Deutsches
Historisches
Museum
"... alle beseelt vom Herzschlag der Arbeiterklasse" -
Der Streik in der Kunst
Klaus-D. Pohl, Seite 1 2 3 5
"Lächerlich und wirr" sollten nach Meinung der deutschen sozialdemokratischen Kunstkritik die Künstler die soziale Lage nicht schildern, so wie auch in der politischen Programmatik ein chaotischer Aufruhr - wie ihn Luyten thematisiert - keine politische Basis finden und somit auch nicht zur Darstellung kommen sollte, denn: "Die deutsche Arbeiterschaft steht geistig viel zu hoch, als daß ihr Straßenkrawalle in den Sinn kommen könnten; sie, voll von der Erhabenheit ihrer Kulturideale, voll mannesstolzen Solidaritätsgefühlen, weiß ihre Riesenschaaren in musterhafter Selbstordnung zu halten."15

In diese Selbstordnung sollte auch der Künstler eingebunden sein, denn die "einzig richtige Auffassung der Gegenwart ist die sozialistische. Der Künstler unserer Zeit muß Sozialist sein. Er muß Sozialdemokrat sein".16 Der Künstler habe eine "Tendenzkunst" zu schaffen, "die als Verbündete dem wirthschaftlichen und politischen Befreiungskampfe sich zugesellt"17, "beseelt vom Herzschlag der Arbeiterklasse"18. Sie solle zwar die "unterdrückte Masse in Not und Elend, aber all' ihre Kräfte anspannend im edlen Streben nach einer idealeren Gestaltung des Lebens"19 schildern, aber - im Gegensatz zum Naturalismus - nicht nur "Dürftigkeit, Brutalität und Häßlichkeit", sondern "lebenskräftige Ideale"20 zeigen, eine Kunst sein, "die dem klassenberußten Arbeiter jene Luft entgegenweht, in welcher er [...] kämpft und strebt".21

Oscar Gräf war einer der Künstler, der für sozialdemokratische Publikationen wie den Wahren Jacob arbeitete und versuchte, diesem Kunstideal nahe zu kommen, das allerdings auch in der SPD nicht unumstritten war. Seine Zeichnung Aussperrung die im Wahren Jacob 1893 als Illustration zu einer Erzählung von Jacob Audorf mit dem Titel Der Ausgesperrte erschien, zeigt eine deutlichere Zielrichtung als die anderen beschriebenen Bildbeispiele. Der Betrachter ist direkt - die untere Bildgrenze durchschneidet die Figuren, die Rückenfigur rechts führt ihn in das Bild ein - mit der Wut des Arbeiters konfrontiert. Die Kopfwendung des erregten Arbeiters führt den Blick in den Hintergrund, wo sich eine Arbeitermenge vor der Bekanntmachung der Aussperrung sammelt. Die zeigende Hand und der ebenfalls wütende Blick des Arbeiters in ihrer Mitte weisen noch einmal deutlich auf die Ursache dieser Empörung hin. In diesem Bild sind keine kontrastierenden Bewegungen unterschiedlicher Meinungen oder Zweifelnde und Verzweifelte - wie bei Luyten oder Koehler - zu bemerken. Die politische Richtung ist eindeutig.
Besonders eindringlich zeigt sich dieser Unterschied in einer Darstellung Gräfs, die sich wie Luytens Werk auf die Lage und die Kämpfe der belgischen Bergarbeiter bezieht. 1895 reproduzierte der Wahre Jacob Gräfs Versammlung streikender Bergleute. Dargestellt ist eine Massenversammlung auf einem von Bäumen umgebenen Platz. Die unübersehbare Menge füllt zwei Drittel der Bildfläche aus. In ihrer Mitte stehen drei Männer auf einem liegenden Baumstamm. Die zentrale Gestalt bildet ein Arbeiter, der die Versammlung überragt. Mit erhobener Faust agitiert er mit offensichtlicher Wut. Er hält einen alten, gebeugten Kollegen umarmt, der seinen Zorn mit geballten Fäusten zum Ausdruck bringt. Der größte Teil der Versammlung ist vom Agitator gebannt. Erhobene Fäuste, entschlossene Mienen und starre Blicke zeugen von der Wirkung der Rede. Daneben finden sich aber auch nachdenkliche und besorgte Mienen. Die gesamte Szene verliert jedoch durch diese Reaktionsvarianten nicht an agitativer Kraft, da Gräf die Aussage eindeutig auf die kämpferische Energie konzentriert, die im Agitator kulminiert.

Der Künstler schildert in dieser Darstellung kein konkretes Streikgeschehen, sondern eine Szene aus Emile Zolas Germinal, dem berühmtesten Streikroman des 19. Jahrhunderts. Gräf bezieht sich auf eine bestimmte Szene, in der der Arbeiterführer Stephan, einen alten Bergarbeiter umarmend, von einem Baumstamm aus einer Arbeitermenge in heftiger Erregung das Leid der Bergleute schildert. Beschreibt Zola aber "wütende Gesichter mit offenem Mund, blitzenden Augen, die ganze Brunst des Volkes"22 und politisch konkurrierende Arbeitergruppen, die die Versammlung stören, so zeigt Gräf diese Aspekte kaum wahrnehmbar nur ganz am Rande. Zolas naturalistische und damit auch die negativen Seiten einer Arbeiteraktion konstatierende Schilderung wird also von Gräf zu einer grundsätzlich positiv ausgerichteten Streiksituation verändert, die zwar zurückhaltende Positionen markiert, jedoch insgesamt eine geschlossene Kampfkraft vorstellt. Er gestaltet die Streikversammlung aus einer eindeutig parteilichen Haltung, die sich ebenfalls in der Komposition der Menge ausdrückt: Im Unterschied zu Luytens Streik ist sie hier nicht weitgehend bildparallel und bühnenhaft angelegt. Leerer Raum im äußersten Vordergrund vermittelt nicht Distanz; Rückenfiguren im Vordergrund und die Überschneidung von Figuren vom unteren Bildrand suggerieren bildkompositionell, dass sich der Betrachter in der Menge befindet.23 Gräf integriert den Betrachter und bietet ihm zugleich eine optische Gasse zum Mittelpunkt an: zum Agitator. Der Künstler spitzt die Szene pyramidenförmig auf den Redner zu und bewirkt damit eine optische Sogwirkung, in der der Arbeiterführer weniger als bewusst lenkender und anleitender Genosse, sondern mehr als der konzentrierte Ausdruck der versammelten Wut und Kampfkraft erscheint.

