Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
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Trickbeat an der Zentralhaltestelle

Biotop in Hanglage: Die Karl-Marx-Städter Szene wurde in den 80er Jahren zum subkulturellen Durchlauferhitzer

"Er ist Linkshänder, 1,96 m groß und manchmal etwas schwerhörig. Auf älteren Fotos sieht man ihn gelegentlich mit gebleckten Schneidezähnen, die inzwischen Opfer von Parodontose und Saxophonspiel wurden; auf Blasinstrumente ist er nun gezwungen zu verzichten. Eine Geige hat er zerstört, der Bogen der zweiten ist defekt." (1) Von wem hier die Rede geht, im 1992 verfaßten Text der Lyrikerin Barbara Köhler, ist für Kenner der Karl-Marx-Städter Subkultur-Szene schnell dechiffrierbar - die physiognomischen Partikel deuten eindeutig auf Klaus Hähner-Springmühl. Beschreiben, benennen oder gar bezeichnen können sie den Hünen mit dem freundlichen Blick dagegen nicht. Dabei ist es verführerisch, seinen frühen Seemannstraum und die Juniorenboxer-Karriere, in der Klaus Hähner-Springmühl es immerhin bis zum Bezirksmeister im Schwergewicht schafft, wie ein interpretatorisches Geschütz in Relation zum Künstlerleben zu bringen. Wer nach biografischen Zäsuren und registrierten Personaldaten sucht, um zum Mikrokosmos dieses 1950 in Zwickau geborenen Mannes vorzustoßen, ist auf der falschen Fährte.

Um seine Spuren kümmert sich der Zeichner, Überzeichner, Saxophonbläser und schier unermüdliche Foto-Recycler schon selbst. Da ist er eigen. Er lebt mit ihnen, verwischt und überschreitet sie, arrangiert neu und projeziert sich mit Hilfe der Artefakte in andere Sphären. Seine Fotos sind meist Aufnahmen von Raumkonstellationen, in denen sich andere Fotos von ihm als Material finden. Ein Kreislauf der Bilder, welcher nach dem letzten entwickelten und vergrößerten Film schon wieder aufs Neue beginnt. Er demonstriert, das die Welt für Klaus Hähner-Springmühl nur äußerlich in Bewegung ist. Zeitreise und Echolot, Sprung übers Zeitungsfeuer und die im Laboratorium nachexerzierte Schlacht am Little Big Horn - das Atelier ist sein Gehäuse. Hier hält er jahrzehntelang aus, wenn man ihn nicht vertreibt. In abbruchreifen Buden mit defekten Überputz-Stromleitungen und kaum heizbaren Räumen - im Winter trägt der Künstler wegen eiskalter Türklinken Mullbinden um die Handflächen gewickelt - findet er seinen Ort und eine der wenigen festen Größen im lebensweltlichen Koordinatensystem. Wenn man nach seiner Profession fragt, dann ist Klaus Hähner-Springmühl wohl in erster Linie ein unermüdlicher Produzent von Spuren-Elementen. Verbeulte Koffer, Exkremente, Arzneimittel, Kinderwagengestelle, philophische Traktate und die archaischen Utensilien eines Außenseiterlebens. Alles wird Material, wenn es auf irgendeine vertrackte Weise zu ihm findet. Wer nur einen Blick in seine chaotische Kunstgrotte wirft und diesen flüchtigen Moment prägend fixiert, wird erstaunen, wie alles bereits im nächsten Moment ganz anders wirken kann. Müllplatz und Mönchszelle, Performancestudio und Partyhöhle.

Ein ästhetisches Sortiment mitsamt einer konzeptuellen Bestätigung, schönster Augenblick des Rezensenten, findet man bei Hähner-Springmühl dagegen nicht. Denn nur das Verhältnis zu den durch fremde Kollektive legitimierten Ordnungsmächten ist bei ihm konstant. Während alle individuellen Seinsformen für den Querschläger experimentelle und gleichwertige Variablen sind. So entspricht sein zu DDR-Zeiten ausgeprägtes Nicht-Verhältnis zu Macht und Geld seinem heutigen zu Geld und Macht. Ein Künstler ohne Konto ist er noch immer. Nicht aus einem elitären Dandytum heraus, sondern vielmehr notwendiges Übel gelebter Askese, die freilich für ihn dieser Tage härtere Torturen nach sich zieht. Konnte er sich in den verfallenden Häusern im Spätsozialismus der renitenten Normen-Diktatur halbwegs entziehen, steht er den demokratisch verhüllten Rendite-Diktaten der Marktwirtschaft wie ein hilfloser Vagabund gegenüber, der nun in einem 2-Raum-Asyl in Leipzig lebt. "Stille am See", schreibt er in einem seiner zahlreichen Begleit-Notate, fast nebenher auf die Zeichenblattränder geworfen, "das Gas ist abgestellt/Ich koch mir meine Suppe/na auf was schon?/England ist nicht die einzigste Insel auf der Welt." (2)

