Die rasante Entwicklung der Mikroelektronik führte seit Beginn der 70er Jahre zu tiefen Veränderungen der gesellschaftlichen Kommunikation und Organisation. Während Befürworter der neuen Technologien ein befreites "post-industrielles" Zeitalter prophezeiten, warnten Kritiker vor dem Verlust von Individualität und politischer Freiheit.

Die Fotografie erwies sich als adäquates Medium, um die Veränderungen der Lebenswelt im Zuge des technischen Fortschritts bildlich zu fixieren. Die unsichtbare Struktur im Hintergrund automatisierter Fertigungsprozesse stellte die Fotografie dabei vor neue Herausforderungen. Als immer noch glaubwürdiges Verfahren einer scheinbar objektiven Übertragung von Wirklichkeit profitiert die Fotografie von den neuen Techniken.

Nach wie vor liegt ein wesentliches Potential des fotografischen Bildes in der Fähigkeit, zu überzeugen und zu täuschen. Zeitlichkeit und Räumlichkeit sowie das Verhältnis von Bild und Abbild werden erneut zur Diskussion gestellt.

"Das Auge wurde trainiert, um mit dem Rhythmus der industriellen Produktion in der Fabrik Schritt halten und durch die komplexe Semiosphäre jenseits der Fabriktore navigieren zu können. Doch was wären für die perzeptuelle Erfahrung der Postmoderne die Äquivalente des Films und des Fließbandes?"

(Lev Manovich, Die Arbeit der Wahrnehmung, in: Schöne neue Welten, 1995)


 

 

 

 

 

Timm Rautert (* Tuchel 1941)
Reinraum, Siemens AG, München, 1989
Modern print, Farbfotografie/Diasec, 170 x 245
Timm Rautert, courtesy Heidi Reckermann Photographie, Köln

Die Aufnahme, im Rahmen einer Auftragsarbeit von Siemens entstanden, zeigt einen der Garderobenräume der Siemens AG in München, Bereich Halbleitertechnik. Voraussetzung für das Arbeiten mit Halbleiterstoffen sowie für die Herstellung von Siliciumchips sind absolut staubfreie Räume. Von daher ist den Mitarbeitern der Zugang zu den Arbeitsräumen nur in entsprechenden Anzügen erlaubt.
Für das Projekt Gehäuse des Unsichtbaren. Bilder von der dritten industriellen Revolution, das Timm Rautert in den 1980er Jahren begann, vergrößerte er die Aufnahme und stellte sie mit weiteren Fotografien aus den Arbeitsräumen der Siemens AG zu einer thematischen Bildserie zusammen.

Im Ausstellungskatalog von 1992 werden die Bilder lediglich mit dem lakonischen Titel Siemens AG, München 1989 bezeichnet. Die Ratlosigkeit beim Betrachten des Reinraums wird angesichts der Vergrößerung noch gesteigert - der gewählte Ausschnitt veranschaulicht in zugespitzter Form das Dilemma der Orientierungslosigkeit und des Nicht-Verstehens in Verbindung mit dem Eindruck einer vakuumartigen Leere im Bild. Durch das Fehlen eines Rahmens als Distanz erzeugendes Bildelement wird der Betrachter noch direkter und unmittelbarer mit der Dynamik des Raums konfrontiert. Das räumliche Spannungsverhältnis ergibt sich aus der Dominanz der diagonalen Raumflucht, den graphischen Diagrammlinien von Boden- und Deckenplatten und den im Kontrast dazu schlaff und leblos an den Garderobenständern hängenden Schutzanzügen. Im Gegensatz zur malerischen Tradition wird hier eine ruhige Kontemplation unmöglich gemacht, saugt das Bild den Betrachter förmlich in sich hinein. Im kritischen Rekurs auf tradierte visuelle Orientierungsmuster thematisiert Rautert die Veränderungen in der Arbeitswelt und untersucht dabei die Grenzen ihrer Übertragbarkeit in das Medium der Fotografie. BS

Büschemann/Rautert 1990; Ausst. Kat. Essen 1992; Ausst. Kat. Hamburg 1996; Ausst. Kat. Oberhausen 2000.
Bibliographie

 

Andreas Gursky (* Leipzig 1955)
Siemens, Karlsruhe, 1991
Farbfotografie, auf Plexiglas aufgezogen, 170 x 200
Andreas Gursky, courtesy Monika Sprüth Galerie, Köln

Einen zentralen Aspekt der Arbeiten von Andreas Gursky bildet die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Mensch und Raum. Die Fotografien, die er 1991 in Produktionsstätten verschiedener Industrieunternehmen aufnahm, thematisieren eben dieses Verhältnis. Die großformatige Aufnahme Siemens, Karlsruhe zeigt von einem erhöhten Standpunkt aus einen Blick in eine der Werkshallen. Weniger ein bestimmter Fertigungs- oder Produktionsablauf stehen im Vordergrund, sondern vielmehr die Wiedergabe einer Raumsituation, die ein eigenständiges, übergeordnetes Regelsystem darstellt, in das sich der Mensch anonym einfügt. Die durchgehende Tiefenschärfe - die zur genauen Betrachtung der Details anregt -, die gleichbleibende, matte Farbigkeit und die von der Decke hängenden Spiralkabel verdichten den Raum zu einer plastischen, transparent durchscheinenden Gewebestruktur.

