> Wolfgang Bohnes: Militärdienst - Auf dem Weg an die Front

Wolfgang Bohnes: Militärdienst - Auf dem Weg an die Front

Dieser Eintrag stammt von Wolfgang Bohnes (*1928) aus Bad Waldsee, Juli 2007:

Mit der heutigen Post (26.3.45) war für unsere Truppe die Einberufung zum Militär eingetroffen. Mein Arrest war somit nach drei Stunden beendet. Sofort nach der Bekanntgabe der Marschbefehle mußten wir antreten und unsere Bekleidung für die Kleiderkammer abgeben und unsere ganzen Sachen wie Wäsche, Schuhe, Holzpantinen, Uniform, Bettzeug usw. auf den Exerzierplatz tragen. Wir stellten uns in großem Kreis auf und legten unsere Klamotten auf einen Haufen. Der Kammerbulle und seine beiden Arbeitsmänner überwachen die genaue Rückgabe der einzelnen Stücke. Jeder muß seine Zeltplane vor sich ausbreiten, dann heißt es: "eine Unterhose" usw. Man hält sein Stück in die Luft und wirft es auf die Plane, so geht es weiter, bis alle Sachen nacheinander auf dem Haufen liegen. Es ist schon dunkel, bis am 26.3.45 der ganze Trupp auf dem Güterbahnhof in Leck in den bereitgestellten Güterzug eingeladen war. Unser Marschbefehl lautete nach Delmenhorst in die "Caspari-Kaserne". Der Güterzug fährt über Flensburg, Schleswig, Rendsburg und Neumünster. Ich habe Zivilkleidung an und mein Wehrpaß enthält den Eintrag meiner Entlassung vom RAD. Als wir in der Nacht einen Aufenthalt im Bahnhof von Neumünster haben - es war kurz vor Mitternacht, da sehe ich auf dem Nachbargleis einen Eilzug nach Hamburg stehen. Ich wollte noch einmal meinen Vater sehen und steige in den Zug ein, der nach Hamburg fährt.

Am frühen Morgen des 27.3. komme ich in Hamburg an und gehe nach dem etwa sieben Kilometer entfernten Osdorf in die Kaserne. Dort frage ich nach meinem Vater und man weist mir den Weg zu einer nahen Baustelle. Ich entdeckte ihn in der ausgebaggerten Straße unten beim Kabelverlegen, und die Überraschung war entsprechend groß. Wir gehen gleich in die Flak-Kaserne und ich warte auf seiner Stube, bis er den Urlaubschein bekommt. Im Beisein einiger Kameraden unterhalten wir uns noch über meinen abenteuerlichen Weg und sind dann zu einem Bummel in die Stadt aufgebrochen. Als wir am Abend gegen neun Uhr in die Kaserne zurückkamen, wurde ich von einem Unteroffizier in der Stube meines Vaters erwartet und zu einem Major zum Verhör mitgenommen. Sie befragten mich über Umstand und Ziel meiner Reise und anhand meiner Papiere und dem Marschbefehl sahen sie darin eine unerlaubte Entfernung von einem Militärtransport. Ein Protokoll wurde geschrieben und mir zu Unterschrift vorgelegt. Mein Vater versuchte noch mit dem Major zu reden, aber wir konnten uns nur kurz verabschieden und ich mußte in Begleitung des Unteroffiziers nach Delmenhorst fahren. Ich war in einer schlimmen Situation und mußte meinen Vater im Ungewissen zurückgelassen.

Mit dem Zug sind wir von Hamburg über Bremen nach Delmenhorst gefahren und kamen mitten in der Nacht im Bahnhof Delmenhorst an. Wir sind dann in westlicher Richtung auf der Oldenburger Landstraße zur Caspari-Kaserne marschiert, als der Unteroffizier plötzlich zu mir sagte: "Hier auf der linken Seite drüben wohnt meine Frau, du findest den Weg zur Kaserne auch alleine, immer gerade aus!" Er reicht mir den Umschlag mit dem Protokoll und wir verabschieden uns. Ich gehe in der dunklen Nacht weiter, komme an die Kaserne und melde mich nach Mitternacht, am 28.3. um ca. ein Uhr, auf der Wachstube. Der Wachhabende war über mein Kommen sehr erstaunt, denn er wußte, daß der Transport erst im Laufe des Tages eintrifft. Nachdem ich ihm mein Mißgeschick erzählt hatte, nahm er den Brief, las das Schreiben und warf alles in den rotglühenden Ofen in der Wache. Dann meinte er, ich solle mich bis zum Vormittag in eine leere Bude auf die Pritsche legen und danach zu ihm auf die Schreibstube kommen. Er werde dann alles in Ordnung bringen.

