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Thomas Topfstedt

Abschied von der Utopie. Zur städtebaulichen Entwicklung Eisenhüttenstadts seit Mitte der fünfziger Jahre

 

1957 erschien Kurt W. Leuchts Buch "Die erste neue Stadt in der Deutschen Demokratischen Republik. Planungsgrundlagen und -ergebnisse von Stalinstadt". Im letzten Kapitel übte der Autor eine ideologisch gut abgepolsterte, doch zwischen den Zeilen durchaus lesbare Kritik am erreichten Entwicklungsstand, die sich unter anderem auf die mangelhafte planerische Koordinierung und auf die unzulängliche Ausstattung der Stadt mit Handels- und Dienstleistungseinrichtungen bezog: "Aus der Praxis der Planungs- und Projektierungsarbeit sowie aus der Baudurchführung in Stalinstadt ergibt sich, daß bei solchen einheitlichen und geschlossenen Anlagen nur ein Investor zuständig sein darf und alle Fäden in einer Organisation zusammenlaufen müssen. Die Berechnungen für Stalinstadt ergeben, daß nur etwa 40 Prozent der Gesamtbaukosten der Stadt auf den Wohnungsbau, die übrigen 60 Prozent auf die verschiedenen Planträger fallen. Der allseitig abgestimmte und von den zuständigen Staatsorganen bestätigte Flächennutzungsplan muß für alle Planträger im Interesse der Stadt und ihrer gesamten Bevölkerung bindend sein, und die im Flächennutzungsplan festgelegten Bestimmungen müssen auch eingehalten werden. [...] Bei der Plandurchführung von Stalinstadt hat es sich für die Bevölkerung wie für das Bauen selbst als untragbar und nachteilig erwiesen, daß die Folgeeinrichtungen zur Versorgung der Bevölkerung zu einem großen Teil mit großem Zeitabstand zum Wohnungsbau nachträglich gebaut worden sind. Die Prinzipien des sozialistischen Städtebaus erfordern eine harmonische Befriedigung der ständig wachsenden Lebensansprüche der Bevölkerung. Das bedeutet, daß für die zukünftigen Bauvorhaben die Folgeeinrichtungen mit dem Wohnungsbau zugleich geschaffen werden und in den laufenden Volkswirtschaftsplänen verankert sein müssen." (1)

In der Tat war der Aufbau von Stalinstadt trotz - oder wegen? - der zentralistischen Wirtschaftsmechanismen längst nicht so zügig wie offiziell deklariert vorangeschritten. Vollendet waren im Jahr 1957 nur die Wohnkomplexe I bis lll und die ersten, seit 1955 errichteten Häuser an der Straße der Republik. Die vorbereitenden Arbeiten zum Wohnkomplex IV liefen gerade an, während das Rückgrat und die eigentliche Mitte der Stadt - die Magistrale und der Zentrale Platz - noch fehlten. Von den überaus ehrgeizigen, 1953 entwickelten Bebauungsideen für die Leninallee war lediglich das im März 1955 als Kreiskulturhaus eingeweihte Friedrich-Wolf-Theater verwirklicht worden. Der neoklassizistische Musentempel stand ebenso solitär an der vorderhand noch unbebauten Magistrale wie das 1954 begonnene Haus der Partei und Massenorganisationen am Zentralen Platz. Letzterem Gebäude wuchs rasch die Funktion des Rathauses zu, weil der eigentliche Rathausbau, der in der Achse der Leninallee stehen und mit der monumentalen Kulissenarchitektur des Werkeingangs korrespondieren sollte, nie errichtet worden ist.

Als der Ausbau Stalinstadts in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre fortgesetzt wurde, hatten sich im Zuge der 1955 / 56 eingeleiteten "Großen Wende im Bauwesen" die ökonomischen und stadtplanerischen Prämissen grundlegend verändert. Bedingt durch den Zwang, mittels Typisierung und Industrialisierung des Wohnungshaus die Bauzeiten zu verkürzen und die Einwohnerdichte nachhaltig zu erhöhen, wurde das von Kurt W. Leucht entwickelte stadtbaukünstlerische Konzept der geschlossenen Blockrandbebauung und der Anlage geräumiger Wohnhöfe rasch obsolet. So behielt man beim Bau des Wohnkomplexes IV (Hauptbauzeit von 1958 bis 1961, städtebaulicher Entwurf Herbert Härtel, Freiflächengestaltung Erhard Stefke) zwar das im Bebauungsplan von 1953 ausgewiesene Straßengerüst bei, gab jedoch die ursprünglich vorgesehene Binnenraumstruktur zugunsten einer gleichförmigen Reihen- und Zeilenbebauung mit typisierten, meist viergeschossigen Wohnblocks auf. Der Bruch mit der Architekturdoktrin der Nationalen Bautraditionen ist in Stalinstadt ab 1957 mit dem Bau des IV. Wohnkomplexes vollzogen worden. Im selben Jahr begann der Aufbau von Neu-Hoyerswerda, der zweiten Stadtneugründung in der DDR, die wegen der hier erstmals konsequent zum Einsatz gebrachten industriellen Wohnungsbautechnologien (Großblock- und Großplattenbau) eine geradezu paradigmatische Bedeutung für die Stadtplanung der späten fünfziger Jahre hatte.

