> Walter Koch: Der sächsische Gesandte

Walter Koch: Der sächsische Gesandte

Erinnerungen von Walter Koch (1870-1947) aus Dresden, Gesandter von Sachsen in der Nationalversammlung 1919, (DHM-Bestand; Inv.-Nr.: Do2 2000/2128):

Am 6. Februar überreichte ich mein Beglaubigungsschreiben, da noch kein Reichspräsident gewählt war, dem Reichsaußenminister Grafen Brockdorff-Rantzau. Dieser Mann - der Graf malgré lui wie ihn seine Feinde nannten - hatte aus durchaus ideellen Gründen eine schwere Aufgabe übernommen und hat sie mannhaft durchgeführt, solange er es vor seinem Gewissen verantworten konnte. Zu seinen Ministerkollegen, wie Scheidemann, Bauer, Preuß, Erzberger bildete dieser innerlich wie äußerlich vornehme Mann zuweilen einen seltsamen Gegensatz.

Am gleichen Tag trat die Nationalversammlung zum ersten Male im Nationaltheater zusammen, das von da ab der Schauplatz unserer Tätigkeit wurde. Zuschauerraum und Bühne waren für die Plenarsitzungen wohl adaptiert; aber die Sitzungen in den niedrigen Nebenräumen (Ballettsaal usw.) waren wegen der schlechten Luft und des Tabakrauchs zuweilen eine rechte Qual.

Am 10. Februar wurde die provisorische "Reichsverfassung" verabschiedet; am 11. Februar Ebert zum Reichspräsidenten gewählt. Seine Eidesleistung fand vor der Nationalversammlung und dem Staatenausschuß in den frühen Nachmittagsstunden statt, in denen ich, da ich Frühaufsteher bin, mein ganzes Leben hindurch arbeitsunfähig gewesen bin. Infolgedessen bin ich auf dem Lichtbild, das über die Vereidigung aufgenommen wurde, neben Graf Brockdorff-Rantzau schlafend zu sehen. Viel Sinn für Feierlichkeiten habe ich nie gehabt.

Es verstimmt mich auch heute noch, wenn ich Ebert absprechende oder geringschätzige Worte höre. Das hat der Mann, der in den Sielen gestorben ist, nicht verdient. Die 14 Jahre der deutschen Demokratie haben viele Bonzen hervorgebracht, aber er war keiner. Er hat in seiner Weise ehrlich um Deutschland gesorgt und gemüht. Er hat mit eiserner Energie seine Bildung und sein Wissen ergänzt. Er hat sich immer bemüht, gerecht zu sein, und er ist bis zuletzt der einfache, schlichte, freundliche Mann aus dem Volke geblieben.

Auch seine Frau hat zu den perfiden Witzen, die über sie kolportiert wurden und unter denen sie seelisch litt, keinen Anlaß gegeben. ("Als Frau Ebert beim Diner sich mit Gabel auf dem Haupte kratzte, blieb sämtlichen Ministern vor Schrecken das Messer im Munde stecken"). Meine Frau fand, daß sie sich tadellos in Gesellschaft gebe und rühmte ihr schlichtes und gewinnendes Wesen.

In Weimar bestand der Tag im Wesentlichen aus Sitzungen, zumal nachdem der Verfassungsentwurf des Ministers Preuß vorlag und der ruhelose Erzberger das Füllhorn seiner Finanzgesetze über uns ausleerte. Früh und nachmittags Sitzungen des Staatenausschusses, dazwischen und gleichzeitig Verfassungs-, Haupt-, Finanzausschuß und Plenum der Nationalversammlung. Wir genügten zu Dritt kaum, um überall Präsenz zu leisten. Dann und wann kam auch der Ministerpräsident Grandnauer oder einer der Minister von Dresden auf einen Tag herüber.

Mein Leben war ziemlich unstet. Zeitweise mußte ich nach Dresden, um als Abgeordneter für die Volkskammer an deren Sitzungen teilzunehmen; dann wieder war meine Anwesenheit in Berlin nötig, wo ich in der Gesandtschaft nach dem Rechten sehen mußte.