Als unsere Abteilung am 28.3. gegen Mittag anmarschiert kam, war ich schon gemeldet und eingekleidet. Es gab keine Nachfragen und ich habe großes Glück gehabt, denn ich bekam ein Soldbuch ausgehändigt. In dem Durcheinander habe ich meinen Wehrpaß nicht abgegeben, so war darin (mit Datum des 26.3.45) nur die Entlassung vom RAD, nicht aber der Eintritt in die Wehrmacht eingetragen. Ich hatte also zwei Dokumente bei mir, die noch großen Vorteil bringen sollten. Mit mir werden aus dem RAD ungefähr zweimal dreihundert Mann in die Caspari-Kaserne eingezogen. Ich kam als Panzergrenadier in das 65. Infanterieregiment (22. Division "Bremen") bzw. in das Grenadier-Ersatz- und Ausbildungsbataillon 65. Bei der Einkleidung bekam ich eine "Erste Garnitur" verpaßt, d. h. eine Paradeuniform, deren Jacke mit Stülpärmel, aufgesetzten Manschetten und Silberlitzen mit Knopf, einem "Gardesoldaten" ähnlich sah. Die normale feldgraue Uniform war vergriffen und es sah beschämend aus, allerdings mußte ich diese Unform bei unserem Abmarsch zurücklassen. Anzumerken ist, daß ich während dieser Zeit in der Caspari-Kaserne keine Erkennungsmarke erhalten habe.

Wir werden wieder zur Grundausbildung herangezogen und geschliffen. Auf dem Schießstand wird mit dem Karabiner 98 geübt, es wird in seine Einzelteile zerlegt und wieder zusammengebaut, geputzt und dann scharf geschossen. Das Laden und Scharfmachen mit zwei Treibladungen und das Schießen mit der Panzerfaust wird geprobt. Ich werde noch als MG-Schütze am MG-37 ausgebildet. Wir werden zu Felddienstübungen, zum Stellungsbau und Tarnen der Stellungen eingesetzt.

Auf einmal werden in dieser geruhsamen Zeit der Grundausbildung am Sonntag, 8.4., Panzerangriffe südlich oder südwestlich von Delmenhorst (aus Oldenburg oder Wildeshausen) erwartet. Wir erhielten den Befehl, mit einer kleinen Gruppe von etwa vier oder fünf Mann, mit Fahrrad und Panzerfaust einige Kilometer außerhalb von Delmenhorst gegen anrückende Engländer in Stellung zu gehen. Wir buddelten Ein-Mann-Löcher und warteten auf Feindberührung, gegen Abend kehrten wir ohne Zwischenfall in die Kaserne zurück.

Am Tag darauf, am 9.4., erhielt unser Bataillon völlig überraschend den Befehl zum Abmarsch nach Bremen. Auf einmal wurde es ziemlich hektisch in der Kaserne. Wir werden auf "Führer, Volk und Vaterland" vereidigt, dann wurde unser Regiment feldmarschmäßig ausgerüstet und wir rücken ab. An einem sonnigen Apriltag (10. April 1945) marschieren wir von Delmenhorst auf der Landstraße nach Bremen. Es sind ungefähr zweitausend Mann auf den Beinen, mit Troß und Regimentsstab sind wir aus der Caspari-Kaserne abgerückt. Auch schwere Artilleriegeschütze, die für den Transport zerlegt sind, begleiten uns. Es heißt, die "Ostfront" muß gehalten werden, damit der Russe nicht das "Reich" überrennt. Also machen wir uns auf den langen Weg nach "Osten". Auf dem Marsch nach Bremen werden wir auf offener Straße - ohne Sicherung durch die eigene Flak - von amerikanischen Tieffliegern, den Lightnings, angegriffen.