Klaus Hähner-Springmühl steht in Karl-Marx-Stadt als originäres Kraftzentrum zwischen zwei Generationsschüben. Ein prägnanter Anreger für die Nachwachsenden, die sich mitunter aus seinem übersprudelnden Themen-Reservoir clever und erfolgreich bedienen. Ein exotischer Nachzügler für die Älteren, denen er als anarchisches Kontinuum und akzeptable Randerscheinung gilt. Fremd bleibt er beiden. Wo steht er selbst? Sagen wir, der Mann bewegt sich. Seit seinem nach sieben Semestern hingeworfenen Fachschulstudium in Cottbus, das ihn zum Bauleiter auf einer DDR-Großbaustelle machen will. Mit gelbem Plastehelm und sorgfältig gepacktem Aktenkoffer in Gummistiefeln auf dem Weg zur Projektberatung - das ist so ziemlich genau der autoritäre Gegenentwurf seiner praktizierten Lebensform. Also schmeißt er zwangsläufig das Studium hin. Mit 22 Jahren erklärt Hähner-Springmühl seine "Lebensstruktur zur Kunst". (3) Zusammen mit dem Freund und Kommilitonen Michael Freudenberg (4), der später in Dresden für Furore sorgt. Hähner-Springmühl verschlägt es wegen seiner späteren Ehefrau, einer ausgebildeten Musikerin, dauerhaft in die architektonisch verhunzte Bezirksstadt. Er bezieht vorerst ein Atelier auf der Leipziger Straße, das er 1976 wegen Baufälligkeit räumen muß. Seitdem lebt und arbeitet der kraftvolle Autodidakt, seine Existenzform braucht eigentlich ein beide Aspekte verbindendes Tätigkeitswort, im bald schon legendären Hinterhof-Atelier in der Richterstraße 9. Als Fensterputzer und Steinmetzgehilfe bringt sich Hähner-Springmühl über das Existenzminimum, obwohl eine seiner Exerzitien gerade darin zu bestehen scheint, dieses so weit abzusenken, das Armut zum lebenslangen Abenteuer wird. Verhungern tut in der DDR allerdings keiner - eher türmen sich in Atelierwinkeln Brotscheiben-Berge zu bizarren Objekten, hartgetrocknete Menetekel unnütz verbrauchter Energien.

In der Richterstraße beginnt sich Hähner-Springmühl mit seiner 1979 von ihm geschiedenen Ehefrau Gitte, dem Maler Erich-Wolfgang Hartzsch, ebenfalls Autodidakt, später auch mit Frank Bretschneider und Frank Raßbach exzessiv an kollektiven Aktions-Formen zu versuchen. Für Klaus Hähner-Springmühl eine gute Zeit - er wird mit starker Unterstützung der Clara-Mosch-Künstler als Kandidat im Verband Bildender Künstler durchgesetzt. Ein Jahr später, im November 1980, findet in der kleinen Adelsberger Mosch-Galerie auch seine erste Personalausstellung statt. Eine musikalische Vernissagen-Umrahmung, die der Künstler höchstselbst auf dem Saxophpn vorgetragen will, wird zwar von den mitverantwortlichen Kulturbund-Funktionären untersagt, dennoch ist die Exposition ein wichtiger Schritt ins offizialisierte Vagabundenleben. Denn ohne amtliche Künstlerweihe in jener Zeit, und vor allem in dieser realsozialistischen Vorzeigestadt, droht noch immer die Anwendung des Asozialen-Paragraphen.

