung mit dem Titel „Versuch über den Umgang mit der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg“ morgens um 4.45 Uhr zu eröffnen. Damit spielte man auf die oft zitierte Erfolgsmeldung Hitlers an, der am 1.9.1939 im Rundfunk die deutsche Bombardierung der polnischen Befestigungen auf der Westerplatte vor Danzig mit den propagandistisch verdrehten Worten bekannt machte: „Seit 4:45 Uhr wird zurückgeschossen“. Aber Stölzl kam nicht zur Eröffnung um 4.45 Uhr, er kam etwa eine Stunde zu spät. Es waren eine Menge Leute da, und so hatten die Stellvertretende Direktorin Marie-Louise von Plessen und ich als Mitglied der Sachverständigenkommission die Ehre, die erste Ausstellung des DHM zu eröffnen, mit ein paar improvisierten Sätzen, natürlich längst nicht mit der rhetorischen Finesse, die Stölzl zur Verfügung gestanden hätte, wäre er da gewesen. In späteren Rückblicken ist diese erste Ausstellung des DHM meist übersehen worden, überstrahlt durch die glanzvolle und opulente Bismarck-Ausstellung im Gropius-Bau, ein Jahr später. Aber man sollte sie nicht vergessen.

Dann aber holte der reale Geschichtsverlauf das Geschichtsmuseum ein, in Gestalt des Mauerfalls und der deutschen Wiedervereinigung. Die Planung überlebte im Großen und Ganzen, aber praktisch änderte sich einiges. Im Spreebogen, wo der Grundstein für das neu zu errichtende Gebäude des DHM gelegt worden war, entstand – an eben dieser Stelle – das Bundeskanzleramt. Der für das Konzept maßgeschneiderte Entwurf Rossis wurde nicht realisiert, dass DHM zog vielmehr nach einigen provisorischen Zwischenstationen ins Zeughaus Unter den Linden 2 ein, und übernahm das bis dahin dort residierende Ostberliner „Museum für deutsche Geschichte“ – nicht seine Struktur und Ideologie, aber seine Schätze, d.h. Objekte, Depots und einen großen Teil seiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Die Planung wurde an das alte Gebäude angepasst. Dabei ging auch manches aus der ursprünglichen Konzeption verloren, was im Rossi-Bau realisiert worden wäre, etwa die bauliche Unterscheidung zwischen Epochen-, Vertiefungs- und Themenräumen.

Es folgte eine lange Reihe hoch interessanter, teils fulminanter, durchweg sehr publikumswirksamer Wechselausstellungen, seit 2003 in diesem Gebäude, für dessen architektonische Gestaltung Stölzl, während eines Besuchs in New York, den international hoch renommierten Architekten Ieoh Ming Pei gewonnen hatte, zweifellos ein Glücksfall (oder, besser, ein Geniestreich). Es waren die Wechselausstellungen, die in den nächsten anderthalb Jahrzehnten das Bild des DHM in der Öffentlichkeit positiv prägten und ihm das hohe Maß an Zustimmung und Anerkennung einbrachten, das es bald auszeichnete.

Denn die Vorbereitung der chronologisch aufgebauten Dauerausstellung unter dem Titel „Deutsche Geschichte in Bildern und Zeugnissen“ im Hauptgebäude brauchte länger, sie wurde – nach einem provisorischen Überblick Mitte der 90er Jahre – erst 2006 eröffnet, lange nach dem Weggang Stölzls zunächst zur „Welt“ und dann in die Berliner Politik, unter der Regie seines Nachfolgers Hans Ottomeyer. Auch diese Dauerausstellung war am Gründungskonzept von 1987 orientiert, wenn auch nicht in jeder Hinsicht. Die expliziten Leitfragen, die analytischen Vertiefungen und die der Umschau dienenden Haltepunkte traten sehr weit zurück.3

Bedenkt man, wie umstritten, ja umkämpft das Vorhaben vor allem in den 80er Jahren war, fragt man sich, wieso es dennoch, aufs Ganze gesehen, so glatt entstand und gut gelang. Es gibt mehrere Antworten:

Da war das sehr entschiedene, sehr wirkungsvolle Engagement Helmut Kohls in einer von ihm als Gelegenheit zur politisch-kulturellen Wende wahrgenommenen Konstellation, ein Engagement, das er mit finanzieller Großzügigkeit und persönlicher Ausdauer realisierte. Und Kohl war mächtig.

Da war die äußerst geschickte, sehr stark auf breiten Konsens zielende Vorgehensweise der beteiligten Entscheidungspersonen. Früh wurde ein relativ breites, wenn auch nicht unbegrenztes Spektrum politisch unterschiedlich verorteter Personen einbezogen. Man könnte es an der Zusammensetzung der Sachverständigenkommission zeigen, in der Historiker saßen, die im sogenannten „Historikerstreit“ auf gegensätzlichen Seiten gestanden hatten und standen. Mir scheint, dass der Verleger Wolf Jobst Siedler, der große Personalkenntnis und Verbindungen in verschiedene intellektuelle Kreise besaß, als Ratgeber und Pate des Ganzen eine sehr wichtige Rolle gespielt hat.

Und da war die Tatsache, dass in den nicht-öffentlichen, kleinformatigen, strikt problem- und gegenstandsbezogenen Diskussionen der Historiker, Museumsleute, Politiker und Intellektuellen – in jenen letzten Jahren der Bonner Republik und in der entstehenden Berliner Republik – sehr viel mehr stillschweigender Konsens zum Vorschein kam, als es die oft erregten und zugespitzten Debatten in der medienvermittelten Öffentlichkeit vermuten ließen. Andererseits haben diese leidenschaftlichen Kontroversen in der Öffentlichkeit und das sich darin ausdrückende tiefe Misstrauen gegen den Museumsplan die Akteure in der Politik zu besonderer Vorsicht und Rücksicht veranlasst, was die Gründung des Museums erleichterte.

Schließlich kann man in der Rückschau erkennen, dass Verschiebungen im kulturellen Umgang mit der Geschichte stattfanden, die sich auf das Museumsprojekt günstig auswirkten. Die Bereitschaft, Geschichte als Quelle von Identitätsbildung zu akzeptieren, nahm in vielen Formen und auf verschiedenen Ebenen seit den späten 70er Jahren zu, nicht nur in der Bundesrepublik. Auch in der DDR zeigte sich diese Tendenz, als man sich in den 80er Jahren der Geschichte Preußens als Teil der eigenen Tradition zuwandte. Damit wurde die deutsch – deutsche Konkurrenz um die Deutung der gemeinsamen Geschichte heftiger – ein weiteres Motiv für die Einrichtung von Institutionen wie dem DHM. Dann die Wiedervereinigung: sie brachte Entscheidungen in lange ungelösten Fragen nach dem Zusammenhalt und den Grenzen Deutschlands. Sie warf aber auch neue Fragen auf, die historischer Antworten bedurften, etwa zur Geschichte der deutschen Diktaturen im Vergleich und zu Deutschlands Ort in Europa. Wer an der Berechtigung der Frage nach Nation und Nationalstaat gezweifelt und sie als passé abgehakt hatte, sah sich eines Besseren belehrt, wenn er unvoreingenommen die ungestüme Rückkehr des Nationalstaats als eines zentralen Ordnungsfaktors in die Gegenwart Deutschlands und Osteuropas seit dem Ende der 80er Jahre beobachtete. All das bedeutete Rückenwind für ein Projekt wie das DHM. Es ist in den Auseinandersetzungen der späten Bonner Republik entstanden und entschieden worden, aber erst in der Berliner Republik ausgeformt und realisiert worden. Man kann seine Frühgeschichte als Teil der inneren Wiedervereinigung verstehen, westlich inspiriert und dominiert, aber mit gesamtdeutsch-europäischer Perspektive und mit einigen inhaltlich-institutionellen Anpassungen an die neue Situation.

Ein weiterer, zentraler Grund für den Erfolg des DHM wird klar, wenn man Person und Rolle seines Gründungsdirektors betrachtet. Christoph Stölzl, der anderthalb Jahrzehnte lang die Entwicklung des DHM stark beeinflusst hat, war ein Glücksfall für das entstehende Museum.

Stölzl war studierter Historiker, hatte selbst wissenschaftlich gearbeitet, zur Geschichte des Habsburger Reichs, zur Geschichte Böhmens, dabei vor allem zur Geschichte der böhmischen Juden, mit besonderem Interesse an Kafka. Sein historisches Interesse war tief verankert und durchaus kritisch, bis zu seinem letzten Großprojekt, seiner Mitarbeit an dem in Berlin geplanten Exilmuseum. Von dieser geschichtsaffinen Grundposition her ist es ihm gelungen, ungeachtet vielfältiger Kritik im Einzelnen den Respekt der unterschiedlichsten Fachvertreter zu gewinnen, die an dem Projekt DHM beteiligt waren – von den häufig skeptischen Museumspraktikern bis hin zu Historikern und Historikerinnen auch im linken Teil des wissenschaftlich-politischen Spektrums.

Historiker müssen sich, wenn sie synthetisieren, mit vielen Sachgebieten beschäftigen, für die sie nicht speziell ausgebildet sind. In gewisser Hinsicht sind sie immer auch Dilettanten. Das gilt in besonderem Maße für Stölzl, und das war eine seiner Stärken. Gerade die Tatsache, dass er meist als Nicht-Spezialist auftrat, sich oft nicht genau festlegte und manches in der Schwebe, im Ungefähren hielt, gerade das erleichterte ihm in kontroversen Situationen das intellektuelle Überleben und verstärkte seine Durchsetzungskraft.

Stölzl gab den Versuch einer wissenschaftlichen Karriere auf, er strebte danach zu gestalten. Und dies gelang ihm, auch im Fall des entstehenden DHM, in dreifacher Hinsicht. Zum einen hatte er in seinen Münchener Jahren – learning by doing – die Fähigkeit zum institutionellen Arbeiten erworben, als Leiter des Stadtmuseum. Die brauchte er auch als DHM – Direktor, auch wenn er vieles zu delegieren verstand.

Zum andern wusste er, dass zur Errichtung eines Museums, wie zur Organisation jeder Großausstellung, Diplomatie gehört. Er beherrschte sie, gewann Personen und Positionen auch im ganz kleinen Kreis. Er erwarb das Vertrauen von Kanzler Kohl, beriet ihn in wichtigen kulturpolitische Fragen: bei der Gestaltung der „Neuen Wache“, in Bezug auf das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, vermutlich auch in Bezug auf den partiellen Wiederaufbau des Stadtschlosses. So verfügte er über großen Einfluss, was seiner Leitungstätigkeit im DHM und überhaupt dem DHM sehr zu statten kam.

Stölzl war drittens ein Mann der Öffentlichkeit. Er konnte öffentlich sprechen, zumeist ohne Manuskript, aber druckreif. Er war rhetorisch brillant. Seine Neugier wirkte ansteckend, er verbreitete Frohsinn selbst in krisenhaften Situationen, seine Reden besaßen meist zugleich hohen Unterhaltungswert. Er besaß ein immenses Bildungswesen, das er wohl auch seiner bildungsbürgerlichen Herkunft verdankte und über das er frei, einfalls- und assoziationsreich verfügte. Kai-Uwe Peter, Präsident der Deutschen Schiller-Gesellschaft, formulierte das kürzlich so: „Christoph Stölzl konnte mühelos von Michelangelos römischer Pieta über die späte Industrialisierung in den deutschen Ländern zum frömmelnden Marienkult in Bayern und den Klebeetiketten der ersten Münchner Flaschenbiere flanieren.“ Ja, Stölzl schätzte das Flanieren, nicht zufällig engagierte er sich 2016 für die schöne Ausstellung über „Harry Graf Kessler – Flaneur durch die Moderne“ im Liebermann-Haus. Trotzdem passt es nicht, Stölzl als „Flaneur“ zu bezeichnen. Dafür war er viel zu sehr jemand, der nicht nur beobachtete, sondern auch mit Engagement entschied und gestaltete. Dass aber ein solch fliegender Wechsel von einem zum andern Thema fast notwendig mit gelegentlicher Ungenauigkeit verbunden war, hätte Stölzl ohne weiteres zugegeben.