Es geht nach Osten

Nach einem etwa 25 Kilometer langen Marsch kamen wir in Bremen an. In der Vorstadt lagen quer zur Straße einige umgestürzte Straßenbahnwaggon und sollten als Panzersperren dienen. Wir marschieren weiter durch die fast menschenleeren Straßen in den Industriehafen zu einem dort abgestellten Güterzug mit ca. 50 Viehwaggons. Die Wagenböden sind mit Stroh gefüllt und werden für eine lange Reise unsere Schlaf- und Salonwagen sein. Tornister, Brotbeutel, Gasmaske, Koppel mit Seitengewehr und Stahlhelm werden mit Haken an Decke und Wände gehängt. In jeden Wagen kommen 40 Soldaten mit ihren Sachen hinein. Beim Liegen muß man die Füße seines Gegenübers mit den eigenen in Einklang bringen, sonst wird es nachts ärgerlich, wenn einer über die Beine stolpert. Die erste Nacht bleiben wir noch in Bremen auf dem Verladegleis stehen. Wir sind am Anfang des Zuges im ersten Güterwaggon untergebracht. Der lange Zug verliert sich in der Dunkelheit zwischen der Laderampe und den seitlichen Lagerhäusern. Ich bin noch mit anderen Kameraden zum Wachdienst eingeteilt und laufe auf dem Schotter neben dem Gleis und lausche in die dunkle Nacht. Der Wind, der von der See in den Hafen bläst, fängt sich seitlich unter dem Stahlhelm und bleibt mit einem unangenehmen Pfeifen in den Ohren hängen. Die Augen versuchen ängstlich, die Geräusche zu umgehen und blicken suchend durch die Nacht.

Am nächsten Morgen wird Verpflegung verteilt. Für jeden gibt es ein Pfund "Schweizer Käse" von einem großen Käselaib und ein dickes Stück Butter aus einem Faß, das man auf den Käse drauf legt. Brot gab es keines dazu, und wer noch ein Stück hatte, paßte gut darauf auf. Der Zug setzt sich in Bewegung und die Fahrt geht geräuschvoll über Rangiergleise und holprige Weichen durch den Bahnhof Bremen in Richtung Osten. Wir liegen und stehen in unserem Güterwagen und die Lok stößt und wackelt uns gehörig hin und her, denn wir befinden uns im vordersten Wagen. Das Rolltor ist nur einen kleinen Spalt weit geöffnet und wir können den vorbeihuschenden Telefonmasten und den sich senkenden und anhebenden Drähten nachschauen. Die Gegend ist flach und eintönig, der Zug fährt über Soltau, Ülzen, Salzwedel und Stendal nach Berlin.

Wir haben Hunger!

Unser Transport wird in Berlin-Kreuzberg im Gleisdreieck auf dem Rangierbahnhof, in der Nähe einer S-Bahn und einem U-Bahnhof, abgestellt. Am anderen Morgen (13.4.) gibt es nur Kaffee, wir sind hungrig. Da wir noch immer kein Brot erhalten haben, gehen einige Soldaten aus unserem Transport auf die Suche nach etwas Eßbarem. Einige Gleise weiter sind einige Güterwagen abgestellt, ein Waggon hat das Rolltor geöffnet und man sieht im Laderaum Kisten und Koffer hoch aufgestapelt. Der Wagen kam aus Dänemark und hatte Umzugsgut von Wehrmachtsangehörigen geladen. Einige Soldaten machen sich daran zu schaffen und finden Kartons mit Knäckebrot, und nach kurzer Zeit sind auch andere Soldaten aus unserem Transport beim Plündern und schleppen Schachtelweise Knäckebrot in ihre Wagen. Die Freude währte nicht lange, denn auf einmal standen Bahnpolizei und Feldgendarmerie vor unseren Wagen und durchsuchten diese. Einige Soldaten, bei denen die Schachteln mit Knäckebrot gefunden wurden, sind verhaftet und mitgenommen worden und wir haben nichts mehr von ihnen gehört.