"Man könnte ja die These aufstellen", sinniert Claus Löser, damals Literat, Schmalfilm-Produzent und enger Kenner der Szene, "daß die Arbeitswut der Staatssicherheit in Karl-Marx-Stadt aus einer ähnlichen Motivation gespeist wurde wie die Arbeitswut der Künstler - aus dieser merkwürdigen Atmosphäre in dieser Stadt, die einen besonders ausgeprägten Selbstbehauptungswillen erzeugte." (5) In der Tat observiert die Staatssicherheit in Karl-Marx-Stadt mit besonderem Tschekistenfleiß. Wohl aus Mangel an anderen Staatsfeinden widmet sich das MfS besonders der seit Beginn der 80er Jahre mit Kraft nachrückenden Künstlergeneration. Eine vitale und eigenständige Szene, die mit den lokalen Positionskämpfen im Anschluß an die Gründung der Produzentengalerie und Künstlergruppe Clara Mosch nichts mehr zu tun hat.

"Es war ein merkwürdig buntes, unverkrampftes und anarchistisches Gebilde, was sich da aufbaute", erzählt die heute in Duisburg lebende Dichterin Barbara Köhler, "man mußte sich hier nicht gegen eine Schule behaupten." (6) Die wenigen akzeptablen Plätze im städtischen Kulturleben sind ohnehin vorerst für andere reserviert. "Als wir nachrückten", erinnert sich Löser, "hatten die Mosch-Leute längst riesige Aufträge und ihre ausgebauten Häuser auf dem Land. Trotzdem galt das nicht als ehrenrührig. Die wurden akzeptiert. Mit Gregor-Torsten Kozik haben wir mehrfach versucht Projekte anzuschieben. Aber der winkte nur müde ab. 'Wir haben unsere Kämpfe in den 70ern gehabt', sagte der. 'Jetzt seid ihr dran'". (7)

Das triste Industriebiotop Karl-Marx-Stadt verzeichnet in den 80er Jahren einen erstaunlichen Talenteausstoß. Fotografen wie Thomas Florschuetz und Florian Merkel machen schnell überregional auf sich aufmerksam. Bei den Malern reicht das Spektrum von Wolfram Adalbert Scheffler bis zum 1965 geborenen Carsten Nicolai. Im literarischen Bereich sind mit Kerstin Hensel, Barbara Köhler, Christian Heckel, Rainer Klis und Fritz-Hendrik Melle einige wichtigere Namen der jüngeren DDR-Literatur vereint. Kein Wunder, daß diese wildwachsende Szene schnell an die Grenzen der Bezirksstadt gerät. Die alten Treffpunkte werden zu eng - der Theaterclub, die Galerie Oben, das Cafe am Markt und der zentral in der Nähe des städtischen Nahverkehr-Schnittpunkts "Zentralhaltestelle" gelegene Klub der Intelligenz "Pablo Neruda". Man weicht notgedrungen auf andere Räume aus. So werden die Kirchen wichtig, etwa die von Pfarrer Hans-Jochen Vogel offen geführte Evangelische Studentengemeinde oder die Kreuz-Pauli-Kirchgemeinde. Und selbst in den FDJ-Jugendklubs im Fritz-Heckert-Neubaugebiet finden nun statt der obligaten Pop-Diskotheken auch Performances und Punkkonzerte statt.

Karl-Marx-Stadt wird zum subkulturellen Durchlauferhitzer, ein Ort für temporäre Kunstausübung. Die meisten verlassen allerdings schon bald nach ihrem künstlerischen coming out die Stadt - zum Studium, in den Westen oder nach Ostberlin. Da sich keine Kunsthochschule in der Stadt befindet, bleibt der Zuzug aus anderen Städten zufällig und gering. "Die Tragik dieses Netzwerkes", bestätigt Claus Löser, "bestand darin, daß es in dem selben Maße wie es sich bildete auch wieder auflöste. Mindestens in dem selben Maße." (8)

Trotz der ständigen Abwanderung gelingt in Karl-Marx-Stadt mitunter die Installation subkultureller Kontinuitäten. Eine wichtige ist etwa die illegale Grafik-Foto-Text-Mappe "A Drei". 1983 gegründet vom Multitalent Frank Bretschneider und dem "negativ-dekadenten Jungerwachsenen" Claus Löser, so der gängige Terminus in seinen Staatssicherheits-Akten (9), will die nach ihrem Erscheinungs-Format benannte Zeitschrift nicht nur lokalen Autoren ein Podium sein. Während in den bereits existierenden Zeitschriften "Und", 1982 gegründet von Lothar Fiedler in Dresden, sowie der von Uwe Warnke verantworteten Selbstverlag-Edition "Entwerter/Oder" in Berlin vorrangig Texte publiziert werden, streben die Karl-Marx-Städter Herausgeber einen paritätischen Anteil von Bildmaterial und Texten an. Die Auflage beträgt 50 Exemplare. Grafiken, Typoskripte und Fotocollagen werden ungeheftet in die halbjährlich erscheinende Mappe eingelegt. In der ersten Nummer fügen Bretschneider und Löser noch einen mit der Schreibmaschine geschriebenen Copyright-Verweis dazu - mit ihren Namen und den korrekten Herausgeber-Adressen. Die befürchtete Resonanz der staatlichen "Organe" bleibt anfangs aus. Außer Lutz Rathenow, der sich zur Mitarbeit anbietet und als Geschenk zwei seiner im Westen erschienenen Bücher beilegt, gibt es kaum Rückmeldungen.

