> Georg Lindemann: Attentat am 20 Juli 1944

Georg Lindemann: Attentat am 20. Juli 1944

Dieser Eintrag stammt von Georg Lindemann (*1925) aus Celle, April 2001:

Am 14. November 1944 verließen um 8.00 Uhr früh 2 Personenkraftwagen den Hof des Reichsverteidigungshauptamtes in der Prinz-Albrecht-Straße in Berlin. Im ersten Wagen saß mein Bruder, im zweiten ich. Beide gefesselt und begleitet von je 2 Gestapobeamten. Das Ziel war der Volksgerichtshof in Berlin-Schöneberg, das spätere Kontrollratsgebäude in der Elßholzstraße. Um 9.00 Uhr sollte vor dem 1. Senat die Verhandlung gegen und eröffnet werden. Angeklagt waren wir wegen Landesverrats, Wehrkraftzersetzung, Kenntnis und Nichtanzeige eines Hochverrats.

Es handelte sich um den Umsturzversuch und das Attentat am 20. Juli 1944 gegen Hitler und sein Regime.

Wie waren wir in diese Situation gekommen?

Soldat der Deutschen Wehrmacht

Ende 1941 wurde mein Bruder Soldat, Monate später ich. Wir hatten uns beide jeweils zu den von uns bevorzugten Truppenteilen freiwillig gemeldet, mein Bruder zur Artillerie des Heeres und ich zur Marine.

Im Juni 1942 erhielt meine Mutter plötzlich den Besuch der Gestapo. 2 Beamte wollten meinen Bruder und mich befragen, warum wir nicht der HJ, dafür aber der Swingjugend in Hamburg angehörten. Die Swingjugend war damals eine Protesterscheinung, die viele Jugendliche umfaßte, nicht nur in Hamburg, sondern auch in anderen Großstädten Deutschlands, wie wir heute wissen. Wir kleideten uns mit Hut und Schirm, trugen die Haare lang, sammelten Schallplatten mit amerikanischer Swingmusik, tanzten danach und gründeten mit anderen einen "Cabinettclub 611".

Unsere Namen mußten der Gestapo bei Vernehmungen von Jugendlichen, die bei einer Swingveranstaltung festgenommen worden waren, aufgefallen sein. Meine Mutter hielt den Gestapobeamten entgegen, daß die 3 Männer der Familie alle als Soldaten an der Front bzw. in der Ausbildung seien, und daß die beiden Söhne sich freiwillig zur deutschen Wehrmacht gemeldet hätten. Sie fragte, ob es noch eines weiteren Beweises bedürfe, daß die Männer der Familie aufrechte Deutsche seien. Die Gestapo gab sich mit dieser Erklärung zufrieden, machte jedoch den gesamten Vorgang aktenkundig. Dieser sollte uns 2 Jahre später noch einmal begegnen.

Ende Januar 1943

Das Ende der 6.Armee in Stalingrad war unabwendbar geworden. Wir hörten in den Decks des Schweren Kreuzers "Lützow" in Nordnorwegen Görings denkwürdige Rede zum Ende der Kämpfe in Stalingrad. Sie gipfelte in dem Satz "Wanderer kommst du nach Berlin, dann berichte, du habest uns hier liegen gesehen, wie das Gesetz es befahl". Wir wußten damals nicht, wie viele Tausende es waren.

In Nordafrika stand das Afrikakorps Rommels unter starkem Druck durch die über Tripolis von Osten vordringenden englischen Verbände. Die Amerikaner waren in Westafrika gelandet und im Vormarsch auf Tunis begriffen. Es war zu erkennen, daß Nordafrika nicht mehr lange zu halten war.

Dieser Mehrfrontenkrieg war ein militärischer Wahnsinn. Ich hatte die militärische Lage auf allen Kriegsschauplätzen ständig verfolgt, die Wehrmachtsberichte gaben durch die Nennung von Ortsnamen eine ausreichende Darstellung von den aktuellen Bewegungen. Die üblichen Redewendungen, wie "im harten Abwehrkampf" oder "Absetzbewegung" konnte ich interpretieren. Das Kräftepotential war zu ungleich verteilt. Der Eintritt Amerikas in den Krieg machte sich immer mehr bemerkbar. Dieser Krieg war nach meiner Auffassung verloren.