KZ-Transport

Am nächsten Morgen des 14.4. suche ich am Rande des Rangierbahnhofs einen Platz für meine Morgentoilette, da steht plötzlich eine schwarzhaarige Frau in dunkler, zerlumpter Kleidung vor mir und bittet um ein Stück Brot. Ich zögere nicht lange und hole aus unserem Waggon ein Stück von meinem gut gehüteten Kommisbrot und laufe wieder zurück. Als ich der Frau das Stückchen Brot geben wollte, stand ein schreiender SS-Mann mit gezogener Pistole bei uns, bedrohte mich und schleppte die Frau weg. Erst jetzt habe ich den Zug mit den armen Menschen am Rande des Rangierbahnhofs erkannt - es war ein KZ-Transport und ich konnte sehen, daß die Luken der Viehwaggons mit Stacheldraht kreuz und quer zugenagelt waren.

Wir verlassen Berlin

Wir waren froh, als wir am Abend, gegen 19 Uhr, Berlin verlassen konnten. Es war doch sehr gefährlich, wenn immer wieder Bombenabwürfe von englischen Mosquitos, die mit ihrer 1.800-Kilogramm-Bombe beladen, die Stadt zerbombten. Unser Transport fährt über Luckenwalde und Jüterbog an Torgau vorbei nach Dresden. In der Nacht wird der Zug auf freier Strecke abgestellt und wir wissen nicht, was los ist. Die Lok kommt nach einiger Zeit wieder zurück und kracht mit voller Wucht auf unseren unbeleuchtet abgestellten Zug. Ein Teil der an Wänden und Decken aufgehängten Sachen flogen durch den Wagen und stürzten auf uns herunter. In der Nacht fuhren wir noch durch Dresden und ahnten nichts von dem Inferno, das vor genau zwei Monaten über die Stadt hereingebrochen war und mehr als 35.000 Menschen den Tod brachte. Am folgenden Tag, es ist Sonntag, 15. April 1945, haben wir sonniges, herrliches Frühlingswetter und fahren durch das Elbsandsteingebirge. Bei einem Halt vor der tschechischen Grenze klettern wir auf die Felsen und genießen die Ruhe und den herrlichen Ausblick auf die langsam dahinfließende Elbe. Gegen Mittag erreichen wir die Stadt Most (Brüx) am Fuße des Erzgebirges.

Der Güterzug hält im Bahnhof unter einer Brücke, die das ganze Bahngelände überspannt. Als wir gerade am Aussteigen waren, gab es Fliegeralarm und wir mußten sofort in die Wagen zurück, denn ein Regiment Soldaten, das sich auf dem Bahngelände bewegt, läßt sich nicht übersehen. Schon waren die Flugzeuge über der Stadt und trafen mit ihren Bomben die Brücke. Eine davon schlug vor unserem Waggon ein, die Splitter zerfetzten die Stirnwand und verursachten die ersten Verluste in unserer Nähe. Nach dem Angriff haben wir uns vor dem Bahnhof zum Abmarsch aufgestellt, dabei wurden wir von der sudetendeutschen Bevölkerung mit Applaus und Zurufen freundlich begrüßt, denn die Stimmung unter der Bevölkerung war von Angst und Sorge um die Zukunft erfüllt.

Wir marschieren in südlicher Richtung durch die Stadt auf eine Anhöhe in Richtung nach Plzen (Pilsen). Außerhalb der Stadt liegt auf der rechten Straßenseite eine alte, verwitterte Kaserne aus der Zeit der österreichischen Monarchie. Sie ist der Standort des 234. Infanterieregiments, dem wir jetzt zugeordnet werden. Gegenüber der Landstraße liegt ein Barackenlager, in das unsere Einheit einquartiert wird. Ich komme gleich in die erste Baracke neben dem Haupteingang und der Wachbaracke, es sind kleine Wohneinheiten für nur sechzehn Mann. Wir machen uns gleich an die Arbeit, räumen unsere Sachen in den Spind, füllen die Strohsäcke, machen die Betten und reinigen die Stube. Wir werden durch eine Explosion von der Arbeit aufgeschreckt und rennen zur Türe, um zu schauen, was los ist. Aus der Baracke der anderen Seite quoll dichter Rauch aus dem Fenster und ein schwer verletzter Soldat stürzte aus der Türe und hält seine verstümmelten Hände vor das Gesicht und fällt tot vor uns auf dem Weg hin. Eine im Ofen versteckte Handgranate hat sich beim Reinigen entzündet und ist wie eine Bombe explodiert und hat noch weitere Soldaten im Raum verletzt. Wir sind gewarnt, wir befinden uns im Feindesland und werden als Feinde und Eindringlinge behandelt.

