Mit dem Panorama entwickelte sich im 19. Jahrhundert das ausschnitthafte Landschaftsgemälde zur totalen Rundumsicht. Grundlage der Panoramatechnik waren neue Erkenntnisse über die Funktionsweise des menschlichen Sehens. Die Eroberung des Raums erfolgte dabei durch Experimente mit kurvenlinearen Perspektivformen.

Die Landschaft erschien im verkleinerten Maßstab wirklichkeitsgetreu und zugleich beherrschbar. Die Illusionswirkung verhalf den Panoramen zu Popularität. Durch die Verfügbarkeit fotografischer Verfahren wurde das Spiel mit der Imitation von Wirklichkeit noch gesteigert.

Die Panoramen von Industrieanlagen und -landschaften machten den Betrachter zum Augenzeugen technischer Neuerungen und prosperierender Wirtschaft, aber auch landschaftlicher Zerstörung durch Industrie. Die Aneignung des Raumes und die Übertragung des panoramatischen Blicks mit malerischen und fotografischen Mitteln verdeutlicht, dass das Sehen eine Frage des Standpunktes, die Erkenntnis eine Frage der Perspektive geworden ist.

 

 

"Die Genauigkeit der Perspective, die Richtigkeit der Zeichnung, die Wahrheit des Helldunkels und der Haltung versetzen mich durch ihren vereinten Zauber in die wirkliche Natur, aber die öde Todesstille und die erstorbene Bewegungslosigkeit stoßen mich daraus zurück. Ich schwanke zwischen Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit, zwischen Natur und Unnatur, zwischen Wahrheit und Schein. Meine Gedanken, meine Lebensgeister erhalten eine schwingende, hin und her gestoßene, schaukelnde Bewegung, die eben so wirkt, wie das Herumdrehen im Kreise und das Schwanken des Schiffs."

Johann August Eberhard über das Panorama, Handbuch der Aesthetik für gebildete Leser aus allen Ständen, 1803

 

 

 

 

 

 

Hugo van Werden (1863 - 1911)
1. Krupp-sche Gußstahlfabrik / innere Ansicht, 1865
180°-Panorama, Schwarzweißfotografie, sechs Teile, zusammen 67 x 267
Berlin, Deutsches Historisches Museum, Inv. Ph 2001/137

2. Gußstahlfabrik Friedr. Krupp, Essen, 1864-67
360°-Panorama, vintage print, Albumin, elf Teile, zusammen 64,5 x 737
Essen, Historisches Archiv Krupp, Inv. WA 16a29

 