Marineschule Mürwik April - September 1943

In einer Sonderveranstaltung, neben dem normalen Unterricht, führte uns das Propagandaministerium in die Geheimnisse der Manipulierbarkeit der öffentlichen Meinung ein. Als ein Beispiel von mehreren nenne ich 2 Reden Hitlers während der monatelangen Tschechenkrise 1938: eine friedliche Rede in verbindlichem Ton und eine 5 Wochen später gehaltene kriegerische Rede kurz vor der Konferenz in München mit Chamberlain, Daladier und Mussolini. Hitler wollte die Konferenzteilnehmer mit der demonstrierten Kriegsbereitschaft seiner Zuhörer beeindrucken. Die Technik des propagandistischen Redeaufbaues wurde uns per Originalton vorgeführt und die Steigerung der erwünschten Stimmung der Zuhörer demonstriert. Als Hitler seine Rede beendete, steigerte sich die Begeisterung in dem euphorischen Ruf: "Führer befiehl, wir folgen!" Die Verführung war gelungen. Auf Propaganda verstanden sich die Nationalsozialisten.

Ich erinnere mich an eine Rede von Goebbels, die er im Februar 1943, kurz nach dem Ende der 6. Armee in Stalingrad, vor einem ausgewähltem Publikum im Sportpalast in Berlin gehalten hatte. Goebbels beurteilte diese Rede als die "Meisterleistung" seiner gesamten propagandistischen Tätigkeit. Galt es doch, die nach Stalingrad bedrückte Stimmung im Volk in einen "bergeversetzenden Glauben an den Führer und den Sieg" zu verwandeln. Mit psychologisch wohlkalkulierten Formulierungen führte er seine Zuhörer von der Frage "Glaubt ihr mit dem Führer an den Endsieg?", die natürlich mit einem lauten "Ja" beantwortet wurde, über mehrere Stufen hin zu der Frage "Wollt ihr den totalen Krieg, wenn nötig totaler und radikaler, als wir ihn uns heute Oberhaupt vorstellen können?". Auf das aus 20.000 Kehlen geschmetterte "JA" beendete Goebbels seine Rede mit der klaren Aufforderung an alle "Nun, Volk, steh auf und Sturm, brich los." Die Begeisterung der Massen, die in einer nicht zu beschreibenden Hysterie endete mit schreienden Menschen, die bereit waren, sich zu allem verführen zu lassen, wurde noch minutenlang im Radio übertragen. Mir lief es schaudernd den Rücken hinunter, als wir im Deck unseres Schiffes in Nordnorwegen Zuhörer dieses Massenwahns wurden.

Ende Juli 1943 erlebte ich etwas von dem totalen Krieg in Hamburg, das über 6 Tage in Tag-und Nachtangriffen alliierter Flugzeuge systematisch zerbombt wurde. Meine Mutter lebte dort in unserer Wohnung. Ich hatte nach den ersten Angriffen Sonderurlaub erhalten, um nach ihr zu sehen. Sie hatte schon 3 ausgebombte Familien aufgenommen.

Ich erhielt eine Lehre in diesen Tagen, welches Leid die Zivilbevölkerung auszuhalten hatte. Wasser, Strom, Gas, alles war ausgefallen. Die Versorgung der Bevölkerung war nur durch die Wehrmacht möglich. Das war der erste "Abglanz des totalen Krieges", den 5 Monate vorher Goebbels dem Deutschen Volk versprach.

Für mich stand fest, dieser Krieg, der von vorne herein nicht zu gewinnen war, mußte beendet werden. Gegen Ende der Marineschulzeit im September 1943 sah ich meinen Vater, General Fritz Lindemann, das erste Mal wieder seit ich Soldat war. Er war Anfang August nach bisheriger ausschließlicher Frontverwendung in die Dienststellung des Generals der Artillerie beim Chef des Generalstabes des Heeres versetzt worden. Ich hatte mir vorgenommen, ihm meine Auffassung offen darzulegen.

Wir hatten ein sehr ausführliches Gespräch über die gesamte militärische Lage. Meiner Schlußfolgerung, daß der Krieg verloren sei, stimmte er zu. Er sprach aber auch von anderen Dingen, die mir bis dahin verborgen geblieben waren - von den Verbrechen gegen die Menschen in den besetzten Ostgebieten durch SS-Sondereinheiten in einem für mich unvorstellbarem Ausmaß. Wie konnte sich das Staatsoberhaupt über das Gesetz stellen? - Warum konnte das geschehen? - und warum ließ man Hitler an der Macht nach all den Erfahrungen der vergangenen 10 Jahre? Die Geschehnisse waren damals für mich so schwer zu begreifen, wie sie für viele kaum begreifbar waren, als sie nach der Kapitulation im Mai 1945 plötzlich den ungeheuerlichen Tatsachen ins Auge sehen mußten. Gegen Ende dieser Eröffnung sagte ich meinem Vater, daß wenn Hitler und seine Paladine die Verderber Deutschlands seien, man auch den Mut haben müsse, Hitler und seine Genossen zu beseitigen, und zu versuchen, den Frieden auch unter größten Opfern zu gewinnen. Weiter folgerte ich, daß zu diesem Zeitpunkt nur Offiziere in höheren Dienststellungen in der Lage wären, eine entscheidende Wende, welche auch immer, herbeizuführen.