Diese drei Erweiterungen seiner fachmännischen Qualität – als Institutionenleiter, Diplomat und Mann der Öffentlichkeit – brachte er zusammen, nicht zuletzt durch seinen persönlichen Charme. Dem DHM kam dies zweifellos zugute.

Schließlich: Stölzl war kein Linker. Soweit er sich parteipolitisch engagierte, geschah dies in der FDP und dann in der Berliner CDU, der er kurzzeitig vorsaß. Er galt vielen als Konservativer. Selbst lehnte er es nicht ab, so eingeordnet zu werden, wenn er es auch vorzog, sich als Bürger zu beschreiben. Und auch in seiner Zeit als DHM-Gründer und -Direktor finden sich häufig Entscheidungen und dahinterliegende Überzeugungen, die man gemeinhin als konservativ bezeichnen würde, politisch wie ästhetisch. Aber diese Haltung verband er mit ausgeprägter Experimentier- und Unternehmungslust, mit sprudelnder Ideenvielfalt und Risikobereitschaft, mit Neugier, Zukunftsvertrauen und Reformlust, für die das Wort konservativ sich nicht direkt anbietet. Seine thematischen Interessen als Historiker – etwa für jüdische Geschichte, Antisemitismus oder Exil – stehen nicht gerade für ausgeprägten Konservatismus. Sein Auftreten, seine Kleidung, sein Habitus wirkten urban, nicht konservativ. Sollte man von einem „progressiven Konservativen“ sprechen, oder von einem liberal-konservativen Reformer, oder gar, um eine bekannte Theaterintendantin zu zitieren, von einem „konservativen Anarchisten“?

Lassen wir es offen.

Ich erinnere mich mit großer Hochachtung an Christoph Stölzl und bedaure, dass wir ihm zu seinem heutigen 80. Geburtstag nicht mehr persönlich gratulieren können.


Verweise

  1. Ch. Stölzl (Hg.), Deutsches Historisches Museum. Ideen – Kontroversen – Perspektiven, Berlin 1988, S. 609-636, bes. 611-614. ↩
  2. Ch. Stölzl, Wie die Idee eines Deutschen Historischen Museums Gestalt annahm, 1985-1999, in: Zwanzig Jahre Deutsches Historisches Museum, Berlin 2007, S. 33-42, hier 36. ↩
  3. J. Kocka, Ein chronologischer Bandwurm. Die Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums, in: Geschichte und Gesellschaft 32, 2006, S. 398-411 ↩
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Von der Kunstkammer ins Museum – Ein graviertes Straußenei /blog/2024/02/21/von-der-kunstkammer-ins-museum-ein-graviertes-straussenei/ /blog/2024/02/21/von-der-kunstkammer-ins-museum-ein-graviertes-straussenei/#respond Wed, 21 Feb 2024 09:34:29 +0000 /blog/?p=8386 Von der Kunstkammer ins Museum Ein graviertes Straußenei Das Deutsche Historische Museum hat ein seltenes Straußenei mit eingravierten figürlichen Szenen aus dem frühen 17. Jahrhundert für die Sammlung Angewandte Kunst erworben. Auch die motivgebende illustrierte Reisebeschreibung des niederländischen Entdeckungsreisenden Jan Huygen van Linschoten von 1596 konnte jüngst angekauft werden. Beide Ankäufe wurden durch die großzügige Unterstützung des Museumsvereins finanziert. Mehr darüber erzählen Wolfgang Cortjaens, Sammlungsleiter Angewandte Kunst und Grafik, und Brigitte Reineke, Leiterin Zentrale Dokumentation, im Film.]]> Von der Kunstkammer ins Museum – Ein graviertes Straußenei

Redaktion | 21. Februar 2024

Das Deutsche Historische Museum hat ein seltenes Straußenei mit eingravierten figürlichen Szenen aus dem frühen 17. Jahrhundert für die Sammlung Angewandte Kunst erworben. Auch die motivgebende illustrierte Reisebeschreibung des niederländischen Entdeckungsreisenden Jan Huygen van Linschoten von 1596 konnte jüngst angekauft werden. Beide Ankäufe wurden durch die großzügige Unterstützung des Museumsvereins finanziert. Mehr darüber erzählen Wolfgang Cortjaens, Sammlungsleiter Angewandte Kunst und Grafik, und Brigitte Reineke, Leiterin Zentrale Dokumentation, im Film:

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Die Neuerwerbung wird erstmals in der kommenden Ausstellung „Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert” (ab dem 18.10.2024 im Pei-Bau) präsentiert.

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Schach dem König – eine Brettspielkassette aus Bernstein /blog/2024/02/14/schach-dem-koenig-eine-brettspielkassette-aus-bernstein/ /blog/2024/02/14/schach-dem-koenig-eine-brettspielkassette-aus-bernstein/#respond Wed, 14 Feb 2024 11:35:49 +0000 /blog/?p=8175 Schach dem König - eine Brettspielkassette aus Bernstein „Spielerische Allianzen“ – unter diesem Titel findet am 29. Februar und 1. März 2024 eine interdisziplinäre Tagung am Deutschen Historischen Museum statt. Im Zentrum steht eine 1607 in Königsberg entstandene Brettspielkassette aus Bernstein, die das DHM 2021 erwarb. Als Vorschau auf das vielfältige Vortragsprogramm geben die beiden Konzeptgeber und Organisatoren der Veranstaltung, Dr. Wolfgang Cortjaens, Leiter der Sammlung Angewandte Kunst & Grafik, und Dr. Thomas Weißbrich, Leiter der Sammlung Militaria, auf dem DHM-Blog ein paar Einblicke und schlagen eine Brücke zwischen zwei auf den ersten Blick recht unterschiedlichen Sammlungsbereichen: ]]> Schach dem König – eine Brettspielkassette aus Bernstein

Interview mit Dr. Wolfgang Cortjaens und Dr. Thomas Weißbrich | 14. Februar 2024

„Spielerische Allianzen“ – unter diesem Titel findet am 29. Februar und 1. März 2024 eine interdisziplinäre Tagung am Deutschen Historischen Museum statt. Im Zentrum steht eine 1607 in Königsberg entstandene Brettspielkassette aus Bernstein, die das DHM 2021 erwarb. Als Vorschau auf das vielfältige Vortragsprogramm geben die beiden Konzeptgeber und Organisatoren der Veranstaltung, Dr. Wolfgang Cortjaens, Leiter der Sammlung Angewandte Kunst & Grafik, und Dr. Thomas Weißbrich, Leiter der Sammlung Militaria, auf dem DHM-Blog ein paar Einblicke und schlagen eine Brücke zwischen zwei auf den ersten Blick recht unterschiedlichen Sammlungsbereichen:

Was versteht man unter einer „Brettspielkassette“? Was ist das Besondere?
Im späten 15. Jahrhundert entstand mit dem „Drei-Spiele-Kasten“ eine neuartige Sonderform des Brettspiels. Es war nun möglich, mehrere Spiele (meist Mühle- oder Gänsespiel, Tric Trac/ Backgammon und Schach) sowie die zugehörigen Figuren und/oder Spielsteine in einer verschließbaren Kassette aufzubewahren, die sich gut zum Transportieren eignete. Im Lauf der Zeit wurde die Verarbeitung zunehmend vielseitiger und das Material immer kostbarer. Kulturhistorisch interessant ist das zeitliche Zusammenfallen mit dem Aufschwung der Bernsteinverarbeitung ab den 1560er-Jahren. Bernstein, der durch seine Transparenz und Leuchtkraft fasziniert und dessen Ursprung aus dem Meer seine rätselhafte Aura noch erhöhte, wurde einer der begehrtesten Werkstoffe für Luxuswaren – und eben auch Spielbretter. Neue Schnitttechniken, so die beim Exemplar des DHM in höchster Vollendung angewandte Mikroschnitzerei, und farbige Einlegearbeiten kamen zum Einsatz.


Woher stammt die Kassette?
Eine Drehscheibe des Bernsteinhandels war Königsberg. Herzog Albrecht von Brandenburg als Inhaber des sog. Bernstein-Monopols förderte gezielt die Ansiedlung talentierter Kunsthandwerker und Bernsteindreher im Umfeld seines Hofes, unter ihnen auch der „Hofbernsteindreher“ Hans Klingenberg, der mutmaßliche Hersteller des Berliner Brettspielkastens. Die Neuerwerbung steht in einer Reihe mit nur ganz wenigen Vergleichsstücken ähnlicher Qualität. Zwei der nächstverwandten Referenzobjekte befinden sich in der Hessen Kassel Heritage und im Landesmuseum Württemberg in Stuttgart; beide werden auf der Tagung von den Kustodinnen der Sammlungen ausführlich vorgestellt.

Was ist über die Herkunft der Neuwerbung bekannt?
Das Objekt hat eine ebenso hervorragende wie spannende Provenienz, die bis in die Zeit seiner Entstehung zurückreicht. Wegen der Kostbarkeit und Seltenheit derartiger Luxusobjekte liegt es nahe, in dem Spielbrettkasten ein diplomatisches Geschenk des Herzogtums Preußen an das Haus Stuart zu sehen. Als erster Besitzer wird James I. (1566–1625), König von England und Irland, angenommen; dies ist bisher jedoch nicht durch Quellen belegt. Die erste schriftliche Erwähnung der Kassette findet sich im posthumen Inventar des 1649 hingerichteten Königs Charles I. („A Paire of Tables of White and Yellowe Amber garnished with silver“ mit 13 Figuren). Charles I. schenkte das Brett seinem Ratgeber, dem Lord High Admiral und Lord-Großschatzmeister William Juxon, dem späteren Erzbischof von Canterbury. Über Juxons Erben gelangte der Kasten an die Lords of Hesketh of Rufford Hall – so verzeichnet in einem Inventarbuch von 1855 – und verblieb bis Anfang des 21. Jahrhunderts in Familienbesitz. Von 2008 bis 2010 war er im Victoria & Albert Museum in London ausgestellt, ehe er aus dem Kunsthandel für das DHM erworben werden konnte.