Gesellschaftliche Strukturen im Kontext moderner Arbeitsbedingungen werden hier in den Bereich des Ästhetischen, in die Raumwahrnehmung, übertragen - ohne dem Betrachter dabei einen Bildmittelpunkt anzubieten, der als Bezugspunkt für einen hierarchisch gegliederten Raum dienen könnte. Entsprechend fehlt im Bild die Auflösung zu einem überschaubaren Ganzen durch eine harmonisierende und ordnende Zentralperspektive. Der Raum lässt sich lediglich Detail für Detail mit Blicken durchwandern.
Im Rückgriff auf tradierte Bilddramaturgien und Raumkonzeptionen - insbesondere aus der Kunstgeschichte - tastet Gursky die Grenzen von Malerei und Fotografie sowie Fotografie und Film ab. Bei der Darstellung des Verhältnisses von Mensch und Umwelt räumt er dabei der wahrnehmenden gegenüber der abbildenden Funktion in der Fotografie den Vorrang ein. BS

Ausst. Kat. Düsseldorf 1991; Gursky 1992; Ausst. Kat. Zürich 1992; Ausst. Kat. Bregenz 1999; Gursky/Jocks 1999; Steinhauser/Derenthal 2000; Ausst. Kat. New York 2001.
Bibliographie

 

Timm Rautert (* Tuchel 1941)
1. Montageband, Porsche AG, Zuffenhausen, 1992
2. Montageband, Porsche AG, Zuffenhausen, 1992
3. Montageband, Porsche AG, Zuffenhausen, 1992

Farbfotografie/Diasec, 70 x 100
Timm Rautert, courtesy Heidi Reckermann Photographie, Köln

In Rauterts Aufnahmen aus dem Porschewerk in Zuffenhausen zeigt sich wie schon in seiner Aufnahme vom Reinraum (Kat. Nr. 158) ein starkes Interesse an der fotografischen Darstellbarkeit technischer Systeme und ihrer Rezeptoren. Auf den drei Aufnahmen vom Montageband, die formal wie ein Triptychon angeordnet sind, stehen die komplexen Steuerungs- und Fertigungsapparaturen bildfüllend im Vordergrund. Zu sehen ist ein automatisierter Produktionsprozess, der innerhalb eines Regelsystems in einem seriellen Zusammenhang steht und in dem - zumindest was die Ausschnitte hier betrifft - keine Menschen teilnehmen. Montiert wird ein Porsche, dessen Karosserie, eingespannt in die elektronisch gesteuerten Maschinengreifarme, in einer Abfolge von Heck-, Seiten- und Vorderansicht gezeigt wird. Die labyrinthische Fülle von Details kann vom Betrachter schwerlich überschaut werden, die räumliche Koordinationsfähigkeit des Auges ist überfordert. In der Anordnung der drei gleichformatigen Aufnahmen ergibt sich zum einen ein Zeitverlauf, zum anderen wird durch die Akzentuierung der Seitenansicht, in der die sich selbst steuernden Apparaturen annähernd den gesamten Bildraum füllen, eine Hierarchie von Mittelbild und flankierende Seitenbildern hergestellt.
Rautert knüpft hier an das Triptychon als Idealtypus des christlichen Altarbildes an, in dem Form und Inhalt, Bildsystem und Bildgehalt zu einer größeren Einheit zusammengefasst und so das eigentliche Wesen der Darstellung in höchstmöglicher Intensität und Reinheit erfahrbar werden sollte. Als gesellschaftliches Statusobjekt symbolisiert das Auto die Vorstellung einer mobilen und unabhängigen Gesellschaft. Geschwindigkeitsrausch, Potenzierung der eigenen Kraft sowie der Traum, mit der Maschine zu einer Einheit zu verschmelzen - Phantasien, wie sie vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch das Aufkommen des Automobils Konjunktur hatten -, verbinden sich auch heute noch mit dem Auto, das mittlerweile zum Massenprodukt geworden ist. Diese latenten anthropologischen - in erster Linie männlichen - Utopien und Allmachtsphantasien der Moderne konterkariert Rautert mit einer nüchternen Bestandsaufnahme aus der Produktion. Selbst der exklusive Porsche - ein Klassiker unter den Edelkarossen - wird mittlerweile automatisch montiert. Der gesellschaftliche, repräsentative Aspekt und Bedeutungsgehalt ist in diesem Moment von dem Statusobjekt Porsche abgelöst. BS

Ausst. Kat. Essen 1992; Böhme/Rautert; Ausst. Kat. Oberhausen 2000.
Bibliographie

 

 

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DIE ZWEITE SCHÖPFUNG-
Bilder der industriellen Welt vom
18. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Eine Ausstellung des
Deutschen Historischen Museums


31. Juli bis 21 Oktober 2002
im Martin-Gropius-Bau

Martin-Gropius-Bau
Niederkirchnerstraße 7
10963 Berlin
Tel.: 030/ 25486-0
Stadtplan-Link (www.berlin.de)


Öffnungszeiten

täglich außer dienstags 10 bis 20 Uhr

Verkehrsverbindungen
S- und U-Bahn Potsdamer Platz und Anhalter Bahnhof
Bus 200, 248, 348 Haltestelle Potsdamer Platz
Bus 129 Haltestelle Anhalter Bahnhof

Eintritt
6 ,- € incl. Audioführung, ermäßigt: 4,-€