> Hans Mendgen: Mein Kriegsende auf der Schwäbischen Alb 1945

Hans Mendgen: Mein Kriegsende auf der Schwäbischen Alb 1945

Dieser Eintrag von Hans Mendgen (1926-2023) aus Rosenfeld vom März 2011 stammt aus dem Biografie-Wettbewerb "Was für ein Leben!"

Mitte April 1945 befand ich mich als Soldat in einer zusammen gewürfelten Truppe im Raum Rosenfeld, die mithelfen sollte, die hier vorrückenden französischen Soldaten von de Gaulles "Erster Armee" ein bisschen aufzuhalten (mehr war sowieso nicht mehr drin). Damit sollte dem Gros der Truppen etwas Zeit verschafft werden, sich in einer gewissen Ordnung Richtung Süden, in die fiktive Alpenfestung zurückzuziehen. In dieser Truppe waren viele ganz junge Buben dabei. Weinend erzählten uns zwei dieser Kinder von dem Gefecht in der vorigen Nacht, von den Toten und von den Befürchtungen, die sie hätten.

In dieser Gegend befanden wir uns praktisch zwischen zwei Stühlen, Franzosen vor uns und Franzosen hinter uns! Dadurch war aber auch alles noch schwieriger geworden. Wir besaßen keinerlei Verbindung mehr zu irgendeiner anderen Dienststelle. Bei dem totalen Mangel an Kommunikationsmitteln waren wir völlig auf uns selbst gestellt. Genau genommen, war für uns der Krieg ab heute vorbei! Das darf ich zwar heute ungestraft sagen, damals aber wäre das einem Sakrileg gleichgekommen. Unsere beiden Leutnants spielten sich noch so zackig auf, wie eh und je. Zumindest erweckten sie weiterhin diesen Eindruck. Der auffälligste Fall dieser Art ereignete sich an einem der nächsten Tage, als wir in einer Scheune unweit eines Schwarzwalddorfes übernachten durften und von den Bauern dort liebevoll versorgt wurden. Unsere Wirte fühlten sich auch deswegen besonders verpflichtet, weil Wolfgang, einer unserer Kameraden, hier zu Hause war. Am nächsten Morgen, als wir uns zum Abmarsch sammelten, fehlte ausgerechnet Wolfgang. Ein Unteroffizier mit zwei Soldaten als Begleitung bekam den Befehl, ihn aufzustöbern und notfalls mit Waffengewalt mitzubringen. Nach einer guten Stunde erschienen sie wieder, aber natürlich unverrichteter Dinge. Angeblich wusste niemand im Dorf, wo Wolfgang war. Weil aber jetzt keine Zeit mehr für eine längere Suchaktion war, musste unserm Chef schnell was einfallen, um sein Gesicht nicht zu verlieren. Energisch wandte er sich schließlich an einen Einheimischen: "Herr Ortsgruppenleiter, ich gebe ihnen hiermit den dienstlichen Befehl, den Kanonier Wolfgang K. standrechtlich zu erschießen, sobald er wieder auftaucht," und in unsere Richtung: "ohne Tritt, marsch! Wir müssen schauen, dass wir weiter kommen".

Beruhigt, dass alles so ausgegangen war, und im Stillen unserm Kameraden alles Gute für die Zukunft wünschend, verließen wir diesen gastlichen Ort. Wären wir nur auch schon daheim wie Wolfgang. Wir aber hatten keine Ahnung, wohin uns unsere Schritte und unsere beiden Leutnants führten. Bald befanden wir uns hoch oben auf der Schwäbischen Alb. In der Ferne sah man die Häuser der Stadt Tuttlingen und direkt unter uns Mühlheim an der Donau. Leutnant Maier hatte seinen mitteilsamen Abend und erklärte uns die Lage. In der Nacht sollten wir durch den Fluss waten, und das bei den Temperaturen. Schon in der vorigen Nacht hatte es stark gefroren und die nächste versprach nicht milder zu werden, da sollten wir in das eisige Wasser steigen - uns schauderte allein bei dem Gedanken. Als dann nach Einbruch der Dunkelheit der Aufbruchsbefehl leise von Mann zu Mann weiter gegeben wurde, blieben Kamerad Kurt und ich einfach liegen und warteten ab. Nach einer angemessenen Zeit, wir hatten schon längst keine Geräusche mehr von den andern gehört, erhoben wir uns, um in entgegengesetzter Richtung zu verschwinden. Aber was war denn das! Hier und dort, rings um uns herum, überall erhoben sich noch mehr Soldaten, die gleich uns heute Nacht auf ein kühles Bad lieber verzichten wollten. Wir waren derartig überrascht, so viele Gleichgesinnte zu finden, dass wir es kaum glauben konnten. Erst nachdem wir uns alle davon überzeugt hatten, dass kein "falscher Fuffziger" unter uns war, beeilten wir uns, möglichst umgehend aus der Gegend zu verschwinden. Es war ja noch gar nicht ausgeschlossen, dass doch jemand nach uns suchen würde.