Der aufgeklappte Brettspielkasten für Schach, Mühle und Tric Trac, Foto: © DHM Berlin/Indra Desnica


Welche Themen lassen sich mit dem Objekt verknüpfen?
Die Kassette ist als Luxusobjekt par excellence mit dem im 16. Jahrhundert verbreiteten Phänomen der Kunst- und Wunderkammern in Verbindung zu bringen, also repräsentativen, meist fürstlichen Schausammlungen, in denen z.B. kostbare Artefakte, wissenschaftliche Instrumente, Fossilien, Exotika oder Naturalia, wie der kürzlich im Blog vorgestellten Coco de mer oder ein jüngst für die Sammlung Angewandte Kunst erworbenes graviertes Straußenei aus dem frühen 17. Jahrhundert mit Motiven aus der „Neuen Welt“, nach bestimmten Kriterien arrangiert wurden. In den Kunst- und Wunderkammern waren die Kuriosa nur einem ausgewählten Personenkreis zugänglich, sie dienten vorrangig der Repräsentation des Besitzers.
Spielkassetten dieser Art sind eng mit dem Bereich der frühneuzeitlichen Spielkultur verbunden. Dabei war das Schachspiel ein wichtiges, aber bei weitem nicht das einzige Element. Beliebt waren weitere Brett- und Karten- sowie noch andere Gesellschaftsspiele. Der Brettspielkasten des DHM ist aber wohl kaum regelmäßig zum Einsatz gekommen; seine Oberfläche weist kaum Kratz- oder Schleifspuren auf.
Mit der Kassette lassen sich, um einen dritten Zusammenhang zu erwähnen, diplomatische Geschenke in Beziehung setzten: wertvolle Objekte der höfischen Kultur, die der eine Herrscher einem anderen schenkte, um seine Sympathie auszudrücken, um ein Bündnis zu kräftigen oder um in Verbindung mit dem Geschenk eine Bitte vorzutragen.

Warum die Brettspielkassette als Objekt auch aus Sicht der für die Militaria-Sammlung interessant?
Der Bezug zur Militaria-Sammlung, also zu Waffen, Rüstungen, zu Uniformen und Fahnen, ist mittelbar. Das Schachspielen ist schon früh mit dem Thema „Kampf“ und „Krieg“ in Verbindung gebracht worden. Eine Beziehung zum Brettspielkasten des DHM bilden jene Rahmenfelder, die antike Krieger oder den Kriegsgott Mars zeigen (Abb. 1 und 2).

Die Zeit, aus der das Brettspiel stammt, ist von einer großen militärischen Reform geprägt, die von den Niederlanden ausgehend Europa erfasst. Sie ging einher mit neuen strategischen und taktischen Überlegungen über das Aufstellen und Bewegen von Truppen im Feld. Das Schachspiel sollte, sehr allgemein, dazu beitragen, intellektuelle Fähigkeiten wie das Einschätzen von Positionen und Interaktionen sowie von (gefährlichen) Situationen zu schulen. Von unmittelbarer Nutzanwendung kann natürlich keine Rede sein.
Seit den Napoleonischen Kriegen, um 1800, gibt es dann öffentlich verbreitete Grafiken, die Kriege im Bild des Schachspiels veranschaulichen, wobei es sich oft um eine „Schachmatt“-Szene handelt. So soll dem Sieger der Partie gut durchdachtes planerisches Vorgehen zugeschrieben werden, während der Verlierer handlungsunfähig erscheint. Dieses Motiv hat sich etabliert und ist gegenwärtig auch bei der Veranschaulichung aktueller Konflikte zu finden.

Dr. Wolfgang Cortjaens

Wolfgang Cortjaens ist Leiter der Sammlung Angewandte Kunst und Grafik am Deutschen Historischen Museum.

Dr. Thomas Weißbrich

Dr. Thomas Weißbrich ist Leiter der Militaria-Sammlung im DHM, die Uniformen, Fahnen, Orden, Ehrenzeichen und Uniformkundliche Graphik umfasst.

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„Kohle ist knapp, Geld im Flutsch futsch! Kampf dem Zins! Es lebe das Kunstgeld! …“ /blog/2023/12/27/kohle-ist-knapp-geld-im-flutsch-futsch-kampf-dem-zins-es-lebe-das-kunstgeld/ /blog/2023/12/27/kohle-ist-knapp-geld-im-flutsch-futsch-kampf-dem-zins-es-lebe-das-kunstgeld/#respond Wed, 27 Dec 2023 08:57:17 +0000 /blog/?p=8061 "Kohle ist knapp, Geld im Flutsch futsch! Kampf dem Zins! Es lebe das Kunstgeld! ..."

… so hieß es im Strategiepapier der Gruppe Ioë Bsaffot für die Aktion „Knochengeld-Experiment – Künstler machen Geld“, welches der Lyriker und Dichter Bert Papenfuß verfasst hatte. Lili Reyels, Sammlungsleiterin für Finanz- und Wirtschaftsgeschichte am DHM, widmet sich in diesem Beitrag dem Kunstgeld, das vor 30 Jahren als Kunstaktion in Berlin gestartet wurde.

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„Kohle ist knapp, Geld im Flutsch futsch! Kampf dem Zins! Es lebe das Kunstgeld! …“

Lili Reyels | 28. Dezember 2023

… so hieß es im Strategiepapier1 der Gruppe Ioë Bsaffot für die Aktion „Knochengeld-Experiment – Künstler machen Geld“, welches der Lyriker und Dichter Bert Papenfuß verfasst hatte.2 Lili Reyels, Sammlungsleiterin für Finanz- und Wirtschaftsgeschichte am DHM, widmet sich in diesem Beitrag dem Kunstgeld, das vor 30 Jahren als Kunstaktion in Berlin gestartet wurde.

Und so kam es, dass vor 30 Jahren, im Dezember 1993, die Frage: „Kann man hier auch mit Knochen bezahlen?“ rund um den Berliner Kollwitzplatz und bis nach Mitte mit „Ja“ beantwortet werden konnte. Drei Jahre nach der Wiedervereinigung war dies nicht als anarchische Währungsreform oder Verdruss über die neue gesamtdeutsche Währung gemeint. Vielmehr handelte es sich um eine humorvoll und geschickt inszenierte Kunstaktion der Galerie „o zwei“ in der Oderberger Straße unter der Leitung und Organisation des Künstlers und Galeristen Wolfgang Krause. Die Künstler*innen erhöhten ihre Bekanntheit und konnten auf die durchaus vorkommende Geldnot in ihrem Metier auf spielerische Weise aufmerksam machen.

Insgesamt 55 individuell gestaltete Kunstscheine entstanden aus der Zusammenkunft internationaler und deutscher Künstler*innen aus Ost und West. Durchnummeriert und als Bündel mit einer Banderole versehen waren sie von Anfang an perfekt für Sammler geeignet und wurden als vollständiger Satz für 1.000 DM verkauft – im Dezember 1993 auch an das Deutsche Historische Museum. So gelangten sie in die Sammlung Finanz- und Wirtschaftsgeschichte. In ihrer Rolle als „Dezentralbank“ gab die Galerie die Knochengeldscheine aus. Als „Notenpresse“ diente den Künstler*innen ein herkömmlicher Kopierapparat zur Vervielfältigung, danach wurden die Scheine von Hand signiert. Die Auflage eines jeden Künstler*innen-Knochengeldscheins betrug 100 Stück – was einen Emissionswert von 106.000 DM ausmachte3.

Die Gültigkeit der Knochenscheine

Der Clou war zudem, dass die als Freigeld angelegten Knochen kontinuierlich an Wert verloren. So sollte, angelehnt an die Schwundgeldtheorie von Silvio Gsell, die Hortung des Kunstgeldes durch Sammler*innen und Kunstspekulant*innen verhindert werden. Daher auch der Name, der auf den Philosophen Diogenes Bezug nahm: Dieser hatte vorgeschlagen, aus Knochen Geld zu machen, denn der bei der Lagerung entstandene Geruch würde das Horten verhindern. Ein zeitgenössischer Beobachter formulierte es so: „[E]chte Kunst ist falsches Geld, falsches Geld wird im Gebrauch zu echtem Geld, wobei das Kunstgeld nach seinem inflationären Verfall gegenüber der DM nach Abschluss der Aktion im DM-Wert natürlich auch wieder steigen kann“4.

Der Schweizer Künstler G.P. Adam hatte also für die Läden, welche Knochengeldscheine als Zahlungsmittel annahmen, einen Original-Aufkleber hergestellt, einschließlich Knochen-Logo mit dem Hinweis: „Wir nehmen Knochen“. Man hätte sich also morgens im „allet mögliche“ in der Schliemannstraße mit den Knochenscheinen eine Zeitung kaufen, nebenan im „Schliemann“ sein Frühstück bezahlen, eine Schallplatte bei „OM/Sounds“ in der Sretzkistrasse erstehen und abends in der „Pinte“ in der Lychener Straße ein Bier trinken können.5 Das Wechselgeld war echtes Geld. Die beteiligten Geschäfte konnten die erworbenen Scheine in der Galerie gegen echtes Geld zurücktauschen oder die Scheine als Kunstwerke und Kapitalanlage behalten. Zwei Musterbücher im „Initiativkomittee“, also in der Galerie, waren hinterlegt, um die Echtheit zu überprüfen.

Themen der Knochenscheine

Die Themen auf den Kunstgeldscheinen changieren von witzig, historisch, satirisch bis hin zu ironisch oder abstrakt – und natürlich hatten sie oft mit Knochen zu tun. Bei manchen ist der typische Stil des Künstlers oder der Künstlerin zu erkennen.

Der von Bert Papenfuß gestaltete Schein beispielsweise trägt auf rotem Grund die Aufschrift „Natürlich ist mir der Kommunismus näher als die Jacke“. Sein Kunstgeld zieren auch erfundene Buchstaben und Satzzeichen sowie das Motto: „Wo Durft ist, ‚darf man‘ etwas verhökern, Löcher pökeln“. Sein Sprachwitz zeigte sich sowohl in den Strategiepapieren, also auch auf dem Kunstgeldschein. Mit Papenfuß als einem wichtigen Vertreter der künstlerischen DDR Underground-Szene steht die Kunstaktion auch in der Tradition der DDR-Samistat-Grafiken und -Texte.6

Eine kleine Gesellschaft lachender Monster mit großen Zähnen scheint auf dem Schein von Jenny Rosemeyer kleine Knöchelchen verschlingen zu wollen. Vielleicht stellen sie den Raubtierkapitalismus dar, denn die Szene hat auch etwas Morbides.

Christine Schlegel wählte eine Frauenbüste statt des oftmals üblichen Politikerkopfes auf ihrem Schein. Fünf abstrahierte Augen beobachten sie vom Rand und scheinen etwas auszuspucken. Das Motiv des Knochens taucht auf der Rückseite in verdrehter Form auf, eine Fotomontage, aus dem die Füße hervorstehen.7

Der Künstler MK Kähne wiederum hat in einem Schein ein Thema gefunden, dass er später wiederholt aufgriff: die Idee, soziale Milieus zu vertauschen und die Thesen seiner Arbeit durch Persiflage zu verdeutlichen. In provokanter Mine schauen gut situierte und gekleidete Menschen den Betrachtenden von einem Foto auf dem Geldschein aus an und fragen: „Wir lieben Geld. Du auch?“10

Ein paar Jahre nach der Knochengeldaktion hat die Künstlerin Breeda CC ihren Satz Knochengeldscheine verkauft. Von dem Erlös kaufte sie einen Teil ihres fahrbaren Untersatzes für das mobile Theater „Icke Mobil“. Auf ihrem Schein hatte sie bereits „In Bank we trust“ formuliert, eine Abwandlung des Wahlspruchs der Vereinigten Staaten von Amerika „In God we trust“, welches seit 1955 für alle Münzen und das Papiergeld per US-Gesetz verbindlich ist. Einerseits wird hier der Bezug zu Amerika als kapitalistische Gesellschaft, die ironisch-kritisch gesehen wird, gezeigt, andererseits der Verweis auf Gott negiert, indem das Geld beinahe als (Ersatz)religion unserer Tage, welcher getrost vertraut werden kann, interpretiert wird.8

Das Ende der Aktion

Die Laufzeit der Scheine endete am 29. Dezember 1993. Nach Ablauf der sieben Wochen hatte das „Geld“ nur noch Kunstwert. Daher nahmen auch die Landeszentralbanken keinen Anstoß an der „Prenzlberger Währungsreform“. Da mit den Blüten keine Geldähnlichkeit angestrebt sei, so die Bundesbank, handelte es sich auch nicht um Falschgeld. Das Knochengeld wiederum zu fälschen sei aber auch verboten, da dann das Urheberrecht der Künstler*innen verletzen würde. Anfang 1994 wurden schließlich auch die im November und Dezember gelaufenen Scheine9 für 80.000 DM versteigert.

