> Georg Lindemann: Gefangener des NS-Regimes 20 Juli 1944

Georg Lindemann: Gefangener des NS-Regimes - 20. Juli 1944

Dieser Eintrag stammt von Georg Lindemann (*1925) aus Celle, April 2001:

Aufgrund der Beteiligung meines Vaters, General Fritz Lindemann, an dem Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 verhaftete mich die Gestapo am Morgen des 25. August 1944. Eine Mitbewohnerin, Bombenflüchtling in der Wohnung meiner Eltern, hatte meine Anwesenheit angezeigt. Die Gestapo in Hamburg vernahm mich bis zum 26. August mittags ohne irgendein Ergebnis und brachte mich dann auf Anforderung der Sonderkommission am 26. August nachmittags nach Berlin. Am Abend schlossen sich dort die Tore des Gefängnisses Lehrterstraße hinter mir. Dieses Gefängnis war zu einem Teil unter Bewachung der Gestapo für die Häftlinge des 20.Juli-Attentates reserviert worden. In diesem Moment wurde mir klar, daß ich endgültig Gefangener des Regimes war.

Bei meiner Vernehmung im Hause der Gestapo Prinz-Albrecht-Straße konnte ich nicht ausschließen, daß ich etwas von einem Umsturzversuch wußte. Man hatte sich zunächst meine Geschichte angehört, auch daß ich Seeoffizier bleiben wollte, bevor man mir nach 2 Stunden einen Brief vorlegte, den ich nach dem letzten Treffen mit meinen Vater an meinen Bruder geschrieben hatte. In diesem Brief sprach ich über berufliche Pläne nach dem Krieg. Daraus war ersichtlich, daß ich in einen zivilen Beruf gehen wollte, woraus die Gestapo schloß, daß ich bisher nicht die Wahrheit gesagt hatte. Mein Bruder, Heeresoffizier an der Ostfront, war schon vor mir verhaftet und nach Berlin zur Gestapo gebracht worden. In dem Brief standen noch weitere Andeutungen, die mir vorgehalten wurden. Und nun geschah ein Wunder. Die Gestapobeamten gingen zum Mittagessen. Das hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet, denn ich brauchte dringend Zeit zum Überlegen.

Ich entschloß mich zu einem Teilgeständnis mit einem logischen Aufbau, in das ich aber nur die beiden letzten Unterredungen mit meinem Vater einbezog. Dieses Teilgeständnis gab nicht die Wahrheit wieder, sondern entstand lediglich unter der Zielsetzung, möglicherweise den Kopf oben zu behalten. Ich konnte mein Geständnis selbst diktieren.

Die Tage in der Zelle Lehrterstraße verliefen eintönig, nur unterbrochen durch die Essenszuteilung und Kontrollen durch junge SS-Soldaten. Kein Spaziergang, keine Kontakte, keine Zeitung, keine Verbindung zur Außenwelt, nur bruchstückhafte Informationen drangen zu mir vor, demzufolge die Amerikaner im Vormarsch auf die deutsche Westgrenze waren. Der Wettlauf mit der Zeit um unsere Köpfe hatte begonnen !

Die 2. Vernehmung, an der auch der berüchtigte Stellvertreter Kaltenbrunners, SS-Obergruppenführer Heinrich Müller, zeitweise teilnahm, stand unter dem Motto, "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns und muß ausgemerzt werden", und "Hitler ist ein Eisenklotz, mit dem ich sie erschlagen könnte". Diese Vernehmung dauerte mehr als 10 Stunden. Um mich unter Druck zu setzen, wurde unter anderem mein Vater zum Halbjuden, ich zum Vierteljuden gestempelt. Aber die Vernehmer erreichten keine neuen Erkenntnisse. Von diesem Tage an wurde ich gefesselt, tagsüber die Arme nach vorne, nachts nach hinten. Ab diesem Zeitpunkt rechnete ich mit dem Schlimmsten.

Am 3. September wurde mein Vater verhaftet. Ich erfuhr davon innerhalb weniger Stunden. Ein Kalfaktor unterrichtete mich durch die Tür meiner Zelle.

Ende September wurden viele 20.-Juli-Häftlinge in das Untersuchungsgefängnis Tegel verlegt. In der Gruppe, die mit mir in einer Grünen Minna zusammen dorthin fuhren, traf ich meinen Onkel Hermann Lindemann und die Herren Senzky, Marks und Gloeden, die meinen Vater verborgen hatten.

In Tegel wurden wir von Zivilbeamten bewacht, die etwas menschlicher mit uns umgingen als die Gestapobewacher im Gefängnis Lehrterstraße. Wenn ich uns sage, dann meine ich die Männer, mit denen ich dort zusammen sein und die ich langsam kennenlernen konnte: Moltke, Delp, Gerstenmaier, Kleist, Fugger, Schulenburg, Jessen und andere.

Ich sah auch meinen Bruder wieder. Er war als Heeresoffizier an der Nordfront und aus bedrohlicher Lage herausgeflogen worden, festgenommen wegen Äußerungen, die er im Zusammenhang mit dem 20. Juli gemacht hatte. Ihm konnte die Gestapo keine Mitwisserschaft nachweisen.

Am 5. Oktober vormittags lag das Gefängnis Tegel in einem schweren Bombenhagel. Als sich der Staub verzog, konnte ich in die Zelle unter mir sehen. Die Bombe war dicht neben der Hauswand heruntergegangen. Daß ich das überstanden hatte, hat mir wieder neuen Mut gegeben. Im Laufe des nachmittags wurde ich verlegt. Mein neuer linker Nachbar war Helmuth James Graf von Moltke, dessen aufrechte und feste Haltung ich bewunderte. Auf der anderen Seite Eugen Gerstenmaier, der Zuversicht und Fröhlichkeit ausstrahlte und sich später vor dem Volksgerichtshof auch vor dem Galgen retten konnte.

Es war eine Zeit des ganz intensiven Erlebens. Häufig wurden Mithäftlinge zur Gerichtsverhandlung abgeholt und zum Tode verurteilt, direkt nach Plötzensee zur Hinrichtung gebracht. Andere warteten in den Zellen in gefaßter und beispielhafter Haltung auf die Vollstreckung des Urteils. Langsam leerten sich die Zellen. Mir half das Gemeinsame mit diesen Männern und die Nähe meines Bruders. Von meiner Mutter und Schwester wußte ich nichts. Die Gestapo hatte auf Fragen nicht geantwortet.

Ende Oktober wurde mir im Gefängnis Tegel der Haftbefehl ausgehändigt. Er war an den ehemaligen Oberfähnrich zur See gerichtet und der Kernsatz lautete: "Er wird beschuldigt von dem Vorhaben eines Hochverrates glaubhaft Kenntnis erhalten, es aber unterlassen zu haben, der Behörde oder den Bedrohten hiervon rechtzeitig Anzeige zu machen. Er hat, obwohl er sich über die hochverräterische Natur dieses Unternehmens im Klaren war, keine Anzeige darüber erstattet."

Anfang November wurden mein Bruder und ich plötzlich in das Hausgefängnis der Gestapo in der Prinz-Albrecht-Straße verlegt. Die Zellen lagen im Keller. Es herrschte eine düstere Atmosphäre, absolute Abgeschlossenheit gegenüber jedem Mitgefangenen.

Ich erhielt dort die Anklageschrift und die Vorladung vor den Volksgerichtshof zu einem Termin am 14. November 1944 zusammen mit meinem Bruder. Der Pflichtverteidiger wurde benannt, aber auf ihn wartete ich vergebens.

lo