Das Gedächtnis

Juden und ihre Organisationen waren die ersten, die an den Völkermord erinnerten. Sie setzten den Ermordeten Denkmale, sie suchten nach Zeugnissen, sie brachten ihre Erinnerungen in Worte. In Israel wurden die dem Völkermord und dem jüdischen Widerstand gewidmeten Museen und Gedenkstätten Beith lohamej ha'getaot (1948) und Yad Vashem (1953) gegründet.
Während im Westen die jüdischen Gemeinden öffentlich an den Völkermord erinnerten, war dies hinter dem Eisernen Vorhang nicht möglich. Erst mit der Liberalisierung der Gesellschaften versuchten sie, den Völkermord an den Juden ins Bewußtsein zurückzubringen. In vielen westlichen Ländern begann mit dem Auschwitz- und dem Eichmann-Prozeß in den 60er Jahren eine öffentliche Debatte. Im Unterschied zu den frühen Setzungen des Gedächtnisses wurde der Völkermord nicht mehr nur als jüdische Angelegenheit betrachtet. In diesem Prozeß des Wandels der Wahrnehmung spielten seitdem Film und Fernsehen eine entscheidende Rolle. Die Ausstrahlung der Fernsehserie „Holocaust“ beförderte die Internationalisierung des Themas.
In den 80er Jahren vollzog sich in vielen Staaten des Warschauer Paktes ebenfalls ein Wandel im Völkermord-Diskurs. Mit dem Ende des Kalten Krieges kam es in der Regel zu einer Doppelbewegung, die sich einerseits des Völkermordes und der eigenen Mittäterschaft erinnerte. Andererseits hob sie die Verbrechen der Sowjetunion, vor allem den stalinistischen Terror ins Bewußtsein. Diese Länder fühlen sich verpflichtet, die Formen des Gedenkens aus dem Westen zu übernehmen. Auch verstehen sie sich mit ihren großen Verlusten als die eigentlichen Opfer der Kriegszeit.
Insgesamt ist die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und an den Völkermord zentraler Bestandteil einer entstehenden europäischen Öffentlichkeit geworden. Dies zeigt nicht zuletzt die „Internationale Holocaust Konferenz“ in Stockholm 2000 oder die OSZE-Konferenz gegen Antisemitismus in Berlin 2004. Auch die Gründungen vieler Holocaust-Museen bestätigen diese Entwicklung. Doch es ist nicht davon auszugehen, daß die Erfahrungen des Westens im Osten Europas seiner anderen Geschichte wegen ohne weiteres übernommen werden.

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Eine der ersten jüdischen Publikationen über den Völkermord ist das 1945 erschienene „Terezín ghetto“. Es enthält eine Liste der nach Theresienstadt deportierten Juden. Auf dem Umschlag sind die gewaltigen Mauern mit Torbögen zu sehen. Nur schattenhaft sind einige wenige Menschen in dem übergroßen Areal wahrzunehmen, Hinweis auf die Tatsache, daß nur wenige überlebt haben. Die Darstellung ist ein erstes Beispiel für die Bildtradition, die sich später herausbildete, sie wird sofort mit Theresienstadt verbunden. Obgleich Theresienstadt bereits 1947 Gedenkstätte wurde, schenkte man unter kommunistischer Herrschaft – ausgenommen die Phase des Prager Frühlings – dem Gedenken an die jüdischen Häftlinge fast keine Aufmerksamkeit.

Das 1997 gegründete Museum und Dokumentationszentrum „Juden in Lettland“ im jüdischen Gemeindezentrum Riga will die Geschichte Lettlands ins Bewußtsein heben. Hierbei spielt die Erinnerung an den Holocaust eine zentrale Rolle. Der vom Museum herausgegebene Flyer zeigt auf dem Titelblatt einen zerbrochenen Davidstern und das Porträt einer alten Frau. Auf der Rückseite ist das Photo der zerstörten Rigaer Großen Choralsynagoge abgebildet. Im Unterschied zu früheren, eher zurückgenommenen ist dies eine sehr offensive Darstellung.

Zum 10. Jahrestag der „Razzia des Vel d'hiv“ gab die „Amicale des anciens déportés juifs de France“, die Kameradschaft der ehemals deportierten Juden Frankreichs, ein Flugblatt heraus. Es sollte an das „größte Drama während der nationalsozialistischen Besatzung“ erinnern. Reproduziert ist eine Photographie der Juden, die am 16. Juli 1942 im Velodrom d'Hiver in Paris zusammengetrieben worden waren. Der Titel nennt als Täter ausdrücklich die „Nazis“. Daß französische Polizisten die Razzien durchführten, wird auch im Text nicht ausgesprochen.

Die Photographie, auf der ein Junge im Warschauer Ghetto aus „dem Bunker getrieben“ wird entstammt dem Bericht Jürgen Stroops, der die Niederschlagung des Warschauer Aufstandes Tag für Tag dokumentierte. In ihrer mitleiderregenden Botschaft ist unsere Photographie zu einer oftmals reproduzierten und montierten Ikone der Anteilnahme am Leid der Juden geworden. Sie stellt das vielleicht bewegendste und auch irritierendste Beispiel dafür dar, daß fast die gesamte Bildüberlieferung der Opfer durch die Täter geschaffen wurde. Allein dies macht jede Photographie aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges zu einem deutungsbedürftigen Objekt.
 
   
 
   
   
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