Deutsches
Historisches
Museum
"... alle beseelt vom Herzschlag der Arbeiterklasse" -
Der Streik in der Kunst
Klaus-D. Pohl, Seite 2 3 4 5
Der Streik in der Kunst

La grève des mineurs, Der Streik, Arbeiterstrike, L'oratore dello sciopero, The agitator, Strajk - die Bilder der Ausstellung belegen die Verbreitung des Themas Streik in der europäischen Malerei des 19. Jahrhunderts. Der Streik, in der damaligen gesellschaftlichen Realität präsent und heftig diskutiert, aber auch gefürchtet, findet seinen kulturellen und künstlerischen Ausdruck. Nicht nur in der Arbeiterkultur durch spezifische Versammlungsformen und Verhaltensweisen, auch in der Literatur und schließlich in der bildenden Kunst ist dieses Motiv und damit die Auseinandersetzung des Künstlers mit dem gesellschaftlichen Konfliktstoff spätestens seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts nicht mehr zu leugnen.
In den Zentren der Streikbewegungen - in Belgien, in Deutschland, in Polen - fanden sich Künstler, die das Leben der Arbeiter abseits der akademischen Normen künstlerisch beobachteten. Sie nahmen an diesem Leben, an der Arbeit, an den sozialen und politischen Kämpfen insofern teil, als sie diese künstlerisch und damit auch bewußt wahrnahmen. Das Ziel ihrer Beobachtungen war die Weitergabe der bildnerischen Umsetzung ihrer Erfahrungen an ein Publikum, an die Betrachter. Diese an sich einfache Tatsache hat grundsätzliche Fragen zur Folge, die man sich für eine Einschätzung des Bildes vom Streik stellen muß, denn das Motiv war nicht selbstverständlich, mancherorts ging der Künstler ein politisches Risiko ein: Wer waren die Künstler, und was waren ihre Absichten? Wer waren die Betrachter oder welche sollten es sein? Was trägt die Analyse des Bildes zur Beantwortung dieser beiden Fragen bei?

Die Künstler, von denen wir Streikbilder kennen, stammten in der Regel aus bürgerlichen Kreisen. Sie fanden über die Genremalerei, den Realismus und den Naturalismus zur Darstellung der Arbeiter. Nur wenige, wie z. B. Theophile Steinlen oder Oscar Gräf, hatten eine direkte Verbindung zu sozialdemokratischen Gruppen. Die selbständige Bildpropaganda der europäischen sozialdemokratischen Parteien begann erst in den späten achtziger und fand ihre künstlerische Ausformulierung in den neunziger Jahren. Von den wenigen Künstlern, die direkt für die Publikationen der Arbeiterbewegung arbeiteten - die also konkret parteilich gebunden waren, da in der Regel die Redaktionen dieser Zeitschriften über Bildbeiträge entschieden -, gibt es nur wenige nachweisbare Darstellungen über den Streik. Daraus läßt sich der Schluß ziehen, dass die uns bisher bekannten Bilder vom Streik nicht unbedingt der Selbstdarstellung der organisierten Arbeiterbewegung dienten.
Die Betrachterschichten der Streikbilder sind eingrenzbar. Die Gemälde - d. h. die am eindringlichsten wahrnehmbaren Werke - waren in der Regel im Atelier, in der Galerie, im Kunstsalon oder auf den großen Kunstausstellungen in Berlin oder München zu betrachten. Daß an diesen Orten das Bürgertum und der Adel das Publikum stellten, muß hier nicht belegt werden. Die Gemälde wurden teilweise aber auch in Zeitschriften verschiedenster politischer Couleur veröffentlicht; diese fanden ihre Leser in kleinbürgerlichen und Facharbeiter- bzw. Gesellenkreisen. Die Postkarte schließlich, auf denen sich jedoch nur sehr wenige Streikbilder reproduziert fanden, hatte wegen ihres niedrigen Preises natürlich einen großen Abnehmerkreis auch in Arbeiterschichten. Das Bild vom Streik war also für diejenigen, die diese Streiks kämpften, nur sehr beschränkt wahrnehmbar.
Die Streikbilder sind als narrativ strukturierte Ereignisbilder von der Komposition her auf den Betrachterstandpunkt zugeschnitten. Den Kompositionsschemata der Genre- und Historienmalerei entlehnt, bieten sie in der Regel keine künstlerisch avantgardistischen Formneuerungen. Umfassend neu ist allein das Thema, das die Künstler - gängige Sehgewohnheiten einkalkulierend - für ein intellektuell nicht strapaziertes Publikum gestalteten. Die Bilder sind auf Wirkung angelegt. Sie sind Teil eines Kommunikationsvorgangs mit den jeweiligen Rezipienten. Sie sind deutlich lesbar. Das Beziehungsgeflecht der einzelnen Bildteile und deren Stellungen zum Betrachter - die "innerbildliche Handlung"1 - erscheinen interpretierbar wie ein Theaterstück. Sie ergeben eine konzentrierte, teilweise typisierende Darstellung, die kombinierbare Botschaften vermittelt. Deren Entschlüsselung und rezeptionsästhetische Einordnung wiederum könnte den politischen Stellenwert des einzelnen Streikbildes auch hinsichtlich der oben aufgestellten Thesen deutlich machen. Denn "im Bild des Dialogs Betrachter-Werk begreifen wir den spannungsvollen Ausgleich von Kunst und Gesellschaft."2