Der Marsch

Unsere Tornister werden auf Pferdewagen verladen und wir sind mit "Sturmgepäck" unterwegs. Wir haben unseren Brotbeutel mit Feldflasche, Seitengewehr und Gasmaske an die Koppel umgehängt. Als MG-Schützen tragen wir abwechselnd das MG-37 oder die Munitionskasten und den Stahlhelm. So voll gepackt marschieren wir am Abend in Dreierreihen durch Brüx in nördlicher Richtung nach Lobositz (Lovosice) und weiter bis kurz vor Leitmeritz (Litomerice). Wir kommen morgens gegen 6 Uhr in einem Bauerndorf an und werden einquartiert, bekommen unsere Verpflegung und legen uns in Heu oder Stroh zum Schlafen, denn der Nachtmarsch von 36 Kilometern hat uns alle ziemlich erschöpft.

Am nächsten Abend, den 3.5., marschieren wir im Regen weiter. Zum Schutz hängen wir die Dreiecks-Zeltplane um. Sie hat in der Mitte einen Spalt, durch den wir den Kopf stecken, die Seiten werden zugeknöpft, damit der Regen runter läuft. Der Stahlhelm schützt uns mit seiner Regenrinne, damit das Wasser nicht an der Kragenbinde reinläuft Die Augen waren starr nach oben gerichtet, man konnte dann einen schmalen Streifen vom dunklen Nachthimmel erkennen. Die Tannenwälder umhüllen uns wie eine tiefe Schlucht und die Augen werden müde. Wir haken uns mit den Armen unter, damit keiner vom Weg abkommt, dann kann der Sekundenschlaf auch mal einige Minuten dauern. Es ist wie ein Traum, danach geht der Marsch wieder leichter. In der Nacht überqueren wir die Elbe und marschieren in östlicher Richtung nach Böhmisch-Leipa (Ceska Lipa), um dort in einem Bauerndorf zu kampieren. Bei den Bauern versuchen wir unsere Sachen zu trocknen und zu schlafen. Bei der Morgentoilette stehen wir um einen Brunnentrog vor dem Bauernhof. Plötzlich stehen neben uns russisch sprechende Soldaten in deutscher Uniform gekleidet beim Waschen. Es waren Angehörige der Wlassow-Armee, die ich zum ersten Mal getroffen habe.

Gegen Mittag werde ich mit einigen Kameraden und einem Unteroffizier zum Verpflegung holen abkommandiert. Wir gehen zum Güterbahnhof und steigen auf einen leeren, offenen Güterwagen, der Unteroffizier steigt zum Lokführer und Heizer auf die Lok und wir dampfen in nordöstlicher Richtung zwischen den Berghängen ein Tal entlang. Wir sind mit drei oder vier Mann in dem offenen Güterwagen und schauen gelangweilt die vorüberziehende Landschaft und die Telegrafenmasten an, bis mir der Gedanke kommt, meine 08-Pistole auszuprobieren. Ich krame sie aus meinem Brotbeutel hervor und versuche während der Fahrt die Telefonmasten zu treffen. Ob es gelang, weiß ich nicht, jedenfalls war es ein beruhigendes Gefühl, angesichts der herannahenden Front "wehrhaft" zu sein.