Ein längerer Artikel zum Thema Knochengeld wird in der Zeitschrift „Geldgeschichtliche Nachrichten“ 332 im März 2024 erscheinen.

Literatur

Tannert, Christoph: Knochengeld, in: Krenzlin, Kathleen (Hg): Wochenmarkt und Knochengeld, S. 122-123, Berlin 2006

Küter, Alexa und Bernhard Weisser: Muse macht Moneten, Küter, Alexa, Bernhard Weisser: Kunst prägt Geld. MUSE MACHT MONETEN. Eine Ausstellung des Münzkabinetts mit Leihgaben der Sammlung Haupt „Dreißig Silberlinge – Kunst und Geld“, Das Kabinett 16, Berlin 2016, S. 153-156

Steguweit, Wolfgang: Scheingeld zu 20 Knochen, in: Numismatisches Nachrichtenblatt 43, 1994, S. 20f.

Ioë Bsaffot: Strategiepapiere I bis V, Berlin 1993

Petzold u.a. : Boheme und Diktatur in der DDR. Gruppen, Konflikte, Quartiere. 1970-1989. Katalog zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums vom 4.September bis 16.Dezember 1997

Fengler, Hein: Knochen-Geld in Prenzlauer Berg, in: Geldscheinsammler 9/93, S. 25 f.


1 Ioë Bsaffot: Strategiepapier II, Berlin d. 25.9.1993

2 Der Name der Gruppe war aus dem Ganoven-Rotwelsch-Terminus für „gefälschte Scheine“ entstanden (Ioë = falsch, gefälscht; Bsaffot = Papiere, Ausweis, Pass)

3 Küter, Alexa; Weisser, Bernhard: Muse macht Moneten, S. 154

4 Der Freitag, 12. November 1993, Nr. 46, Detlef Kuhlbrodt: Künstler drucken eigenes Geld.

5 Siehe Berichterstattung im Telegraph, 12/1993: Lothar Feix: Verrückt – Prenzlberger drucken eigenes Geld, S.10

6 Vielen Dank an die Hinweise von Herrn Tom Riebe von POESIE SCHMECKT GUT e.V., Jena, vlg. auch: Kaiser, Paul und Claudia Petzold (Hrsg.): Bohème und Diktatur in der DDR. Gruppen, Konflikte Quartiere 1970-1989. Katalog zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums vom 4. September bis 16. September 1997, Berlin 1997

7 Interview mit Christine Schlegel am 15.08.2023

8 Interview mit Breeda CC am 15.08.2023

9 Als „gelaufene Scheine“ bezeichnet man Scheine, die tatsächlich benutzt worden sind.

10 Interview mit MK Kähne am 14.7.2023

Dr. Lili Reyels

Dr. Lili Reyels ist Leiterin der Sammlung Finanz- und Wirtschaftsgeschichte am Deutschen Historischen Museum.

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„Die gegenwärtige Zeit ist schwanger von der Zukunft“ – Blicke zurück und Blicke nach vorn /blog/2023/12/18/die-gegenwaertige-zeit-ist-schwanger-von-der-zukunft-blicke-zurueck-und-blicke-nach-vorn/ /blog/2023/12/18/die-gegenwaertige-zeit-ist-schwanger-von-der-zukunft-blicke-zurueck-und-blicke-nach-vorn/#respond Mon, 18 Dec 2023 15:38:59 +0000 /blog/?p=8002 "Die gegenwärtige Zeit ist schwanger von der Zukunft" - Blicke zurück und Blicke nach vorn Lektüretipps für lange Winterabende von Dr. Matthias Miller]]> „Die gegenwärtige Zeit ist schwanger von der Zukunft“ – Blicke zurück und Blicke nach vorn

Lektüretipps für lange Winterabende von Dr. Matthias Miller | 18. Dezember 2023

Man kann sich ja nicht früh genug auf die Suche nach Weihnachtsgeschenken begeben, weshalb mich neulich – mit dem bekannten Leibniz-Zitat im Kopf – mein Weg in eine Buchhandlung führte. Es war der Samstag nach dem aus den USA herübergeschwappten Black Friday. Interessant, dachte ich: alle Läden bieten satte Rabatte, aber die Buchhandlung, die das wegen der Buchpreisbindung in Deutschland nicht kann, war dennoch proppenvoll, fast voller als andere Geschäfte. Nachdem ich mein Einkaufskörbchen mit Romanen bereits gut gefüllt hatte, landete ich in der Abteilung Geschichte. Und dort traute ich meinen Augen nicht: lauter dicke und dickste Bücher, unter 1.000 Seiten scheint es nicht mehr zu gehen.

Als erstes fiel mir Christopher Clark auf, sein neuestes Buch „Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt“ (DVA 2023) umfasst 1.168 Seiten und wird sicherlich für viele Jahre das Thema erschöpfend behandelt haben. Florian Felix Weyh bezeichnete Clark am 21. Oktober 2023 im Deutschlandfunk allerdings als „von Kürzungsfurcht geplagt“ und auch andere Rezensent*innen monierten die Materialfülle und Parallelität zahlreicher, oft als Nebenthemen empfundener Passagen, die das Buch unübersichtlich machten. Wer Clark als Autor kennt, weiß jedoch, dass er spannend erzählen kann und seine Leser*innen durch Detailkenntnis zu fesseln versteht.

Direkt daneben der nächste „Backstein“: „Weltenbrand. Der große imperiale Krieg 1931–1945“ (Rowohlt 2023) von Richard Overy. Bücher über den Zweiten Weltkrieg gibt es ja viele, die von Overy behandelte Zeitspanne jedoch ist ungewöhnlich, nimmt er doch mit dem Einfall Japans in die Mandschurei 1931 den weltumspannenden Aspekt des Zweiten Weltkrieges stärker als andere vor ihm in den Blick. Und so ist sein Werk eher eine Weltgeschichte des Imperialismus als das reine Erzählen der Kriegsereignisse in Europa. Das Werk umfasst 1.520 Seiten und wiegt 1,7 kg, eignet sich also nicht nur wegen seines Inhaltes eher schlecht als Bettlektüre.

Wie eine Fortsetzung von Overy liest sich Frank Trentmanns im wahrsten Sinne des Wortes gewichtiges Werk „Aufbruch des Gewissens. Eine Geschichte der Deutschen von 1942 bis heute“ (S. Fischer 2023). Mit seinen 1.036 Seiten fast schon unter dem Limit, handelt es, von Stalingrad als Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges ausgehend, von der Deutschen Geschichte bis in die Gegenwart. Dabei geht es nicht um eine bloße Aufzählung von Daten und Fakten, sondern das Buch entwirft von der Shoah über das Kriegsende, das Wirtschaftswunder in Westdeutschland, die 68er und die Wiedervereinigung hinweg eine Mentalitätsgeschichte der Deutschen, bei der stets die Frage nach Schuld, Moral und Erinnerung im Vordergrund stand. Dass Deutschland Einwanderungsland wurde, war lange politisch nicht anerkannt, dass den Opfern des Holocaust bis in die 60er Jahre hinein eine Anerkennung versagt war ebenso. Nach der Wiedervereinigung stand in Deutschland der Umgang mit autoritären Staaten oder der ambivalente moralische Kompass im Verhältnis zur Umweltbewegung im Vordergrund, von Migrationsdebatten in jüngster Vergangenheit ganz zu schweigen.

Und dann trug noch „Die Welt. Eine Familiengeschichte der Menschheit“ von Simon Sebag Montefiore (Klett-Cotta 2023) dazu bei, dass sich der Büchertisch fast durchbog. Mit 1.536 Seiten und gut 2,1 kg Gewicht gehört der Band sicherlich nicht zur leichten Literatur, allein schon deshalb, weil zu seiner Übertragung aus dem Englischen gleich sechs Übersetzer*innen nötig waren. Der Bogen der Menschheitsgeschichte, der als Familiengeschichte(n) erzählt wird, spannt sich von den Nubiern über die Osmanen, die Habsburger, die Romanows bis hin zu den Trumps und Putins unserer Tage. Ob das geschichtswissenschaftlich alles relevant und richtig ist, will ich nicht beurteilen, dass sich irgendwann Netflix aus den Familiengeschichten bedienen wird, scheint jedoch vorprogrammiert.

Nachdem von den 5.260 Seiten bzw. 6,5 kg Büchern der Boden meines Einkaufskörbchens schon fast durchgebrochen war, dachte ich: genug Geschichte, jetzt mal in die Zukunft! Zunächst blieb ich bei „2084. Das Ende der Welt“ von Boualem Sansal (Merlin Verlag 2016) hängen. In Anlehnung an Orwells Roman „1984“ beschreibt der Autor einen auf Religion beruhenden totalitären Staat, der die Vergangenheit leugnet. Individualisierung und gutgläubiges Vertrauen in das System sind die Faktoren, die das System erhalten. Ungläubige und Abtrünnige werden in ein Ghetto gesperrt, ein düsteres Szenario, das aktuell wieder Chancen gewinnt, Wirklichkeit zu werden.

Vom Altmeister des illustrierten Geschichtsbuches David Macaulay (die älteren erinnern sich an „Sie bauten eine Kathedrale“ aus dem Jahr 1973) stammt die Grafik-Novelle „Das Motel der Mysterien“ (Nünnerich-Asmus Verlag 2018). Nach einer Katastrophe im Jahr 2018 sind die USA untergegangen und ihre Bauten und Überreste liegen unter einer dicken Deckschicht begraben. Ein Archäologe des 5. Jahrtausends entdeckt eine versteckte Grabkammer, in der zwei Personen offenbar kultisch begraben wurden. Die eine liegt auf einer „zeremoniellen Liege“, die andere in der Hauptgrabkammer in einem offenen Sarkophag aus Porzellan. Mit einem Augenzwinkern erzählt Macaulay von den Interpretationen der Funde und der Deutung der Lebenswelt im 21. Jahrhundert durch einen Archäologen im Jahr 4018.

In der Kiste antiquarischer Bücher kurz vor dem Ausgang entdeckte ich noch zwei Klassiker: Ganz anders als 2084 von Sansal, weil in einer anderen Situation verfasst, liest sich „Das Jahr 2440. Ein Traum aller Träume“ von Louis-Sébastien Mercier. Der Roman erschien 1772 während der Zeit des Absolutismus in Frankreich (auf Deutsch Suhrkamp 1989). Der Protagonist schläft 1769 ein und erwacht im Jahr 2440 in Paris, das sich nach einer friedlichen Revolution zu einem sozialen und vernünftigen Gemeinwesen entwickelt hat. Steuern sind ebenso abgeschafft wie der Tabak, beides heute leider nicht Realität. Aber wer weiß? Vielleicht 2440.