In Weimar war für die Ernährung ziemlich gesorgt, allerdings unter Aufrechterhaltung des Markensystems. Nur eine Gastwirtschaft, in der die Unabhängigen Sozialdemokraten ihr Lager aufgeschlagen hatten --ich glaube sie hieß "Der Jungbrunnen" - gab es Fleischportionen ohne Fleischmarken zu fordern, und deswegen kehrten dort auch die Mitglieder des Staatenausschusses und der Rechtsparteien gelegentlich verschämt ein. [...]

Der Anschluß Österreichs an Deutschland galt in den Linksparteien der Nationalversammlung als ausgemachte Sache. Der österreichische Gesandte, der Kommunist Dr. Hartmann, nahm an allen Sitzungen der Nationalversammlung teil. Die Verhandlungen zwischen den Regierungen über den Anschluß verliefen freilich ziemlich mühsam und scheiterten schließlich ganz; wir hatten den Österreichern schon allerhand zugestanden. So sollte z.B. der Reichstag abwechselnd 3 Jahre in Berlin und 3 Jahre in Wien tagen, damit Wien sein hauptstädtischer Charakter erhalten bleibe.

Die letzte Sitzung, an der ich teilnahm, war meines Erinnerns am 23. Mai 1919. Dann kam der Versailler Vertrag, der den Anschluß unmöglich machte. Hätten wir den Anschluß, bevor der Friedensvertrag formuliert war, schnell vollzogen, so hätten die alliierten Mächte vor einer vollendeten Tatsache gestanden, die kaum von außen rückgängig zu machen gewesen wäre. [...]

Die Beratung über die Reichsverfassung hielt uns viele Stunden des Tags in den Ausschüssen der Nationalversammlung und im Staatsausschuß fest. Es war schon eine seltsame Mischung, die die Welle zur gesetzgebenden Nationalversammlung an den Strand gespült hatte; Leute, von denen man nie vorher etwas gehört hatte, die das große Wort führten und die genauso sang- und klanglos wieder verschwanden, wie sie gekommen waren. Das Unangenehmste, insbesondere für uns Sachsen, die wir an diesen Kummer noch nicht gewöhnt waren, waren die zahlreichen Juden, die sich überall in den Vordergrund drängten, vom Schöpfer des Verfassungsentwurfes, dem Minister des Inneren Dr. Preuß, einem reinrassigen Juden, angefangen. Ich schrieb darüber aus einer Sitzung, ich glaube des sogenannten Untersuchungsausschusses über die Kriegsschuldlüge am 7. November 1919, an meinen Freund Surmann ein Gedicht, das ich hierher setze als Zeugnis, daß lange vor den Nationalsozialisten das Rasseempfinden schon wach war:

Im Reichstagssaale sitzt ein Kreis
Von Leuten, die mit viel Fleiß
Und vielen Fragen kreuz und quer
Das Rätsel lösen wollen: wer
Durch Wankelmut und Unverstand
Deutschland gebracht an Grabes Rand?

Wen rief das Deutsche Volk herbei,
Der seiner Führer Richter sei?
Den Kohn, den Bonn, den Katzenstein,
Den Sinzheimer, den David klein.
Das ist der Deutschen Staatsgericht!
Ich staun', daß man nicht "Jiddisch" spricht!

In Bildern an des Saales Wand
Sprach eines ernsten Künstlers Hand
Von Deutschen Reiches Herrlichkeit
In großer siegesstolzer Zeit.
Die große Zeit versank in Nacht -
Im Saale sitzt die Totenwacht.

Es peroriert mit Mund und Hand,
Wie wohl das Unheil kam zustand?
Der Kohn, der Bonn, der Katzenstein,
Der Sinzheimer, der David klein:
Das ist das krause Satyrspiel
Zu der Tragödie: Deutschland fiel.