Der norwegische Maler Theodor Kittelsen, der 1876-79 an der Münchner Akademie studierte, malte im letzten Jahr seines Studiums eines seiner bekanntesten Gemälde: Streik. Die Skizze zu dem großformatigen Figurenbild, die in der Ausstellung zu sehen ist, verdeutlicht die Grundaussage des Bildes. Der Betrachter ist mit einem Konflikt konfrontiert: Links befindet sich eine Arbeitergruppe, angeführt von einem älteren weißhaarigen Mann, der mit dem Unternehmer spricht; er wird direkt unterstützt von einem Kollegen, der neben ihm steht und höflich seine Mütze in den Händen hält. Der Rest der Gruppe verliert sich im dunklen Hintergrund, der Betrachter kann den Raum nur erahnen. Ob sich eine größere Menge angeschlossen hat, kann er nicht prüfen. In der rechten Bildhälfte dominiert die Partei des Unternehmers. Dieser sitzt in gepflegter Kleidung hinter einem mit rotem Stoff bezogenen Schreibtisch, auf dem Papiere und Geschäftsunterlagen liegen. An seiner Seite sitzt ein Kontorist, Zigarre rauchend und auf die Arbeiter blickend. Diese rechte Szene ist von einer Deckenlampe hell erleuchtet. Die Arbeiter verbleiben dagegen im Dunkeln; sie haben keinen Einblick in die Unterlagen, auf die der Unternehmer mit seiner rechten Hand weist, und die ihm wohl als Beleg dafür dienen, auf die Forderungen der Arbeiter nicht eingehen zu können.

Kittelsen schildert eine Situation, die im kompositionellen Aufbau dem Gemälde Arbeiter vor dem Magistrat (1848) von Johann Peter Hasenclever gleicht. Auch dort sind die Arbeiter auf der linken Bildhälfte versammelt, rechts sind die Stadtverordneten als Gegenpartei dargestellt. Hasenclever zeigt aber einen Massenprotest, der für den Betrachter durch das Fenster des Rathauses wahrnehmbar ist. Kittelsen dagegen skizziert die Konfrontation Arbeiter-Unternehmer nicht als Konflikt zweier gesellschaftlicher Gruppen bzw. Klassen. Seine Arbeitergruppe hat traditionellerweise wohl dem ältesten Gesellen die Aufgabe des Fordernden übergeben. Deutliche Reaktionen der anderen Arbeiter - wie bei Hasenclever - sind nicht zu erkennen. Der Unternehmer steht dem Arbeitersprecher als Individuum gegenüber. Kittelsen zeigt mit diesem Bild den Streik als Konfrontation in kleinen Betrieben, in denen die handwerkliche Struktur noch überwiegt. Die Handwerker stellten bis 1880 einen wesentlichen Teil der Hauptverantwortlichen für Streikmaßnahmen. Lohnforderungen spielten dabei eine erhebliche Rolle. In unserem Bild könnten die Unterlagen auf dem Tisch auf diese Forderungen hinweisen. Aus zeitgenössischen Berichten wissen wir von derartigen Situationen zwischen Handwerkergruppen und Unternehmern. Der Arbeiter Wenzel Holek schildert einen Lohnstreit von 1877: "Als wir mehrere Wochen gearbeitet hatten und uns eines Samstags abends, wie üblich, den Lohn im Kontor holen wollten, gab's keinen. Der Kassierer sagte uns, daß wir erst Montag abend kommen sollten. [...] Auch Montag und Mittwoch gab es dann wieder kein Geld sondern erst Samstag. Nun standen schon zwei Wochen Lohn. Als ich dann am Samstag abends Lohn holte und zum Kontor [...] kam, standen schon viele Arbeiter wartend da. Einer aber schaute zwischen Vorhängen und Fensterwand ins Innere und ich hörte ihn leise sagen: 'Der Herr Graf sitzt drin.' 'Na da können wir heute warten. So lange der drin sitzt, zahlen die nicht aus.' [...] Bis doch ein Mutiger erklärte: 'Ach was, kommt! Was geht uns das an, holen wir unser Geld.' Alles drängte hinein. Der Graf war da und saß rechts auf dem Stuhl. Aber wir standen wohl schon eine halbe Stunde drin, da suchte der Kassierer [...] noch immer in den Listen und Büchern herum. Wir wußten immer noch nicht, ob wir Geld bekämen oder nicht."3

Der Betrachter des Gemäldes von Kittelsen ist mit beiden Konfliktparteien gleichwertig konfrontiert. Auf der gleichen Sichthöhe wie die Arbeiter blickt er mit auf den Schreibtisch des Unternehmers, gleichsam als Beobachter des Interessenstreits. Eine Parteinahme ist ihm freigestellt. Die Lichtführung und das kontrastreiche Hell-Dunkel heben die Hauptkontrahenten hervor. Die Endfassung des Gemäldes wurde auf der Internationalen Kunstausstellung in Wien 1882 präsentiert. Dort "erregte es trotz seiner malerischen Schwächen gewisses Aufsehen durch die kraftvolle Charakteristik der Figuren."4 Die Konfliktparteien waren also dem Kunstpublikum als Charakterfiguren erfahrbar. Keine der Parteien ist jedoch in irgendeiner Weise unsympathisch dargestellt - das Bild entstand in einem Jahr, in dem die Statistik auch nur drei Streiks in Deutschland verzeichnete. Das Sozialistengesetz gegen die Sozialdemokratie war allerdings bereits wirksam.
 
Der Streikredner, Emilio Longoni 1891
Der Streikredner,
Emilio Longoni 1891.
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Arbeiterstrike

Arbeiterstrike,
nach einem Gemälde von Christian Ludwig Bokelmann.
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La Grève des Mineurs, Alfred Philippe Roll 1880

La Grève des Mineurs,
Alfred Philippe Roll 1880.
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Strike, Theodor Kittelsen 1879

Strike,
Theodor Kittelsen 1879.
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Arbeiter vor dem Stadtrat, Johann Peter Hasenclever 1848/49

Arbeiter vor dem Stadtrat,
Johann Peter Hasenclever 1848/49.
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