Geradezu visionär auf dem Gebiet der Futurologie bewegte sich Ri Tokko, mit bürgerlichem Namen Ludwig Dexheimer, in seinem Buch „Das Automatenzeitalter. Ein prognostischer Roman“ (Amalthea-Verlag 1931, Neuausgabe Shayol 2004). Auf 900 Seiten und damit schon fast an die oben beschriebene Geschichtsliteratur heranreichend, beschreibt Dexheimer in einem Blick auf das Jahr 2500 eine Fülle detailliert ausgeführter Voraussagen, so zum Beispiel eine nach ökologischen Gesichtspunkten orientierte gesellschaftliche Infrastruktur, die Beeinflussung des Wetters durch die Emission von Kohlendioxid, Schnellbahnverbindungen über Kontinente hinweg sowie eine Gesellschaft, der es ermöglicht ist, individuell auf einen Bestand von Filmen und Büchern auf Mikrofilm zuzugreifen. Das Klonen von Menschen wird ebenso vorhergesagt wie der Einsatz von Hormonpräparaten zur Schwangerschaftsverhütung. Dies wirkt für die Zeit um 1930 sehr prognostisch und gleichzeitig doch erschreckend realistisch. Das Buch wurde zum 31. Dezember 1938 von der nationalsozialistischen Reichsschrifttumskammer wegen pazifistischer Ausrichtung in die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ aufgenommen und damit faktisch verboten. Wer hiervon kein Exemplar antiquarisch ergattern kann, kann seit neuestem eines in der DHM-Bibliothek im Lesesaal einsehen.

Wem das alles zu viel Geschichte und Zukunft ist, dem sei „Unsereins“ von Inger-Maria Mahlke (Rowohlt 2023) empfohlen, in deren Mittelpunkt die Familie Lindhorst in Lübeck steht. Das Bild der Lübecker Gesellschaft im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert und die Verästelungen der Lindhorsts ähneln nicht zufällig einer anderen bekannten Lübecker Familie, über die ein großer Sohn der Stadt 1901 einen zweibändigen Roman geschrieben hat, für den er 1929 den Literaturnobelpreis erhielt. Ob Mahlke diese Ehrung irgendwann zuteilwerden wird, bleibt abzuwarten.

 

Dr. Matthias Miller

Dr. Matthias Miller ist Leiter der Bibliothek und Leiter der Sammlung „Handschriften – Alte und wertvolle Drucke” des Deutschen Historischen Museums.

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Napoleons nasser Hut /blog/2023/12/13/napoleons-nasser-hut/ /blog/2023/12/13/napoleons-nasser-hut/#comments Wed, 13 Dec 2023 13:19:58 +0000 /blog/?p=7984 Napoleons nasser Hut Ein Blick in die Sammlungen des Deutschen Historischen Museums zeigt die große Vielfalt an Objekten, die im Bezug zu verschiedenen Epochen und Themen deutscher Geschichte stehen. Sie erzählen Geschichten von zurückliegenden oder aktuellen Lebenswelten, von berühmten und eher unbekannten Personen und Ereignissen. In unserer neuen Blogserie #Umweltsammeln stellen wir die Vielfalt unserer Sammlungsobjekte zum Themenfeld „Umwelt“ vor. Dabei eröffnen überraschende Fragestellungen der Sammlungsleiter*innen neue Perspektiven auf historische Objekte und oftmals erstaunliche Parallelen zu heutigen Fragestellungen. Dr. Thomas Weißbrich, Leiter der Militaria-Sammlung, nimmt ein besonderes Objekt unserer Sammlung den Hut Kaiser Napoleons I. aus der Schlacht bei Waterloo (18. Juni 1815) zum Anlass, um vom Einfluss des Wetters auf eine der bekanntesten Schlachten der europäischen Geschichte zu erzählen: den Hut Kaiser Napoleons I. aus der Schlacht bei Waterloo am 18. Juni 1815. ]]> Napoleons nasser Hut

Dr. Thomas Weißbrich | 13. Dezember 2023

Ein Blick in die Sammlungen des Deutschen Historischen Museums zeigt die große Vielfalt an Objekten, die im Bezug zu verschiedenen Epochen und Themen deutscher Geschichte stehen. Sie erzählen Geschichten von zurückliegenden oder aktuellen Lebenswelten, von berühmten und eher unbekannten Personen und Ereignissen. In unserer neuen Blogserie #Umweltsammeln stellen wir die Vielfalt unserer Sammlungsobjekte zum Themenfeld „Umwelt“ vor. Dabei eröffnen überraschende Fragestellungen der Sammlungsleiter*innen neue Perspektiven auf historische Objekte und oftmals erstaunliche Parallelen zu heutigen Fragestellungen.

Dr. Thomas Weißbrich, Leiter der Militaria-Sammlung, nimmt ein besonderes Objekt unserer Sammlung zum Anlass, um vom Einfluss des Wetters auf eine der bekanntesten Schlachten der europäischen Geschichte zu erzählen: den Hut Kaiser Napoleons I. aus der Schlacht bei Waterloo am 18. Juni 1815.

Wetter macht Geschichte

„Hätte es nicht in der Nacht vom 17. zum 18. Juni geregnet, so hätte sich die Zukunft Europas anders gestaltet. Einige wenige Tropfen Wasser haben die Waagschale des Geschicks zu Ungunsten Napoleons geneigt.“1 Mit dieser dramatischen Zuspitzung lässt Victor Hugo den Erzähler seines Romans „Die Elenden“ (1862) die Niederlage der von Napoleon geführten französischen Armee in der Schlacht bei Waterloo 1815 kommentieren. Tatsächlich hat das Wetter den Verlauf dieser für die europäische Geschichte bedeutenden Schlacht beeinflusst.2 Über die Frage, wieweit der Regen sich auf Sieg und Niederlage auswirkte, spekulieren Militärhistoriker bis heute.3

Bei den Bemühungen, militärische Aktionen zu planen, war (und ist) das Wetter ein unberechenbarer Faktor. Es gehört zu den „Friktionen“, über die der preußische Offizier und Militärtheoretiker Carl von Clausewitz bemerkt, dass sie den Unterschied zwischen Plan und Wirklichkeit ausmachen. So fanden Schlachten und Belagerungen bei Sonne und im Regen statt, unter dunklen Wolken, bei starkem Wind, bei Sommerhitze und Minusgraden – 1588 beschädigte ein Sturm die zur Invasion Englands aufgebrochene spanische Armada schwer, 1812 zwang „General Winter“ die „Grande Armée“ zum Rückzug aus Russland und 1944 verschoben die Alliierten den Termin für ihre Landung in der Normandie aufgrund der Wetterlage mehrfach.4 Derartige Wettereinflüsse fanden bislang jedoch nur selten in geschichtswissenschaftlichen Darstellungen hinreichende Beachtung, da sich diese in der Regel auf das militärische Geschehen konzentrieren.

Der Regen vor der Schlacht

Abb. 1: Donner und Blitz: Ein Starkregen ergoss sich kurz vor der Schlacht in der Gegend um Waterloo.
(Ausschnitt aus dem Gemälde von John Heaviside Clark, Am Morgen nach der Schlacht von Waterloo, ca. 1816, DHM, 1990/425)

Es waren nicht nur „einige wenige Tropfen Wasser“, die vom Abend des 17. Juni bis zu den frühen Morgenstunden des 18. Juni 1815 in der Gegend des belgischen Ortes Waterloo vom Himmel fielen, sondern ein stundenlang andauernder Regen, der bereits am Nachmittag begonnen hatte und dem ein starker Sturm vorausgegangen war.5 Augenzeugen berichten von wahren Sturzfluten und selbst die regengewohnten Briten betonen die ungewöhnliche Regenstärke.

Aus den unbefestigten Landstraßen, über die die Soldaten, insgesamt rund 185.000 Mann, in Richtung Waterloo marschierten, waren im Nu aufgeweichte Wege voller Pfützen geworden. Die mit Marschgepäck beladenen Infanteristen stapften durch den Matsch, wobei der eine oder andere Schuh im Schlamm stecken blieb. Auch Pferde der Reiterei und die Zugpferde der schweren Kanonen und Munitionswagen versanken bis zu den Fesseln.

Wachstuch und Regendeckel

Abb. 2: Regenschutz: Den Tschako schütze ein Überzug aus Wachstuch.
(Tschako M 1808 für Mannschaften, mit Wachstuchüberzug, Nachbildung 2013, DHM, U 2014/8 und U 2014/9)

Gegen schlechtes Wetter gab es im frühen 19. Jahrhundert kaum schützende Kleidung – das galt für alle bei Waterloo versammelten Armeen, für die französische ebenso wie für die verbündete britisch-niederländisch-preußische: Als Kopfbedeckung trugen viele Soldaten die aus Filz gefertigten und mit Leder verstärkten Tschakos. Zum Schutz gegen Nässe konnten diese mit einem Wachstuch überzogen werden, eine Maßnahme, die vor allem ihre Haltbarkeit verlängern sollte. Die Uniformen waren aus Wolltuch, Jacken und Hosen aus Kostengründen eng geschnitten. Das Wollfett ließ die Regentropfen zwar eine Weile abperlen, aber bei Starkregen wie diesem funktionierte der natürliche Nässeschutz nicht mehr. Die Kleidungsstücke wurden allmählich feucht und damit schwer. Wenn beim Färben der Stoffe nachlässig gearbeitet worden war, konnte es vorkommen, dass sie ausfärbten. Einen gewissen Schutz gegen das vollständige Durchnässen boten Mäntel, die damals erst seit wenigen Jahren zur Ausstattung der Soldaten gehörten.

Die Qualität der Bekleidungs- und Ausrüstungsstücke war von Einheit zu Einheit verschieden. Während die Elite wie die kaiserliche Alte Garde gut ausgestattet war, traf das für andere Einheiten nicht zu, so litten die preußischen Landwehrregimenter unter ihrer teilweise improvisierten Ausstattung.

Die Nässe konnte jedoch auch Schusswaffen unbrauchbar machen. Wenn die Papierpatronen der Steinschlossgewehre und Pistolen oder das Schwarzpulver und die Zündschnüre für die Kanonen feucht wurden, waren sie zunächst nicht mehr funktionsfähig. Munition wurde daher in ledernen Taschen aufbewahrt, größere Vorräte in Holzkisten. Zum Schutz der empfindlichen Gewehrschlösser diente das Umwickeln mit Tüchern. In der preußischen Armee gab es den sogenannten Regendeckel, eine Schutzhülle aus Leder, die man um das Gewehrschloss band.6

Feldlager und Gasthof

Abb. 3: Im Feldlager. Lagerfeuer boten Gelegenheit, warmes Essen zuzubereiten.
(Französische Infanteristen im Lager, um 1815, DHM, MGr 54/118.5)

Als sich die Truppen beider Heere in der Nähe von Waterloo sammelten, hatten die meisten Soldaten lange Tagesmärsche hinter sich.7 Manche Infanteristen hatten bis zu 15 Kilometer zurückgelegt, ihr Gepäck wog bis zu 30 Kilogramm, körperlich erschöpft trafen sie ein. In der regnerischen Nacht vom 17. auf den 18. Juni konnten nur wenige von ihnen geschützte Unterkünfte wie Scheunen oder Bauernhöfe wie den Gutshof La Haye Sainte als Lager beziehen. Die meisten übernachteten, wie üblich, unter freiem Himmel, wo sie im Biwak ihre Zelte aufschlugen. Wenn trockenes Holz vorhanden war, spendeten Lagerfeuer zumindest etwas Wärme und boten die Gelegenheit, Essen zu kochen oder zu braten und warme Getränke zuzubereiten. Da die gegnerischen Truppen jedoch dicht benachbart lagerten, war manchen von ihnen aus Sicherheitsgründen das Feuermachen verboten. Viele Soldaten schliefen in ihren klammen Uniformen, die Mäntel dienten als Decke. Zum Trocknen der Kleidung gab es kaum Gelegenheit.