Was Löser zu diesem Zeitpunkt nicht weiß, ist die Tatsache, daß im MfS gegen ihn bereits vor der Herausgabe der ersten Nummer der Operative Vorgang "Lyra" anläuft - wegen "dringendem Verdacht" der staatsfeindlichen Hetze. Bereitwillige Informanten, darunter der als Komponist und Filmemacher in der Szene bekannte Robert Linke, geben die einzige Karl-Marx-Städter Untergrundzeitschrift an ihre Führungsoffiziere weiter. Die konstruieren aus der eher harmlos wirkenden Mixtur von postexpressionistischen Linolschnitten, epigonalen Benn-Verschnitten und mitunter auch originären Entwürfen ein obskures Feindprofil. "Basierend auf ihren feindlich-negativen Grundpositionen gegenüber der gesellschaftlichen Entwicklung der DDR sind die veröffentlichten Werke der 'Autoren'", formuliert die Karl-Marx-Städter Staatssicherheit in einem Informationspapier für die Mielke-Hauptverwaltung, "vorwiegend von Pessimismus, Resignation und sexueller Entartung gekennzeichnet. Vor allem Löser und Bretschneider verfolgen mit der Herausgabe der 'A 3' sowie deren Verbreitung in der Öffentlichkeit das Ziel, eine Alternative zur staatlichen Kultur- und Verlagspolitik der DDR zu schaffen." (10)

Die beiden Herausgeber bringen sechs Ausgaben heraus, dann übergeben sie das Produkt an Bernd Weise, der später auch eine Zeitlang glücklos als Leiter der Galerie Oben fungiert. Bretschneider gründet eine Band. Löser widmet sich verstärkt seinen filmerischen Intentionen und versucht sich an der Organisation eines überregionalen Filmfestivals (11), das von der Staatssicherheit in einer hysterischen Überreaktion schließlich verboten wird. Mit dem neuen Editor fährt die "A Drei" in deutlich seichtere Gewässer. Die Offenheit gegenüber nach Artikulation drängenden Autodidakten opfert der neue Herausgeber einer Orientierung, die eher auf offiziell legalisierte Autoren setzt. Der bildkünstlerische Anteil, meist eingebracht durch im Verband Bildender Künstler bereits anerkannte Jungmaler, wird stärker - neue Texte unbekannter Autoren finden in der "A Drei" kaum noch statt. Mit dem anarchischen Moment verliert die einzige Untergrund-Publikation der Stadt auch ihren subversiven Stellenwert. So muß die Staatssicherheit nicht den Umweg über ein Ordnungsstrafverfahren nehmen, mit der etwa in Halle die Herausgabe der "Galeere" (12) nach drei Ausgaben erfolgreich gestoppt werden kann. Stattdessen setzt sich die Bezirksverwaltung sogar für eine Fortexistenz des Produktes auf dem erreichten Level ein. Nicht ohne Stolz meldet Oberstleutnant Eichler, Leiter der Abteilung XX in der MfS-Bezirksverwaltung, nach Berlin: "Wie aus dem Sachstand ersichtlich, wurde die 'A Drei' unter dem neuen Herausgeber und der gezielten Einflußnahme durch den IMB 'Karl Ruprecht' inhaltlich und gestalterisch neu profiliert als Mittel der Artikulation junger Künstler in einer niveauvollen Kunstmappe. Ich bitte Sie, die 'A Drei' aus dem Status einer alternativen, oppositionellen Untergrundmappe auszugliedern."(13)