Interessant war es, die sozialdemokratischen Führer zu beobachten. Sie wurden ja nicht alle zu Bonzen, wie man das später behaupten wollte. Aber sie wurden alle zu sorgenvollen Spießbürgern. Gerade die Besten von ihnen, die die soziale Revolution betrieben und herbeigesehnt hatten, waren durch die Verantwortung, die nunmehr auf ihren Schultern ruhte, so beeindruckt und bedrückt, daß sie das Parteiprogramm still in den Tischkasten legten und unbekümmert um Doktrinen sich ganz der Pflicht des Tages zuwendeten. Ich erinnere mich noch einer Sitzung, in der der Reichsminister Wissell, ein kluger und ehrlicher Mann, die von vielen erwartete Sozialisierung der Produktionsmittel als bis auf Weiteres undurchführbar und unmöglich fallen ließ.

Die schwerste Belastung in Weimar war das Friedensdiktat von Versailles; im Juni 1919 war die Entscheidung über Annahme oder Ablehnung nicht mehr hinauszuschieben. Die Verantwortung, die damit verbunden war, ging ins Ungeheure. Die Annahme entehrte und richtete die Nation zu Grunde; die Ablehnung lieferte das Reich Erpressungen aller Art aus und ließ mit Sicherheit die wenigstens zeitweise eine Bolschewisierung Deutschlands erwarten.

Die Geister schieden sich: in der Reichsregierung stand Graf Brockdorff-Rantzau, der vom Ehrenstandpunkt aus unbedingt ablehnte, dem leichtsinnigen Optimisten Erzberger gegenüber, der für Unterzeichnung war, "weil solche Sachen nie so schlimm werden, wie sie aussehen". Die übrigen Mitglieder schwankten zwischen diesen beiden Extremen, neigten aber doch aus der Erwägung, daß ein Ende mit Schrecken besser als ein Schrecken ohne Ende sei, der Annahme zu.

Im Staatenausschuß waren alle Leute vom Ancien régime für Ablehnung. Die Anerkennung der Schuld am Kriege und die Auslieferung des Kaisers und der obersten Heerführer verstieß gegen die Ehre der Nation; da konnte es kein Kompromiß geben. Ich und andere Gesandte berichteten an ihre Regierung, daß wir nicht in der Lage seien, die Stimmen, die wir vertraten, für die Annahme des Vertrages abzugeben und stellten anheim, daß, wenn man unsere Stellungnahme nicht billige, die Ministerpräsidenten selbst nach Weimar kommen und die Stimmführung übernehmen möchten. Das geschah denn auch. Die Mehrheit der Staaten, darunter Sachsen durch Dr. Gradnauer, stimmten für die Unterzeichnung.

Interessant war die Stellung der Nationalversammlung. Eine Nacht und einen Vormittag dauerten die Fraktionsitzungen, in denen immer wieder und immer wieder mit anderem Ergebnisse abgestimmt wurde. Ich glaube, man konnte die Herzensmeinung aller Parteien dahin formulieren: Annahme des Vertrages - aber gegen die eigene Stimme. Die Angst vor der eigenen Courage trieb kuriose Blüten. Das Ergebnis der Abstimmungen in den Fraktionen wurde jeweils in den Wandelgängen mitgeteilt; und wenn darnach momentan eine Mehrheit für die Ablehnung ergab, war der Schrecken bei den ablehnenden Parteien groß.

Nun, es kam schließlich zur Annahme des Vertrages. Was in jener furchtbaren Lage für das deutsche Volk erträglicher war, die Annahme oder die Ablehnung, das kann auch heute noch niemand sagen und wird in alle Ewigkeit niemand sagen können. Gewiß ist nur eines: ehrenhafter wäre die Ablehnung gewesen!

[...] Ende Juli 1919 kehrte die Reichsregierung nach Berlin zurück; wir brachen unsere Zelte in Weimar endgültig ab, nicht ohne Bedauern: Weimar hatte uns in diesen Monaten oft die Möglichkeit geboten, die unsäglich traurige Gegenwart wenigstens für Stunden zu vergessen, wenn wir in den Spuren Goethes, Schillers, Wielands und Herders wandelten.

lo