Mein Vater antwortete mir erst nach großem Zögern, daß es eine Gruppe von Offizieren und anderen Männern in Deutschland gäbe, die an einem Umsturz arbeiteten. Es komme ihnen darauf an Hitler, Göring und Himmler zu beseitigen, die Macht zu übernehmen, und den Einfluß der SS, Gestapo und der Partei zu eliminieren und zu versuchen mit den Gegnern zu einem einigermaßen tragbaren Übereinkommen zu gelangen. Er nannte keine Namen. Ich habe ihn auch nicht danach gefragt. Das war zu dieser Stunde auch nicht nötig. Mich erregte und beruhigte aber auch zugleich diese schwerwiegende Eröffnung.

Mein Vater war längst wieder abgereist, und ich brauchte Zeit zur Verarbeitung des Mitgeteilten. Mein Kommando auf einem gerade in den Dienst gestellten Zerstörer und der erneute Einsatz in Nordnorwegen stellten neue Aufgaben und lenkten mich von den Umsturzplänen ab, die ich aber nicht vergessen hatte.

Nach einer Auseinandersetzung mit der norwegischen Bevölkerung beschäftigte mich die hypothetische Frage, was mit uns Soldaten geschehen würde, wenn Hitler diesen Krieg gewinnen sollte. Ich sah uns ein Leben lang als Besatzer - ungeliebt - und nach nationalsozialistischer Vorstellung als das "germanische Herrenvolk" - gehaßt von der Bevölkerung - überall in Europa und Afrika - stupide unserer Aufsichtspflicht unterworfen - und nach welchem Gesetz ? Das war nicht das Leben, weshalb ich Soldat geworden war.

Mir wurde klar, wir durften diesen Krieg auf keinen Fall gewinnen, nicht nur unseretwegen, sondern aller anderen Menschen wegen, die unter unserem, dem nationalsozialistischen Joch zu leiden haben würden.

Januar 1944

Im Januar des Jahres 1944 besuchte mich mein Vater in Gdingen, damals Gotenhafen, wo ich in der Ausbildung zum U-Bootswachoffizier war. Ich hörte hier zum ersten Mal genaueres von Greueltaten an den Juden und auch von dem, was die Alliierten "unconditional surrender" nannten. Die Chancen für einen Verständigungsfrieden mit den Alliierten nach einer Beseitigung Hitlers waren außerordentlich gering. Aber die Beseitigung Hitlers war nach wie vor als unbedingtes Erfordernis anzusehen.

März 1944

Das nächste Mal traf ich meinen Vater im März 1944 in Flensburg auf einem weiteren Ausbildungskursus, den ich dort zu absolvieren hatte. Mein Vater brachte in dieser Unterredung zum Ausdruck, daß manche der fahrenden Feldmarschälle des Heeres ihre Unterstützung eingeschränkt hätten, für eine Zeit nach einem vollendeten Attentat auf Hitler. Wir sprachen auch über die Stimmung im deutschen Volk. Wir waren uns klar darüber, daß weitaus die Mehrheit nicht verstehen würde, warum ein Attentat gegen Hitler durchgeführt würde. Aber mein Vater war der Meinung, daß die Beseitigung Hitlers eine Verpflichtung für jeden sei, der die Situation Deutschlands und die Verbrechen seiner Führung überschauen könne, und der an Deutschland und seine Zukunft dabei denke. Ihn schreckte auch nicht die Möglichkeit des Wiedererstehens einer Dolchstoßlegende. Er war der Überzeugung, daß der Schritt getan werden müsse und zwar bald.

30. Juni/ 1.Juli 1944

Am letzten Junitag 1944 traf ich meinen Vater in Swinemünde. Es war ein sehr schönes, warmes Sommerwochenende. Er war sehr nachdenklich und sehr ernst. Er teilte mir die Grenzen der Besatzungszone der Alliierten in Deutschland mit und sprach von der verhärteten Auffassung der Alliierten gegenüber Gesamtdeutschland, ganz gleichgültig, ob Hitler an der Macht bleiben würde oder ob eine andere Gruppierung an der Spitze Deutschlands stünde. Er sprach davon, daß es in den nächsten 8 Tagen losgehe. Eine wesentliche Voraussetzung für die Durchführung des Attentates sei erfüllt. Es kann sich dabei nur um die Versetzung Stauffenbergs zum Oberbefehlshaber des Ersatzheeres gehandelt haben.