Gegen Abend des 5.5. erreichen wir das Heeresverpflegungslager Warnsdorf, ein großer, mehrstöckiger Steinbau mit Gleisanschluß. Wir stehen mit der Lok und unserem Wagen direkt an der Laderampe vor einem großen Eingangstor und staunen über die Unmengen an Kisten, Kartons, Säcken, Eimern und Dosen, die bis unter die Decke in Regalen gestapelt waren. Demnach hätte der Krieg noch eine Weile geführt werden können, doch wir kannten nur Hunger und Not. Wir haben interessiert zugeschaut, wie die Landser voll gepackt aus dem Lager kamen und ameisengleich die Kartons und Säcke hin und her schleppten. Zahlmeister und Wachpersonal kontrollierten zwar die Warenausgabe, aber es hatte den Anschein, als ginge alles drunter und drüber.

Bis wir unsere Ladung übernommen hatten, war es inzwischen dunkel geworden und nur das schwache Licht im Lager erhellte das geschäftige Treiben. Ich organisierte einen Karton mit kleinen 200 Gramm-Dosen Schweinefleisch als so genannte "Eiserne Ration". Einige davon bekam der Lokführer, die er gleich in ein kleines Fach über dem Kessel stellte, damit wir etwas Warmes zu Essen hatten, bevor wir mit dem offenen Wagen in der Nacht zurückfuhren. Am nächsten Tag hielten wir uns noch im Dorf auf, dabei habe ich mich nach Kartoffeln umgeschaut und bin bei einer Frau mit ihren Kindern fündig geworden. Im Tausch mit einer 650 Gramm Rindfleischdose bekam ich eine Pfanne voller Bratkartoffeln, gemischt mit meinem Rindfleisch. Es hat der ganzen Familie gut geschmeckt, doch ich hatte mir den Bauch voll geschlagen, ohne an die Folgen zu denken.

Am Abend haben wir das Dorf verlassen und sind in Richtung Zakupy und Jablonne (Deutsch Gabel) marschiert. In diesen Tagen des 8. und 9. Mai kamen uns die zurückflutenden Kolonnen verwundeter Soldaten und Flüchtlinge mit ihrer letzten Habe entgegen. Wir verspürten ein dumpfes Gefühl in der Magengrube: Vor uns das Aufblitzen der Geschützfeuer am Nachthimmel, daß sich wie Wetterleuchten in den dunklen Wolken widerspiegelte, und das dumpfe Grollen der Artillerie, das uns unheildrohend entgegenkam. Auf den verstopften Straßen war kein Weiterkomme, unsere Marschkolonne setzte seinen Marsch auf Nebenstraßen fort in Richtung Jablonné (Deutsch Gabel).

Ich weiß nicht mehr, ob es die Bratkartoffeln oder das Nahen der Front war, auf jeden Fall mußte ich nach 29 Kilometern Marsch einmal austreten. Ich gab meinem Nachbarn das MG-37 und setzte mich in den Straßengraben. Nachdem ich fertig war, das heißt Jacke und Koppel, Stahlhelm und Seitengewehr und Marschgepäck angezogen, Zeltplane wieder umgehängt hatte, lief ich der Kolonne hinterher und kam nach einigen hundert Metern an eine Straßengabelung am Stadtrand von Deutsch Gabel (Jablonné v Podještìdí) und lauschte in die Nacht, um zu hören, wo denn die Marschkolonne abgeblieben war. Da es sehr dunkel war, es war etwa 4 Uhr Früh lief ich an der rechten Straßenseite und erkannte die Abzweigung nach links nicht. Nach mehr als einem Kilometer kam ich an eine Querstraße ohne die Kolonne zu erreichen.

Da ich niemand von unserer Einheit antraf, mußte ich annehmen, daß diese schon vorher nach links also in westlicher Richtung abgebogen sind und sich in den flutenden Verkehr eingereiht hatten. Wenn meine Annahme zutraf, dann muß die Kolonne schon circa drei Kilometer weiter sein. Auf mein Winken hat ein Wehrmachts-Lkw angehalten und mich mitgenommen und ich hoffte, unsere Kolonne bald einzuholen. Als ich im Dunkeln unter die Plane des Lastwagens kletterte, saßen noch einige Landser und andere Leute auf Kisten und Kästen. Aus der Seite heraus hielt ich immer wieder nach unserer Abteilung Ausschau, doch nachdem ich keine Marschkolonne, sondern nur noch Flüchtlinge mit Handwagen, Pferdewagen und Fahrrädern sah, wurde es mir Angst und Bange. Wir fuhren auf der Straße Nr. 13 Richtung Zwickau (Cvikov).