Die Gussstahlfabrik in Essen, 1811 von Friedrich Krupp gegründet, wurde nach dessen Tod 1826 von seinem Sohn Alfred übernommen und im Verlauf von nur sechs Jahrzehnten zu einem der größten gewerblichen Unternehmen Europas und zur weltgrößten Gussstahlfabrik ausgebaut. Der wirtschaftliche Aufschwung der Firma wurde vor allem durch den Ausbau des Eisenbahnwesens in Deutschland getragen. Krupp stellte die ersten brauchbaren Gussstahlwalzen und -achsen sowie nahtlose Eisenbahnradreifen her, die 1875 in Form von drei sich überschneidenden Räderkreisen zum Firmensymbol wurden. Die Produktion von Bessemerstahl und Großaufträge für die Rüstungsindustrie machten Alfred Krupp zum erfolgreichsten Fabrikanten und sein Werk zum Inbegriff deutscher Industrie.
Die intensive Werbearbeit, die Krupp für sein Unternehmen betrieb, und die Firmenpräsenz auf Gewerbe- und Weltausstellungen war nicht unwesentlich am Erfolg und an der wirtschaftlichen Expansion der Firma beteiligt. Krupp setzte vor allem das noch neue Medium Fotografie zur Selbstdarstellung und Dokumentation seines aufstrebenden Unternehmens ein. Neben einer geschichtlichen Abteilung, die 1861 gegründet wurde, richtete Krupp werkseigene Fotoateliers ein. Nicht nur die einzelnen Produkte, sondern auch die Firma als Ganzes wurden mittels des fotografischen Bildes inszeniert.
Hugo van Werden, der 1854 bei Krupp zu arbeiten begonnen hatte, avancierte zu Beginn der 1860er Jahre zum Firmenfotografen. Die 180° Panoramaansicht (oben) der Gussstahlfabrik nahm van Werden vom Hammer Fritz-Kamin auf. Von hier blickte man nach Westen über das Werk in die Umgebung von Essen. Rechts im Vordergrund ist das Gartenhaus zu sehen, in dem die Familie Krupp von 1861 bis 1864 wohnte. Gab diese Ansicht noch im distanzierenden Ausschnitt eine Übersicht über einen Teil der Werksanlage mit einem weiten Ausblick in die Landschaft, so bildete das 360° Panorama (unten) einen Bilderkreis, der den Betrachter vollkommen umschloss und den Blick in die Umgebung auf einen schmalen Streifen am Horizont minimierte. Die Fotografien, die auf Wunsch von Krupp für die Weltausstellung in Paris 1867 angefertigt wurden, nahm van Werden vom Turm der Kanonenwerkstatt auf. Krupp selbst gab die Anweisung, die Fabrik an einem Sonntag mit "Staffage und Leben auf den Plätzen, Höfen und Eisenbahnen" zu fotografieren, weil "die Werktage zu viel Rauch, Dampf und Unruhe mit sich führen". Der erhöhte Aufnahmestandpunkt bietet eine Übersicht über die Ausmaße der Fabrikanlage, die am Horizont in die Landschaft übergeht. Der Rundblick über die Dächer der Werkshallen, entlang der Schornsteine bis zur Landschaft, vermittelt den Eindruck einer in sich geschlossenen Welt. Die arrangierte Szenerie - die teilweise noch im Bau befindlichen Werkshallen, die Arbeiter und Dampfloks, die Eisenbahnräder und weitere Stahlgüter durch das Werk transportieren - suggerieren den Eindruck des wirtschaftlichen Leistungsvermögens und Aufbruchs, dessen Grenzen noch nicht abzusehen waren. Der 360° Rundblick transformiert somit den allumfassenden Anspruch Krupps, eine Fabrik als neuartiges Gemeinwesen geschaffen zu haben, in eine visuell erfahrbare Gestalt. BS

Ausst. Kat. Bonn 1993; Tenfelde 1994 (Zitat Krupp S. 41); Gall 2000; Ausst. Kat. Oberhausen/Dortmund 2000;
Wolbring 2000.
Bibliographie

 

 

Panoramaaufnahmen vom Lichthof des Martin-Gropius-Baus:


 

Sie benötigen Quicktime VR, um die 360° Panoramen auf Ihrem Bildschirm betrachten zu können.
Klicken Sie auf die einzelnen Panoramabilder, um eine interaktives Panoramabild zu erhalten.

 

 
 

 

 

DIE ZWEITE SCHÖPFUNG-
Bilder der industriellen Welt vom
18. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Eine Ausstellung des
Deutschen Historischen Museums


31. Juli bis 21 Oktober 2002
im Martin-Gropius-Bau

Martin-Gropius-Bau
Niederkirchnerstraße 7
10963 Berlin
Tel.: 030/ 25486-0
Stadtplan-Link (www.berlin.de)


Öffnungszeiten

täglich außer dienstags 10 bis 20 Uhr

Verkehrsverbindungen
S- und U-Bahn Potsdamer Platz und Anhalter Bahnhof
Bus 200, 248, 348 Haltestelle Potsdamer Platz
Bus 129 Haltestelle Anhalter Bahnhof

Eintritt
6 ,- € incl. Audioführung, ermäßigt: 4,-€