Höhere Offiziere hingegen quartierten sich standesgemäß in Häusern ein. So bezogen Wellington und sein Gefolge einen Gasthof, Napoleon mit seinem Stab ein Bauernhaus in der Nähe von Waterloo. Dort entwarf er den Schlachtplan für den kommenden Tag. Zu den Kleidungsstücken, die der Regen vor der Schlacht allmählich durchnässt hatte, gehörte neben dem grauen Mantel auch sein Hut. Da der Feldherr in seinem Gepäck aus Gewohnheit immer mehrere Ersatzhüte mit sich nahm, tauschte er ihn gegen einen trockenen aus. Den klammen Zweispitz schickte er seinem Hutmacher Poupart zum Aufarbeiten nach Paris.8

Einen ungewöhnlichen Anblick bot der britische Lieutenant-General Sir Thomas Picton: Er erschien auf dem Schlachtfeld in modischer Zivilkleidung mit Zylinder – sein Gepäck war mitsamt Uniform beim Transport nach Belgien verschwunden. Angesichts der Wetterlage hatte Picton auch einen Regenschirm mitgebracht, den er an Stelle des Degens nutzte, um seinen Truppen ihren Platz im Feld anzuweisen. Abgesehen davon, dass ein Regenschirm ein höchst ungewöhnlicher Gegenstand in den Händen eines gestandenen Offiziers war, galt dieser im 18. Jahrhundert erfundene Regenschutz lange Zeit als typisches Damenaccessoire.

Die Folgen des Starkregens beeinflussten am nächsten Morgen auch die Vorbereitungen der Schlacht: Auf dem aufgeweichten Boden konnte die französische Artillerie nämlich nur mühsam in Stellung gebracht werden. Der Kampf begann daher erst um die Mittagszeit, viel später als von Napoleon vorgesehen. Diese Verzögerung gefährdete seinen Plan, die unter dem Befehl von Wellington stehenden britisch-niederländischen Truppen zu schlagen, bevor sich diese mit den von Generalfeldmarschall Blücher herangeführten Preußen zusammenschließen konnten. Tatsächlich trafen diese am späten Nachmittag auf dem Schlachtfeld ein, zu dem Zeitpunkt, als die Briten in Bedrängnis gerieten. Mit zusammengeführten Kräften gelang es, den französischen Kaiser in die Flucht zu schlagen.

Napoleons trockener Hut

Abb. 4: Trocken geblieben. Napoleons Ersatzhut aus der Schlacht bei Waterloo (Zweispitz von Napoleon I., 1815,DHM, U 353)

Nach der verlorenen Schlacht zog sich Napoleon nach Brüssel zurück. Unterwegs ließ er seine Reisekutsche stehen und nahm das Pferd, da der Wagen drohte, beim Rückzug auf den vom Regen aufgeweichten Landstraßen steckenzubleiben. Unbegründet war diese Befürchtung nicht, denn tatsächlich geriet die leere Kutsche im Dorf Genappe in den Stau der sich auflösenden französischen Armee. Dort erbeuteten sie preußische Füsiliere – und mit ihr einen weiteren im Wagen verbliebenen Hut. Diesen schickte Blücher als Trophäe zusammen mit anderen Beutestücken an den preußischen König Friedrich Wilhelm III. nach Berlin. Napoleons Zweispitz war zunächst in der königlichen Kunstkammer im Schloss und später, in einer Vitrine konserviert, in Museen zu bewundern.9

Nach der Niederlage und der Abdankung wurde Napoleon ins Exil nach St. Helena verbannt. Das Klima der südatlantischen Insel ist durch sehr hohe Luftfeuchtigkeit von rund 85 % gekennzeichnet. Hier trug der Ex-Kaiser keinen schwarzen Filzhut mehr, sondern passenderweise einen Sonnenhut aus Stroh.


1 https://www.projekt-gutenberg.org/hugo/elenden2/chap001.html; Erstes Buch. Waterloo, III. Am 18. Juli 1815

2 Vgl. https://www.dhm.de/lemo/kapitel/vormaerz-und-revolution/wiener-kongress/schlacht-bei-waterloo.html; Marian Füssel, Waterloo 1815, München 2015.

3 Vgl. Stephen Clarke, How the French won Waterloo (or think they did), London 2015, S. 54-60.

4 Vgl. Jan Klage, Wetter macht Geschichte. Der Einfluss des Wetters auf den Lauf der Geschichte, Frankfurt a.M. 2003.

5 Vgl. J. Neumann, Great Historical Events That Were Significantly Affected by the Weather. Part 11: Meteorological Aspects of the Battle of Waterloo, in: Bulletin of the American Meteorological Society, 73 (1993), S. 413-420.

6 Vgl. http://www.5-preussische-brigade.de/wb/pages/militaer-allgemein/ausruestung/allgemeine.php#dinge

7 Vgl. John Keegan, Das Antlitz des Krieges, Düsseldorf / Wien 1978, S. 154-159.

8 Der Hut blieb fast 100 Jahre als Reliquie im Familienbesitz, heute gehört er zur Sammlung der Musées Sens. Vgl. https://www.musees-sens.fr/les-collections/salle-napoleon/

9 Aus der königlichen Kunstkammer wurde der Hut an das 1883 im Zeughaus eröffnete preußische Armeemuseum überwiesen. Von dort kam er nach dem Ende der Monarchie 1918 über die ebenfalls im Zeughaus befindlichen Museen Staatliches Zeughaus, Heeresmuseum der Wehrmacht und dem zentralen Geschichtsmuseum der DDR, dem „Museum für Deutsche Geschichte“, 1990 in die Sammlung des Deutschen Historischen Museums.

Dr. Thomas Weißbrich

Dr. Thomas Weißbrich ist Leiter der Militaria-Sammlung im DHM, die Uniformen, Fahnen, Orden, Ehrenzeichen und Uniformkundliche Graphik umfasst.

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1.200 Unterschriften und ein Radpanzer hinter der DDR-Botschaft /blog/2023/11/22/1-200-unterschriften-und-ein-radpanzer-hinter-der-ddr-botschaft/ /blog/2023/11/22/1-200-unterschriften-und-ein-radpanzer-hinter-der-ddr-botschaft/#respond Wed, 22 Nov 2023 12:31:02 +0000 /blog/?p=7930 1.200 Unterschriften und ein Radpanzer hinter der DDR-Botschaft Als Wolf Biermann im November 1976 aus der DDR ausgebürgert wurde, studierte Rolf Brockschmidt an der Utrechter Universität in den Niederlanden. Auch hier sorgte die Ausweisung für Empörung. Spontan gründeten Germanistikstudenten das Komitee „Biermann blijft DDR-Staatsburger“, an dem sich auch Brockschmidt beteiligte. Über ihr Engagement und den Versuch der DDR-Botschaft eine Petition gegen die Ausbürgerung zu überreichen, schreibt Rolf Brockschmidt im DHM-Blog.]]> 1.200 Unterschriften und ein Radpanzer hinter der DDR-Botschaft

Rolf Brockschmidt | 22. November 2023

Als Wolf Biermann im November 1976 aus der DDR ausgebürgert wurde, studierte Rolf Brockschmidt an der Utrechter Universität in den Niederlanden. Auch hier sorgte die Ausweisung für Empörung. Spontan gründeten Germanistikstudenten das Komitee „Biermann blijft DDR-Staatsburger“, an dem sich auch Brockschmidt beteiligte. Über ihr Engagement und den Versuch der DDR-Botschaft eine Petition gegen die Ausbürgerung zu überreichen, schreibt Rolf Brockschmidt im DHM-Blog.

Biermann ist ausgebürgert! Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe. Krisensitzung unterm Dach des Instituts für Germanistik der Rijksuniversiteit te Utrecht. Gregor Laschen, Dozent und Dichter, versammelte eine Handvoll seiner Studenten und mich als Gaststudent in seinem Zimmer. Er rief in unserer Anwesenheit den Bürgerrechtler Robert Havemann an. Der lehnte sich in Ost-Berlin aus dem Fenster und berichtete, dass vor Biermanns Haus Volkspolizei stehe. Wir hatten das Gefühl, in diesem historischen Moment live dabei zu sein. Auf Laschens Initiative gründeten seine Studenten spontan das Komitee „Biermann blijft DDR-Staatsburger“ („Biermann bleibt DDR-Staatsbürger“), bei dem ich mitarbeitete. Ich war 1976 an die Utrechter Universität gekommen, um hier für ein Jahr Niederlandistik und Germanistik zu studieren.

Gregor Laschen war gut vernetzt, gerade hatte er mit seinen Kontakten einer Gruppe von Studenten geholfen, eine 2. Auflage einer Anthologie deutschsprachiger Literatur mit bisher unveröffentlichten Texten herauszugeben. Biermann war mit seinem Gedicht „Ballade vom preußischen Ikarus“ in der ersten Auflage (Mai 1976) darin bereits vertreten. Das Lied hatte er auf dem legendären Konzert in Köln am 13. November 1976 gesungen, kurz bevor er ausgebürgert wurde.

Die Empörung unter niederländischen Intellektuellen war groß, liebäugelten doch manche von ihnen wie Biermann selbst mit der seit 1975 aufkommenden Idee des Eurokommunismus, der einen Weg jenseits des Staatskommunismus der Sowjetunion in der Demokratie finden wollte. Der DDR war diese Idee mehr als suspekt.

Das Biermann-Komitee der Niederlande posiert mit Transparent vor der Botschaft der DDR in Den Haag am 08. Dezember 1976. Vom ersten Stock der Botschaft aus wurde die Aktion eifrig fotografiert. Foto: Rolf Brockschmidt

Für uns ging es darum, möglichst viele Unterschriften für eine Petition gegen Biermanns Ausbürgerung zu sammeln. In dem Entzug der Staatsbürgerschaft sah das Komitee „einen ernsthaften Verstoß gegen die Menschenrechte“, wie später in der niederländischen Tageszeitung „de Volkskrant“ zu lesen war.

Der harte Kern des Komitees bestand aus etwa zehn Personen. Wir versuchten, unsere Mitstudierenden zu überzeugen, die Petition zu unterschreiben – was nicht immer einfach war, weil die niederländischen Studierenden längst nicht so politisiert waren wie ihre West-Berliner Kommilitonen.

„Wolf Biermann als einen Feind Ost-Deutschlands abzustempeln, ist auf Grund seiner deutlich positiven Äußerungen in Liedern und Texten eine Unwahrheit“, hieß es in der Petition, die der Botschaft der DDR im Andries Bickerweg in Den Haag übergeben werden sollte.

Aber nicht alle sahen das so blauäugig. Der erste Botschafter der Niederlande in der DDR, K.W. Reinink, bezeichnete Biermann als den „Don Quichotte der DDR-Kulturszene“, der sich „für eine DDR einsetzt, die nicht besteht und auch nicht bestehen kann“, zitiert ihn Jacco Pekelder, Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien in Münster und Autor des Buches „Die Niederlande und die DDR. Bildformungen und Beziehungen 1949-1989“1.

Gerne hatte man damals, als in der Bundesrepublik Berufsverbote herrschten, in intellektuellen Kreisen der Niederlande die DDR als den wahren antifaschistischen deutschen Staat gesehen. Dass nun ausgerechnet dieser vermeintlich bessere Staat so hart gegen linke Kritiker vorging, stieß auf heftige Ablehnung.