Nachdem wir einen sicheren Abstand zu dem Ort unseres frevelhaften Absetzens von der Truppe, wie der Fachausdruck für unser Tun lautete, erreicht hatten, erörterten wir unsere weiteren Vorhaben. Die einen zog es natürlich in ihre teilweise gar nicht mehr so ferne Heimat, während Kurt, ich und noch zwei andere nach Rosenfeld wandern wollten. Schnell hatten wir einige Kilometer hinter uns gebracht, immer schön auf Waldwegen, fernab der Dörfer. Da tauchte unvermittelt ein schon etwas älterer deutscher Polizist auf, der ganz allein in Richtung des nahen Dorfes unterwegs war. Weil er auf einem Weg außerhalb des Waldes ging, der vom Dorf gut einzusehen war, baten wir ihn, zu uns in den Schatten der Bäume zu kommen. Er war sehr entgegenkommend und wir erfuhren, dass dieses Dorf Unterdigisheim heiße, dass die französischen Truppen schon vorgestern hier durchgekommen seien und zwei Dörfer weiter, in Obernheim, ihre Landsleute, die ehemaligen französischen Kriegsgefangenen, als Besatzung eingesetzt und bewaffnet hätten. "Wo habt ihr denn eure Waffen", fragte er uns, und wir berichteten ihm, allerdings mit ziemlich schlechtem Gewissen, dass wir sie zerstört und vergraben hätten. Für uns sei der Krieg zu Ende und wir wollten nicht mehr in Versuchung geraten, Waffen zu benützen. Er lobte unseren Entschluss und gestand, dass er ähnlich wie wir gehandelt habe. "Sicher habt ihr jetzt Hunger und Durst", kam er schließlich unseren Bitten zuvor, "wartet hier, ich schicke jemanden herauf, der euch was zu essen bringt."

Na, kann es uns noch besser gehen, gratulierten wir uns gegenseitig, als er uns verlassen hatte. Ganz offensichtlich hielt er Wort, denn schon nach kurzer Zeit kam ein junges Mädchen den Berg herauf, beladen mit einem großen Korb voller Köstlichkeiten. Sie setzte sich zu uns, sprach uns gut zu und als wir dann so satt waren, dass wir kaum aufstehen konnten, forderte sie uns auf, die Reste mitzunehmen. Während sie dann mit ihrem Korb und den leeren Flaschen heimging, setzten auch wir unseren Weg Richtung Rosenfeld fort. Der Polizist hatte ihn uns ja noch so genau beschrieben!

Nach einigen hundert Metern mussten wir ein Tal überqueren, wo neben einem kleinen Bach zu allem Übel noch eine Straße war. Leider reichte der Wald dort nicht bis hinunter, und wir waren gezwungen, völlig ohne Deckung, über einen offenen Wiesenhang zu marschieren. Bevor wir uns aus dem Wald hinaus wagten, beobachteten wir lange und gründlich die Straße. Sie schien völlig ausgestorben, nicht einmal Bauernfuhrwerke waren unterwegs. Die Stille wurde nur vom Gezwitscher der Vögel unterbrochen, die dieser herrliche Vorfrühlingstag herausgelockt hatte. Völlig beruhigt pilgerten wir schließlich gemütlich den Hang hinab. Urplötzlich aber zerbarst die Stille, Schüsse knallten und lautes Hupen gellte in unseren Ohren. Wir erstarrten zu Salzsäulen wie Lots Weib. An ein Abhauen war nicht mehr zu denken, denn schon raste ein Auto daher, hielt mit quietschenden Reifen an und spuckte einen Haufen Zivilisten aus. Die schossen noch ein paar Mal in die Luft und schrien "ände och!"

So schnell hatte erstens unsere Freiheit ein Ende gefunden und zweitens die "Besatzungsmacht" Obernheims ihre ersten Kriegsgefangenen gemacht - all das, dank des "liebenswürdigen" Polizisten, wie wir unschwer sofort errieten. Er hatte heute bei seinen neuen Vorgesetzten, Kooperationsbereitschaft beweisen können! Zwar hatten wir letztendlich irgendwann mit so einer Wendung rechnen müssen, aber es wurmte uns doch gewaltig, ausgerechnet von einem deutschen Polizisten verraten worden zu sein. Ich muss gestehen, dass ich bis heute nicht nachvollziehen kann, wie der Mensch seine eigenen Kameraden, und das waren wir doch eigentlich immer noch, dem Feind, und das waren die anderen ja auch noch, kaltschnäuzig verraten konnte.