Die Alliierten waren Anfang Juni erfolgreich in Frankreich gelandet und erweiterten das Invasionsgebiet ständig. Entscheidend war die Luftüberlegenheit der Alliierten, die sich im Kampfgebiet genauso bemerkbar machte wie über Deutschland bei Tag und Nacht. Er sprach auch von meiner Mutter und meinen Geschwistern und was mit uns geschehen würde. Ich hatte meinen Vater vorher nie so gefaßt und gleichzeitig so ausgeglichen gesehen. Die Würfel waren gefallen.

Wir verabschiedeten uns. Es war ein Abschied, der auch die Möglichkeit einschloß, daß wir uns nicht mehr wiedersehen würden.

20. Juli 1944

An diesem Tag war ich auf einem Lehrgang in Plön in Schleswig-Holstein. Die Unterredung mit meinem Vater ging mir immer wieder durch den Kopf. Mich beschäftigte die Frage, warum dieses Attentat hatte mißlingen müssen. In der Nacht hörten wir gemeinsam die Ansprache Hitlers, in der von einer "kleinen Clique verräterischer Offiziere" gesprochen wurde. Dabei wußte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie weit der Widerstand um sich gegriffen hatte, weit über die militärischen Kreise hinaus. In meiner späteren Haftzeit lernte ich dann Mitglieder der zivilen Widerstandskreise kennen.

Am nächsten Tag gingen wir in Stellung gegen eine Heeresformation in Eutin, die sich dem Vernehmen nach nicht eindeutig für Hitler erklärt hatte. Es war ja klar, auf welcher Seite die Marine stand. Daran hatte der Treueschwur des Hitler hörigen Großadmirals Dönitz keinen Zweifel gelassen.

Ende Juli 1944 auf der Kommandierungsfahrt nach Gotenhafen zu meiner U-Flottille fuhr ich über Berlin und versuchte meinen Vater telefonisch zu erreichen. Es hieß nur: "Der General ist auf Dienstreise". Am 5. August 1944 wurden die ersten Namen der Offiziere, der am 20. Juli 1944 Beteiligten, veröffentlicht. Der Name meines Vaters war dabei. Er wurde unter "fahnenflüchtig" geführt. Einen Tag nach der Veröffentlichung der Namensliste fragte mich der 1.Offizier der U-Flottille nach der Namensgleichheit. Sonst fragt keiner, keiner meiner Kameraden, keiner der Offiziere. Ich konnte nur mit einem meiner Kameraden sprechen, was für mich eine wesentliche Erleichterung war.

Am 8. August 1944 fand der erste 20.-Juli-Prozeß vor dem 1. Senat des Volksgerichtshofes gegen Witzleben, Hoepner, Stieff und andere statt. Ich las die Zeitungsberichte und versuchte mir eine Vorstellung von dem Geschehen und dem Vorsitzenden Freisler zu machen.

Mitte August entschloß ich mich an meinen Onkel, den kommandierenden Admiral der U-Boote, von Friedeburg zu schreiben, und ihn um Versetzung zu einem Frontkommando zu bitten. Innerhalb weniger Tage traf die Order ein, daß ich mich bei ihm in Kiel zu melden hätte. Er fragte mich dort, ob ich von der Beteiligung meines Vaters am Attentat etwas gewußt hätte. Ich verneinte das mit Nachdruck. Ich wurde zu den Kleinkampfverbänden versetzt und hatte mich ab sofort beim Stab des kommandierenden Admirals Heye in Timmendorf zu melden, wurde den Sprengboten in Italien zugeteilt, am nächsten Tag in Lübeck neu eingekleidet und anschließend in Marsch gesetzt. Es war der 24. August 1944. Ich fuhr am Abend noch nach Hamburg, um in der Wohnung meiner Eltern zu übernachten.

Am nächsten Morgen erschien die Gestapo und verhaftete mich. Eine Mitbewohnerin, Bombenflüchtling in der Wohnung meiner Eltern, hatte meine Anwesenheit angezeigt. Die Gestapo in Hamburg vernahm mich bis zum 26. August mittags ohne irgendein Ergebnis und brachte mich dann auf Anforderung der Sonderkommission am 26. August nachmittags nach Berlin. Am Abend schlossen sich dort die Tore des Gefängnisses Lehrterstraße hinter mir. Dieses Gefängnis war zu einem Teil unter Bewachung der Gestapo für die Häftlinge des 20.Juli-Attentates reserviert worden. In diesem Moment wurde mir klar, daß ich endgültig Gefangener des Regimes war.

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