Unser Biermann-Komitee hatte der Botschaft der DDR angekündigt, am 8. Dezember 1976 die 1200 Unterschriften persönlich zu überreichen. Vor der Botschaft erwarteten uns zehn Polizisten in blauen Uniformen, zum Teil in Lederjacken, mit Schirmmützen. Sie warteten in Mercedes-Limousinen auf uns. Ein für West-Berliner Augen sehr ziviler Auftritt.

Diskussion mit der Polizei vor der Botschaft der DDR in Den Haag. Foto: Rolf Brockschmidt

Als wir zehn Teilnehmer der Aktion zur Botschaft wollten, fragte der Einsatzleiter, ob dies eine Demonstration sei. Eine solche sei nicht angemeldet. Sollte es sich aber doch um eine Demonstration handeln, sei sie hiermit genehmigt. „So handhaben wir das in Den Haag.“ Der Satz ist mir in Erinnerung geblieben. Ich hielt mich etwas abseits, trug Sonnenbrille und einen Schal um den Mund, da ich ja noch im Transit mit dem Zug nach West-Berlin durch die DDR reisen musste.

Ein paar von uns gingen dann mit den Unterschriftenlisten zum Tor der Botschaft und klingelten. Man sagte uns über die Gegensprechanlage, die Botschaft sei geschlossen und man werde die Unterschriften nicht annehmen. Den Öffnungszeiten auf dem Messingschild konnte man allerdings entnehmen, dass die Botschaft eigentlich geöffnet war. Ein Reporter des linken Radiosenders VARA hatte uns begleitet und hielt sein Mikrofon an die Gegensprechanlage. Doch das Botschaftspersonal verweigerte die Annahme. Daraufhin landete der Umschlag im Briefkasten. Als wir zu den Autos zurückgingen, entdeckten wir hinter der Botschaft einen Radpanzer der Haager Polizei. Sicher ist sicher. Ganz so harmlos, wie es schien, war es also doch nicht. Offensichtlich hatte sich die DDR-Botschaft bedroht gefühlt. Bilanz der Aktion: Drei Meldungen im Radio und im Fernsehen sowie einen kleinen Artikel in „de Volkskrant“ mit der Überschrift „Botschaft lehnt Unterschriften für Biermann ab“2.

Protesaktion des Biermann-Komitees der Niederlande vor der Botschaft der DDR in Den Haag. Diskussion mit dem Einsatzleiter der Haager Polizei, ob die Unterschriftenübergabe als Demonstration zu werten sei. Foto: Rolf Brockschmidt

Wolf Biermann wiederum hatte sich nach dem Köln-Schock entschieden, seine nächsten Konzerte nicht in der Bundesrepublik zu geben, sondern in den Niederlanden. Am 27. Februar 1977 fuhr unsere Studentengruppe auf Kosten des Goethe Instituts mit einem Bus nach Nijmegen, wo Biermann auftrat. Ich erinnere mich an einen vollen großen Konzertsaal. Biermann trat mit der Gitarre auf, setzte sich auch ans Klavier und spielte seine Lieder, auch den „Preußischen Ikarus“. Er moderierte sich selbst, reagierte auf Zurufe aus dem Saal, blieb bissig und witzig, sparte nicht mit Kritik, weder am Westen noch am Osten. Die Menschen hingen an seinen Lippen. Selbst in der Pause diskutierte er engagiert auf der Bühne mit dem Publikum. Ich stand die ganze Zeit vorne an der Bühne und hatte fotografiert. Nach viereinhalb Stunden, es war deutlich nach Mitternacht, gab es donnernden Applaus, stehende Ovationen. Biermann wirkte sichtlich erschöpft, aber glücklich. Ein denkwürdiger Abend auf neutralem Boden.


1 Jacco Pekelder: Die Niederlande und die DDR. Bildformung und Beziehungen, 1949-1989. Münster 2002, https://www.uni-muenster.de/NiederlandeNet/nl-wissen/geschichte/ddr/biermann.html

2 „Ambassade weigert handtekeningen voor Wolf Biermann“, de Volkskrant, 9. Dezember 1976.

Rolf Brockschmidt

Rolf Brockschmidt hat Germanistik, Niederlandistik und Geschichte an der Freien Universität Berlin und an der Rijksuniversiteit te Utrecht studiert. Von 1977-1981 berichtete er als freier Mitarbeiter für das Niederländische Programm des Deutschlandfunks aus West-Berlin. Von 1982-2018 war er nach einem Volontariat Redakteur beim Tagesspiegel, für den er heute noch als freier Journalist schreibt.

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Stickerei als Medium zur Darstellung und Ordnung der Welt /blog/2023/11/14/stickerei-als-medium-zur-darstellung-und-ordnung-der-welt/ /blog/2023/11/14/stickerei-als-medium-zur-darstellung-und-ordnung-der-welt/#comments Tue, 14 Nov 2023 12:33:30 +0000 /blog/?p=7897 Stickerei als Medium zur Darstellung und Ordnung der Welt Ein Blick in die Sammlungen des Deutschen Historischen Museums zeigt die große Vielfalt an Objekten, die im Bezug zu verschiedenen Epochen und Themen deutscher Geschichte stehen. Sie erzählen Geschichten von zurückliegenden oder aktuellen Lebenswelten, von berühmten und eher unbekannten Personen und Ereignissen. In unserer neuen Blogserie #Umweltsammeln stellen wir die Vielfalt unserer Sammlungsobjekte zum Themenfeld „Umwelt“ vor. Dabei eröffnen überraschende Fragestellungen der Sammlungsleiter*innen neue Perspektiven auf historische Objekte und oftmals erstaunliche Parallelen zu heutigen Fragestellungen. Julia Franke, als Sammlungsleiterin u.a. für die zivilen Textilien zuständig, betrachtet ein Stickbild, das Natur nach Ordnungsprinzipien der Aufklärung darstellt – und dabei liebliche Blumengirlanden mit einem Vulkanausbruch kombiniert.]]> Stickerei als Medium zur Darstellung und Ordnung der Welt

Julia Franke | 15. November 2023

Ein Blick in die Sammlungen des Deutschen Historischen Museums zeigt die große Vielfalt an Objekten, die im Bezug zu verschiedenen Epochen und Themen deutscher Geschichte stehen. Sie erzählen Geschichten von zurückliegenden oder aktuellen Lebenswelten, von berühmten und eher unbekannten Personen und Ereignissen. In unserer neuen Blogserie #Umweltsammeln stellen wir die Vielfalt unserer Sammlungsobjekte zum Themenfeld „Umwelt“ vor. Dabei eröffnen überraschende Fragestellungen der Sammlungsleiter*innen neue Perspektiven auf historische Objekte und oftmals erstaunliche Parallelen zu heutigen Fragestellungen.

Julia Franke, als Sammlungsleiterin u.a. für die zivilen Textilien zuständig, betrachtet ein Stickbild, das Natur nach Ordnungsprinzipien der Aufklärung darstellt – und dabei liebliche Blumengirlanden mit einem Vulkanausbruch kombiniert.

Das Stickbild wirkt auf den ersten Blick anmutig und fröhlich mit den kleinformatigen Tieren und farbenfrohen Blumen und Federn, aber eine ordnende, ja systematisierende Hand hat der in vielfältigen Erscheinungsformen auftretenden Natur Einhalt geboten. Naturalistisch wie wertschätzend präsentiert das Stickbild eine weitgehend einheimische Vielfalt von Flora und Fauna. Unterhalb einer Reihe mit gesticktem Alphabet und dem mutmaßlichen Entstehungsdatum (12. März 1801) gruppieren sich Tiere verschiedener Gattungen – Säugetiere, Vögel, Insekten – und unterschiedliche Szenerien idealtypischer Landschaftsgärten. Zentrales Motiv, sogar mit einer feinen Schleife verziert, ist die Darstellung eines rauchenden Vulkans, wohl des Vesuvs. Damit ist ebenso ein bedrohliches Naturphänomen wie ein Vulkanausbruch Teil des Bildprogramms der Stickerei. Anschließend folgt eine Reihe von mehr als 20 Feder-Darstellungen. Die untere Hälfte des Stickbildes bestimmen Darstellungen von Pflanzen – Blumenmotive in Form von Sträußen und Girlanden – die Blumengebinde der oberen Reihe rechts werden zudem von Raupen beziehungsweise einem Falter „besucht“.

Stickbild mit ABC und naturkundlichen Motiven, 1801 aus der Sammlung des DHM © DHM

Repräsentative Nadelmalerei

Im 18. Jahrhundert wurden diese kunstvollen Handarbeiten für die Raumausstattung sowie für Kleidung und Accessoires angefertigt. Die aufwendigen Verzierungen sollten den jeweiligen Gegenständen einen höheren Repräsentationswert verleihen. Dieses auf Seide gestickte Bild zeichnet sich durch die im 18. Jahrhundert aufkommende feine Nuancierung der Farben aus. Durch die Plattstichmuster wirken die Farbverläufe bzw. Farbschattierungen der Garne sehr weich. Insbesondere bei den Darstellungen der Federn wie der Pflanzenmotive wird nachvollziehbar, warum diese Technik auch Nadelmalerei genannt wird.

Ausgeführt wurden die Stickereien nicht nur in kommerziell arbeitenden Werkstätten und Ateliers oder in Klöstern, sondern ebenso in privaten Haushalten. In bürgerlichen wie adeligen Kreisen galt insbesondere die Seidenstickerei als eine anerkannte Beschäftigung für Frauen und Mädchen. Die einzelnen Motive und Muster wurden in der Regel anhand von überlieferten Tüchern tradiert. Seit dem 16. Jahrhundert sind in Deutschland aber auch sogenannte Modelbücher bekannt, die Vorlagen in Form eines Holzschnitts einschlossen. Im 18. Jahrhundert kamen richtige Musterbücher auf den Markt, die Kupferstiche enthielten, mittels derer sich die Stickerinnen für die Verzierung von Tüchern und Bezügen, von Schürzen, Kleiderkanten und Hauben inspirieren lassen konnten.1 Stickbilder wurden im späten 18. Jahrhundert und dann vor allem im 19. Jahrhundert gerahmt an die Wand gehängt.

Naturkundliches Wissen

Nicht ein wie im Kontext von Stickmustertüchern häufig verwendetes christliches Bildprogramm ist Thema und Inhalt dieses Stickbildes. Die präzise und sorgfältige Stickerei verweist in ihrer beinahe zoologischen Genauigkeit vielmehr auf ein Wissen über die Natur und den Wunsch danach, diese möglichst detailgenau nachzuempfinden. Vögel wie Stein- und Seeadler, Reiher, Birkhuhn und Storch finden sich unter den Tierdarstellungen ebenso wie Bär, Kuh, Hirsch, Hund, Katze, Eichhörnchen, Schaf und Ziege oder Insekten wie Mai- und Hirschkäfer, Kohlweißling und Ameise. Hinter der Auswahl der verschiedenen Motive verbergen sich geistes- und wissenschaftshistorische Prinzipen des 18. Jahrhunderts als Axiome der Aufklärung: Methodische Vorgehensweisen, die auf Rationalität, Empirie und Universalismus gründen, sind hier verknüpft mit dem Ordnen der Welt. Die Ordnung der Welt ist eine grundlegende Praxis der Wissenschaften: Lebewesen werden nach bestimmten Merkmalen in Arten, Gattungen, Klassen und andere Kategorien unterschieden. Bereits 1753 war Species Plantarum erschienen, auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch das Standardwerk zur Beschreibung von Pflanzen von Europas führendem Pflanzensystematiker Carl von Linné. Der Gedanke der Klassifizierung findet sich auch auf dem seidenen Stickbild. Die Anordnung der Motive folgt einer Systematisierung, die eine Unterscheidung von Tieren, Pflanzen und menschlichen Ideen und Einflüssen vornimmt. Wissen über „die Natur“ wird und wurde gemacht – auch anhand der Kulturtechnik des Stickens.