Gräfs Darstellung ist in der Publizistik der deutschen Sozialdemokratie eine Ausnahme. Nach 1895 findet sich keine weitere Darstellung dieser Art, zu sehr schien selbst den sozialdemokratischen Redakteuren das positive Ideal, die deutliche Programmatik zu fehlen, die sich vorzugsweise in allegorischen Darstellungen formulierte.24 Dennoch zeigt sich anhand dieses Bildbeispiels von Gräf die Relativierung der politischen Positionen früherer Streikbilder. Erst ab 1905 im Zusammenhang der Massenstreikdebatten finden derartige Darstellungen in der sozialdemokratischen Publizistik ihre Fortsetzung in Demonstrationsbildern unterschiedlichster Identifikationskraft.

Die geschilderte Entwicklung belegt, dass erst mit dem gestiegenen Organisationsgrad der Arbeiterbewegung, ihrer Künstler und auch der potentiellen Betrachter Bilder vom Streik entstehen, die "Beteiligung verlangten"25 und zwar dadurch, dass - neben der Parteilichkeit der Künstler - dem Bild eine Tendenz zur Überschreitung seiner ästhetischen Grenze hin zum "Realraum" inhärent ist. Es musste deutlich werden, "daß die Überschneidung der ästhetischen Grenze als das aktive Heraustreten des Kunstwerks über den eine eigene Welt darstellenden Kunstraum als eine tendenzerfüllte Attacke auf den Beschauer angesehen werden kann. Dieser soll durch das in seinen Raum übergreifende Kunstwerk, das einen Realitätszusammenhang mit ihm selbst herstellt, in irgendeinem Sinne beeinflußt werden".26 Die Gegenwart des Betrachters wird - bewusst oder unbewusst - mitgedacht, und als "politische Präsenz formuliert. Der Betrachter ist nicht nur Augenzeuge, er ist 'Komplize'"27, noch deutlicher: "Er wird zur Partei erklärt".28 Sein unparteiischer Standpunkt wie vor Kittelsens Bild wird ihm nicht mehr gegönnt.

Am beeindruckendsten zeigt sich diese Entwicklung an dem Gemälde Der Volksredner von Erik Henningsen. Auch wenn hier kein Streikbild, sondern die Schilderung eines Erster-Mai-Festes gestaltet ist, wie überhaupt das Streikbild gegen Ende des Jahrhunderts in Aufbau und Inhalt dem Demonstrationsbild zu gleichen beginnt29, nimmt das Gemälde als Beispiel der veränderten Wahrnehmung der Arbeiterbewegung eine herausragende Stellung ein.
Der Agitator in der linken Bildhälfte überragt die Arbeitermenge, die sich auf die rechte Hälfte konzentriert. Sie rückt bis an den unteren Bildrand heran, wird von diesem überschnitten. Der Betrachter befindet sich auf Augenhöhe mit den Vordergrundfiguren. Das kleine Mädchen wendet sich direkt zum Betrachter - er befindet sich gleichsam räumlich auf der Seite der Arbeiter; die Absperrung am unteren Bildrand trennt ihn wie die Arbeitermenge von den berittenen Polizisten, die die Versammlung überwachen.
Der Wahre Jacob bespricht dieses Gemälde, das ein Jahr nach seiner Entstehung auf der Großen Münchner Kunstausstellung 1900 im Glaspalast zu sehen war, und lobt es als ein "den Beschauer fesselndes" Bild. Der Maler habe "einen Griff ins Arbeiterleben getan. [...] Mit überzeugender Kraft hat der Künstler die Massen gepackt und trotz der scharfen Individualisierung des einzelnen das Persönliche ausgelöst und die Klasse dargestellt, die ihre Kraft kennt und genau weiß, was sie will; die Klasse, die auf dem einmal beschrittenen Wege nicht innehalten wird bis das Ziel erreicht ist: die Erlösung der Menschheit aus den Fesseln des Junker- und Pfaffentums und des Kapitalismus."30 Der Betrachter soll dabei Position auf der richtigen Seite beziehen.
 
Aussperrung, Oscar Gräf 1893
Aussperrung,
Oscar Gräf 1893.
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Streik der Hammerschmiede, Holzstich nach Theodor Esser

Streik der Hammerschmiede,
Holzstich nach Theodor Esser.
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Versammlung streikender Bergleute, Oscar Gräf

Versammlung streikender Bergleute
von Oscar Gräf.
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En Folketaler, Erik Henningsen 1899

En Folketaler,
Erik Henningsen 1899.
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Studie zu Fiumana, Giuseppe Pellizza da Volpedo 1895/96

Studie zu Fiumana,
Giuseppe Pellizza da Volpedo 1895/96.
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