Von der "Untergrundmappe" zur niveauvollen Volkskunstedition. Ein Weg, der allerdings auch in Karl-Marx-Stadt eher Ausnahme bleibt. Vielmehr verbergen sich unter dem Prädikat "Hervorragendes Volkskunstkollektiv" mitunter höchst eigenwillige Produkte. Wie die 1985 in Karl-Marx-Stadt gegründete Experimentalband AG Geige. Nach einem Jahr Wartezeit erhält die skurrile Formation eine DDR-Amateureinstufung. Allerdings ist der Einstufungskommission wohl nur schemenhaft klar, was sich hinter den selbstgefertigten Fantasy-Kostümen der Akteure für ein eklektizistisches Künstlercredo verbirgt. Kritische Reizwörter fehlen in den wild assozierten Textgebilden. Dafür imaginieren die kollektiv gezimmerten Zeilen eine Welt, in der die einst von der Liedermacherin Bettina Wegner hingebungsvoll besungenen "kleinen Finger" als brachiale "Fingerwalze" durch die sächsischen Biotope ziehen. Abschied von der dissidentischen Charaktermaske, Ankunft in der postsozialistischen Lebensironie. Die Band entsteht aus einem Kreis befreundeter Autodidakten, seit frühen Jahren umtriebig mit Malerei, Grafik, Fotografie und 8mm-Filmprojekten beschäftigt. "Wir haben ja beim Malen immer Musik gehört", so der Bandleader und bereits als Mitherausgeber der "A Drei" aufgefallene Frank Bretschneider, "und einfach versucht, mit Hilfe von Tonbandgeräten und einfachen Musikinstrumenten selbst Musik zu machen." (14)

Mit ihrem speziellen "Trickbeat", einem bizarren Mix aus Samples, diversen Bandschleifen und elektronischen Effekten, und ihrer unverwechselbaren Live-Präsentation wird die AG Geige bald zum legendären Kultereignis. Im privaten Wohn- und Schlafzimmerstudio "sonnenklang" produzieren die vier Karl-Marx-Städter ihre Songs. Die Kassetten vertreiben sie illegal. Frank Bretschneider bastelt seit Anfang der 80er Jahre an experimentellen Toncollagen, inspiriert von Bands wie Throbbing Gristle oder Psychic TV. Seit 1985 bringt er mit seinem Kassettenlabel "klangFarBe" auf neuen Wegen Musik unter die Leute. Darunter ab 1987 auch die eigenwillig gestalteten Tapes der AG Geige, die solch sächsisch-kosmopolitische Titel wie "Yachtclub & Buchteln" tragen. In der liberaleren Jugendkulturpolitik der späten 80er Jahre avanciert das Karl-Marx-Städter "Volkskunstkollektiv" gar zum bizarren Zeichen für Neues Denken und Hören.

In der von Lutz Schramm moderierten Indie-Sendung "Parocktikum" des DDR-Jugendradios, seit dem 27. März 1986 auf Sendung, läuft die "Geige" zum wahren Einschaltquoten-Renner auf. Erstmals in der Geschichte des DDR-Rundfunks steuert ein Ü-Wagen ins subkulturelle Quartier. "Als erste quasi Studioproduktion stand ein Projekt mit der AG Geige an", schreibt Parocktikum-Moderator Schramm. "Für drei Tage fuhr ein Ü-Wagen mit einer 16-Spur-Anlage nach Karl-Marx-Stadt, um dort in einer kleinen Galerie sechs Songs der Band aufzunehmen, die noch vor Ort abgemischt wurden. Für alle Beteiligten war dieses Wochenende ein Experiment. Die Band hatte das erste Mal mit professioneller Studiotechnik zu tun, die Ü-Wagen-Leute das erste Mal mit einer 'anderen Band'. Nach diesem Wochenende wurde DT64 erstmals mit einer solchen, eher unorthodoxen, aber offiziell produzierten Musik konfrontiert. Songs wie 'Fischleim' oder 'Kosmonauten' hielten sehr bald in die Tagesprogramme Einzug." (15) Der Erfolg hält an: Unter dem Namen "Atominoes" spielen sie sich auch auf großen Bühnen durch ein Cover-Repertoire ihrer Vorbilder - von den Residents bis zu Count Five. Kurz vor der Wende kommt beim staatlichen Monopollabel Amiga sogar die erste AG-Geige-LP "Trickbeat" heraus. "Zeychen und Wunder", so der Titel eines ihrer Erfolgssongs, geschehen in Karl-Marx-Stadt - manchmal spät, aber eben auch.


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