Ein Ausschnitt aus dem Stickbild von 1801 aus der Sammlung des DHM © DHM

Ein Bild von Natur

Einerseits betrieb die namentlich nicht überlieferte Stickerin dieses Bildes eine empirische wie akribische Arbeit an „der Natur“ und stand damit in der Tradition der Aufklärung. Zugleich erfolgte die Auswahl der Motive – insbesondere die der vier Szenerien, die durch Landschaftsgärten bzw. pastorale Kulturlandschaften inspiriert waren – einem Kult des Empfindens der Romantik. Die Tiere und Pflanzen, Blumengirlanden und idyllischen Szenerien wurden auch unmittelbar aufgrund ihrer ästhetischen wie symbolischen Qualitäten wertgeschätzt. Unter den gestickten Blumen finden sich etwa Veilchen und Rose, Symbole für Bescheidenheit, Demut bzw. Liebe. Die Formen, Farben und Zartheit ihrer Blüten sollten als wahrhaftig und schön genossen werden. Die Landschaftsgarten-Szenen beinhalteten zudem eine politische Dimension: Im Gegensatz zu streng geometrisch angelegten Gärten des Barocks wurden freiere, vermeintlich „natürlichere“ Naturdarstellungen – als Ausdruck einer freieren und harmonischeren Gesellschaftsordnung angesehen. Natur wird hier zwar in ordnende Klassifizierungen eingeteilt, aber gleichzeitig soll sie sich uneingeschränkter entfalten können als zuvor. Das ästhetische Wohlgefallen an den naturkundlichen Motiven verband sich also mit Gefühlen von Romantik und Freiheit.

Die Darstellung eines Vulkanausbruchs hebt sich nur scheinbar von den übrigen Motiven ab. Denn im Laufe des 18. Jahrhunderts kommt es zu einem veränderten Verständnis von Naturkatastrophen. Durch ihre beginnende Erforschung können die zerstörerischen Naturgewalten genauer untersucht und ihre Entstehung besser verstanden werden. Sie werden fortan nicht mehr als bloßes Zeichen eines zürnenden Gottes gedeutet und verlieren zunehmend an Schrecken.2 Dies geht sogar so weit, dass in ihrer Kraft und Gewalt eine Schönheit und Erhabenheit erkannt wird – und ein Vulkanausbruch zum Motiv eines Stickbildes wird.

Der zeitgenössische Anspruch, „die Natur“ zu erforschen, ist in diesem Objekt kombiniert mit einer ästhetischen Darstellung und Vermittlung von Natur bzw. Natürlichkeit. Natur als Wert der Aufklärung und der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft hingen hiermit also auf Seide gestickt an der Wand.


1 Vgl. Nina Gockerell: Gestrickt, gestickt, gedruckt. Mustertücher aus vier Jahrhunderten. Weilheim 1978.

2 Vgl. Christoph Daniel Weber: Vom Gottesgericht zur verhängnisvollen Natur. Darstellung und Bewältigung von Naturkatastrophen im 18. Jahrhundert. Hamburg 2015.

Julia Franke

Julia Franke ist Historikerin und im Deutschen Historischen Museum Sammlungsleiterin für Alltagskultur.

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Leihverkehr als logistische und kommunikative Meisterleistung /blog/2023/11/01/leihverkehr-als-logistische-und-kommunikative-meisterleistung/ /blog/2023/11/01/leihverkehr-als-logistische-und-kommunikative-meisterleistung/#respond Wed, 01 Nov 2023 10:04:45 +0000 /blog/?p=7850 Leihverkehr als logistische und kommunikative Meisterleistung Die Objekte in Ausstellungen stammen oftmals nicht nur aus den eigenen Museumssammlungen, sondern gehören auch anderen Institutionen und Privatpersonen. Diese bereitzustellen, bedarf einer größeren Logistik und der Kompetenz unterschiedlicher Fachgebiete eines Museums. Karen Klein, die als Registrar für den externen Leihverkehr im Deutschen Historischen Museum zuständig ist, gibt einen Einblick hinter die Kulissen unseres Hauses am Beispiel einer großen Leihanfrage für das Museum Arnhem.]]> Leihverkehr als logistische und kommunikative Meisterleistung

Karen Klein | 1. November 2023

Die Objekte in Ausstellungen stammen oftmals nicht nur aus den eigenen Museumssammlungen, sondern gehören auch anderen Institutionen und Privatpersonen. Diese bereitzustellen, bedarf einer größeren Logistik und der Kompetenz unterschiedlicher Fachgebiete eines Museums. Karen Klein, die als Registrar für den externen Leihverkehr im Deutschen Historischen Museum zuständig ist, gibt einen Einblick hinter die Kulissen unseres Hauses am Beispiel einer großen Leihanfrage für das Museum Arnhem.

Im Frühjahr 2022 trat das Museum Arnhem mit einer langen Wunschliste an die Leiterin der Kunstsammlung des DHM heran. Über 70 Gemälde aus dem Bestand „Haus der Deutschen Kunst“ und „German War Art Collection“ sowie das Modell der Ausstellung „Entartete Kunst“ wurden für die Ausstellung „Art in the Third Reich“ für Oktober 2023 angefragt.

Eines der angefragten Gemälde des Museums Arnhem, Gemälde „Kanuten, Ruderer und Segelboote auf dem Wasser“ (Gm 98/254) von Albert Janesch, 1936 © DHM

Die erste Aufgabe für mich als Registrar war es, in enger Zusammenarbeit mit dem Team der Restaurierung die Ausleih- und Transportfähigkeit sowie den Restaurierungs- und Konservierungsaufwand für alle angefragten Leihgaben zu ermitteln.

Eine erste Vorbesichtigung durch das Team der Gemälderestaurierung ergab einen enormen Restaurierungsaufwand nicht nur bei den Gemälden an sich, sondern vielfach auch bei den originalen Rahmen. Durch die nicht optimale Lagerung in den Depoträumen der Oberfinanzdirektion München, die dem DHM die genannten Sammlungskonvolute übergeben hatte, waren die Holzkerne der Rahmen geschrumpft. So bildeten sich oft Hohlräumen zwischen Holzkern und Farbfassung, was schnell zu Abplatzungen führen kann. Es stellte sich zudem heraus, dass die Oberflächen der Gemälde gereinigt, Malschichten gefestigt, retuschiert und gekittet werden mussten. Leinwandspannung und Rückseitenschutz wurden ebenso als notwendig erachtet, und so ergab diese erste Prüfung die Restaurierungsbedürftigkeit von mehr als sechzig der angefragten Gemälde.

Schon aus Gründen der Sammlungspflege besteht ein grundsätzliches Interesse an der Restaurierung und Konservierung der Sammlungsobjekte. Der hier festgestellte hohe Restaurierungsbedarf ist von der eigenen Restaurierung jedoch nicht zu bewältigen. Externe Restauratorinnen und Restauratoren wurden hinzugezogen und mit dem potentiellen Leihnehmer in Arnhem eine Kostenteilung vereinbart. Das bedeutete für das Deutsche Historische Museum die Besichtigung der einzelnen Gemälde durch die externen Restauratoren in den Depots, die Erstellung von Kostenangeboten, die Aufteilung und Übernahmebestätigung der Kosten sowie die Auftragsvergabe an vier verschiedene Kolleginnen und Kollegen mit der dazugehörigen Korrespondenz zwischen dem Leihnehmer und dem DHM. Neben starken Nerven hieß dies ein hohes Maß an Verhandlungs- und Überzeugungsleistung. Für den Teil der Gemälde, für den die Restaurierungskosten durch das DHM selber übernommen wurden, wurden die Aufträge noch Ende 2022 vergeben und begonnen. Nach weiteren Gesprächen mit dem Leihnehmer wurde Anfang 2023 schließlich ein Teil der Restaurierungen seitens des Leihnehmers Arnhem beauftragt.

Gebunden an den Abschluss des Leihvertrages war zusätzlich die Zusendung einer rechtsverbindlichen Rückgabezusage des Leihnehmerlandes, die sog. „Immunity from Seizure“, die bewirkt, dass für die Dauer der Leihe die gerichtliche Durchsetzung von Herausgabeansprüchen Dritter (z.B. Restitutionsansprüche) und Vollstreckungsmaßnahmen ausgeschlossen sind. Im internationalen Leihverkehr ist dies ein bewährtes Vorgehen, um die Überlassung von Kulturgütern auf Zeit ins Ausland rechtlich abzusichern. Um die Rückgabezusage zu beantragen, musste ich als Registrar dem Leihnehmer eine Objektliste mit Provenienznachweisen für jedes einzelne Objekt zur Verfügung stellen.

Die Akten eines Leihvorgangs können sehr ausführlich werden; Foto © DHM

Nach vielen Verhandlungsrunden konnte der Leihvertrag schließlich im Januar 2023 unterzeichnet werden. Damit ging der Leihvorgang in seine nächste Runde.

Die Objektliste des Leihnehmers enthielt Gemälde, die sich als Dauerleihgaben des DHM teils im Militärhistorischen Museum Dresden (MHM) und teils im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg befinden. Mit beiden Museen wurden Fragen zu Verfügbarkeit, zu örtlichen Restaurierungsmöglichkeiten und Transportkosten für den Leihnehmer geklärt, bis die Gemälde wegen zu hoher Kosten als Leihen abgesagt wurden.

Im Laufe der weiteren Vorbereitung der Leihe stellte sich erschwerend heraus, dass ein Teil der Gemälde im neuen Museumsflügel des Museums Arnhem – der brandneuen Tageslichtgalerie mit über 1.500 Lux an sonnigen Tagen – ausgestellt werden sollte. Bei einer Maximalvorgabe von 250 Lux durch die Restaurator*innen war eine Hängung nicht möglich, so dass auf einige Leihgaben verzichtet bzw. die Hängung der Gemälde in Absprache mit den Gemälderestaurator*innen umgeplant werden musste.

Im Laufe der Monate bis Ende September 2023, fast eineinhalb  Jahre nach Eintreffen der ursprünglichen Leihanfrage, umfasste die Objektliste nach einem ständigen Austausch von Informationen und Entscheidungen immer noch beachtliche 59 Gemälde, für die nun die Verpackung und der Transport in Klimakisten ansteht: Alle Klimatransportkisten müssen in den jeweiligen Depots 24 Stunden vorklimatisiert werden, was aus Platzmangel eine weitere logistische Herausforderung bedeutet. Ich stimmte nun noch mit der Speditionsfirma, dem Leihnehmer und der Restaurierungsabteilung eine Transportabwicklung über einen Zeitraum von zwei Wochen ab. Vier Gemälderestauratoren des DHM werden als Kuriere sowohl das Ein- als auch das Auspacken und in Arnhem die Protokollierung der Objektzustände und die Hängung betreuen. Nach diesen umfänglichen, aber letztlich erfolgreichen Leihvorbereitungen wird die Ausstellung am 11.11.2023 im Museum Arnhem eröffnet werden – mit einer beachtlichen Anzahl an Objekten des Deutschen Historischen Museums, das damit zum bedeutendsten Leihgeber für die sicherlich interessante Ausstellung wird.

Karen Klein

Karen Klein ist Registrar für ausgehenden Leihverkehr im Deutschen Historischen Museum.

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