Die Flüchtlings- und Militärkolonnen kamen aus dem schlesischen Gebiet, Liberec (Reichenberg), Jelenia Gora (Hirschberg) und Wroclaw (Breslau), demnach eine schier endlos lange, die ganze Straße ausfüllende Masse von Fahrzeuge, wie Lastwagen und Personenwagen und Motorräder auf der linken Straßenseite und in der Mitte. Auf der rechten Seite schoben sich wie ein zäher Teig, Marschkolonnen, und Fußgänger mit Handwagen, Kinderwagen, Pferdegespanne hoch aufgefüllt mit Hausrat und Gepäck am äußeren Rand der Landstraße fort. Alle getrieben von der ständig nachrückenden sowjetischen Armee. Allmählich wurde es heller und die aufgehende Sonne verkündete einen schönen Tag. Ängstlich fragte ich einen Unteroffizier, ob die Fahnenflucht sei, da ich doch meine Einheit nicht absichtlich verlassen hatte, sondern durch unvorhersehbare Umstände von ihr getrennt wurde und nicht weiß, wo ich mich melden sollte. Er sagte, ich solle mir keine Sorgen machen und mich bei nächster Gelegenheit auf einer Ortskommandantur als Versprengter melden.

Panzerangriff

Ich war nun etwas beruhigter und beobachtete die ungewöhnliche Situation auf der Landstraße. Alles fuhr in westliche Richtung, ganz rechts liefen die Flüchtlinge mit ihren Karren, Handwagen und Pferdegespannen, hochbeladen mit Kisten, Koffern, Betten und Möbeln. Alles bewegte sich in einem langsamen, trägen und zähen Fluß wie erkaltende Lavamassen. In der Straßenmitte, also in zweiter Reihe, fuhren die Lastkraftwagen und waren etwas schneller, ganz links fuhren Pkws und Motorräder, dabei waren alle eifrig bemüht, vor dem Russen, der herannahenden 1. Ukrainischen Front, zu flüchten.

Plötzlich explodieren wie aus heiterem Himmel vor und hinter uns Granaten auf der dichtgefüllten Straße. Rechts vor uns, am Ortsausgang von Röhrsdorf (Svor) stehen auf einer kleinen Anhöhe unterhalb des Berges Klíè russische Panzer, angestrahlt von der aufgehenden Sonne. Die Mündungsfeuer und die Einschläge auf der Straße lassen das Schlimmste befürchten. Die Kolonne erstarrte, die Pferde scheuten und die Menschen liefen in panischer Angst von der Straße in die Felder oder legten sich in den Straßengraben, um den Granatsplittern zu entgehen. Etwa hundert Meter voraus biegen die Autos und Lastwagen sofort in einen auf der linken Straßenseite liegenden Feldweg und wir folgen den anderen Fahrzeugen in den aufgewirbelten Staub, ich springe von der Pritsche und stelle mich auf das Trittbrett an der Fahrerseite. Nach einiger Zeit in südlicher Richtung erreichen wir die schützenden Wälder, der Weg wird besser und alles hat sich etwas beruhigt. Vor uns bleibt ein Fahrzeug auf dem Weg stehen und kann nicht mehr flottgemacht werden, die nachfolgenden Fahrzeuge schieben es zur Seite, damit der Weg frei bleibt.

Nach geraumer Zeit mündet unser Weg im Wald vor Reichstadt (Zákupy) in die Landstraße von Böhmisch Leipa (Ceska Lipa) nach Jungbunzlau (Mladá Boleslav). Es dauert eine Weile, bis wir uns in den Querverkehr einreihen können, wir treffen hier wieder auf Vorhut der Kolonne, die wir beim Panzerangriff in Svor (Röhrdorf) verloren haben. Es ist auch möglich, daß unsere Kolonne den Weg über Benesov (Bensen), Decin (Tetschen), Most (Brüx) nach Karlovy Vary (Karlsbad) und Cheb (Eger) zur US-Army gefunden hat.

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