Die sechs ehemaligen französischen Kriegsgefangenen kontrollierten nur flüchtig, ob wir tatsächlich keine Waffen mehr hatten, offensichtlich genügten ihnen die Angaben ihres Informanten und forderten uns auf, mit ihnen nach Obernheim zu fahren. Wir waren ja jetzt zwar zehn Personen und nur ein alter Opel mit vier Plätzen stand zur Verfügung, aber keiner betrachtete das als ein Problem. Es fanden alle einen Platz, ich zum Beispiel auf dem linken Scheinwerfer, und los ging's in gemächlichem Tempo, einer ungewissen Zukunft entgegen.

Heute noch denke ich anerkennend daran, wie souverän diese Männer ihre neue Aufgabe bewältigten. Sie waren ja gar nicht darauf vorbereitet, Kriegsgefangene zu versorgen, aber ohne zu zögern ließen sie den Dorfbüttel verkünden, dass gegen Mithilfe auf den Höfen deutsche Kriegsgefangene zur Verfügung stünden, die dann auch dort verpflegt werden müssten. Interessenten sollten sich sofort bei der "Ortskommandantur" melden. In der Zwischenzeit bezogen wir Quartier in den Räumen, die bis gestern noch von den französischen Kriegsgefangenen bewohnt worden waren. Rechtzeitig zum Abendessen hatte sich für jeden von uns neugebackenen Kriegsgefangenen eine Familie gemeldet, die uns versorgen wollte. Ehe wir jedoch mit den Leuten fort gingen, hielt uns der als Kommandant eingesetzte Franzose in seinem deutlich schwäbisch gefärbten Deutsch mit französischem Akzent eine kurze Ansprache: "Meine Kameraden und isch, aben es bei die Obernheimer Leuten sehr gutt gehabt, darum auch ihr sollt es gutt aben bei uns. Zum Schlaffen kommt ihr 'er und am Tag ihr könnt machen was wollt ihr, nur nischt abhauen! Wenn einer abhaut, werden alle anderen verschossen compri? will sagen, verstanden?" Das war deutlich und unmissverständlich, wir würden uns danach richten.

Es folgten ein paar faule Tage, natürlich musste keiner von uns arbeiten, wir sollten es in der sicherlich nur kurzen Zeit, die wir hier bleiben durften, gut haben. Wie jetzt überall in Deutschland waren nur Frauen, Alte und Kinder im Dorf, die alle auf die Männer warteten, die gleich uns, irgendwo in der Weltgeschichte herumirrten, wenn sie nicht bereits ihr Leben verloren hatten. Dem fast übertriebenen Besorgtsein um unser Wohlergehen haftete eine abergläubische Beschwörungsmentalität an: man wollte alles tun, damit auch der eigene Sohn oder Mann oder Vater es dadurch vielleicht auch so gut habe. Es war mir manchmal fast peinlich, aber andererseits konnte ich auch den Augenblick vorbehaltlos genießen. Ich war erst 18 Jahre alt und nicht geneigt, Trübsal zu blasen.

Eines Abends kam eine kleine Einheit der de Gaulleschen Armee ins Dorf und einer ihrer Unteroffiziere besuchte auch uns Kriegsgefangene. Im Unterschied zu unseren Bewachern sprach er nicht deutsch, hatte jedoch von ihnen erfahren, dass ich in der Schule französisch gelernt hätte. Wir konnten uns dann recht gut miteinander verständigen und ich war erstaunt, wie offen er mit mir sprach. "Wenn ihr Wertsachen besitzt, gebt sie unbedingt euren Bauern hier im Dorf zur Aufbewahrung, denn das, was nach uns kommt, ist nichts Rechtes. Vor denen müsst ihr euch in Acht nehmen, die haben sich lediglich zur Bewachung von Kriegsgefangenen freiwillig gemeldet und wollen an euch ihr Mütchen kühlen." Er hatte offensichtlich zum ersten Mal Gelegenheit, mit deutschen Soldaten zu reden und wunderte sich vor allem, dass wir noch so jung waren. Zufällig waren wir vier ja alle etwa gleich alt, oder sagen wir lieber, gleich jung, was hier besser zutrifft.

Natürlich wusste auch er nicht, was uns erwartete, aber er meinte in seiner Naivität, "die werden euch Junge sicher bald heim schicken, was sollen sie sonst mit euch machen, der Krieg ist ja aus, bald kann auch ich nach Hause zu meiner Familie. Ich habe einen Sohn, der ist jetzt so alt wie du!". Er hatte bei uns Hoffnungen geweckt, die leider bald in alle Winde zerstoben. Schon nach zwei Tagen kam die Anordnung, dass wir nach Balingen gebracht werden müssten. Dort, in einem ehemaligen Zementwerk, waren bereits viele hundert deutsche Soldaten in einem professionell abgesicherten Lager interniert.

lo