1959 wurde auch in Stalinstadt der entscheidende Schritt zum industriellen Wohnungsbau und zur vollständigen Lösung von den überkommenen Raumstrukturen mit der Projektierung des für rund 6 500 Einwohner ausgelegten Wohnkomplexes V vollzogen. Er entstand von 1960 bis 1964 südöstlich des Wohnkomplexes II auf dem Gelände des ehemaligen Wohnlagers "Helmut Just". In sanftem Schwung sind die Straßen und Wohnwege so angelegt, daß die sie begleitenden, zumeist in Großblochbauweise errichteten Wohnblocks ein fließendes Raumgefüge aus offenen Reihen und Zeilen bilden, in dem lediglich ein größerer Grünraum für das zwischen 1964 und 1966 erbaute Wohnkomplexzentrum ausgespart wurde. Daß die industrielle Bauweise und der mit ihrer Einführung verbundene Verzicht auf traditionelle städtebauliche Raumbildungen von den damals in Stalinstadt tätigen jungen Architekten und Stadtplanern nicht als technologischer Zwang empfunden, sondern als Vorbedingung zur Schaffung eines modernen Wohnmilieus geradezu freudig begrüßt wurde, belegt der Kommentar von Gerd Bartsch, der mit Herbert Härtel das städtebauliche Konzept erarbeitet hatte: "Die im V. Wohnkomplex vorherrschende Zeilenbebauung gibt den zugeordneten Freiflächen einen höheren Wert. Die Möglichkeit der organischen Verbindung zum öffentlichen Grün beziehungsweise zur Landschaft, die Art der Raumkonzeption nehmen dem Wohngrün völlig den Charakter des Wohnhofes. Durch die Wahl der Eingänge (Vermeidung des Hofausgangs) wurde erreicht, daß, soweit wie mög- lich, jede Wohnzeile einen eigenen Grünraum erhält." (2) Unter den zeitgleichen Neubaugebieten, die vielerorts in der DDR geplant und gebaut wurden, darf der Eisenhüttenstädter Wohnkomplex V als eine der ansprechendsten Wohnanlagen bezeichnet werden. Darüber hinaus belegt er anschaulich, daß der Siedlungsbau während der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre im Osten wie im Westen Deutschlands dem gleichen städtebaulichen Grundmuster der räumlich aufgelockerten und durchgrünten Stadtlandschaft folgte.

Das baukünstlerisch beeindruckendste Resultat des damaligen städtebaulichen Modernisierungsschubs war die Neuplanung der Leninallee, die heute Lindenallee heißt. Ihre Ostseite mit den drei markanten Punkthäusern entstand nach dem schon im Juli 1957 vorliegenden Entwurf von Walter Palloks und Otto Zander (Zentrales Entwurfsbüro für Hochbau des Ministeriums für Bauwesen), während die Bebauung der Westseite bei räumlicher Einbindung des Friedrich-Wolf-Theaters von den Mitarbeitern des Stalinstädter Stadtbauamtes unter der Leitung von Herbert Härtel entworfen wurde. Im Gegensatz zu den hybriden Magistralenplänen von 1953, die eine feierlich inszenierte, von symmetrischen Baublocks eingefaßte Demonstrationsachse vorsahen, wurde die Hauptstraße des Stadtzentrums nun als eine nach funktionellen Gesichtspunkten gegliederte, mit Wohn- und Gesellschaftsbauten kombinierte, Ladenstraße gestaltet. Von 1959 bis 1964 erbaut, gehört die Magistrale von Eisenhüttenstadt neben der Chemnitzer Straße der Nationen und dem zweiten Bauabschnitt der Berliner Karl-Marx-Allee zu den frühesten und bedeutendsten Manifestationen eines modernen, an internationalen Leitbildern orientierten Städtebaus in der DDR.

Dank der breiten Trottoirs und einer aufwendigen Freiflächengestaltung besaß der rund 600 Meter lange Straßenzug insbesondere im südlichen Teil den Charakter einer Fußgängerzone. Er lud damals eher als heute zum Verweilen ein und wies ein für DDR-Verhältnisse recht beachtliches Angebot an Geschäften, Gaststätten und Kultureinrichtungen auf. So gab es neben der zeittypischen Milchbar unter anderem auch ein Möbelkaufhaus, ein Lesecafé und kurioserweise sogar einen Autosalon in Gestalt eines kleinen gläsernen Pavillons mit vorkragendem Pultdach. An der Straße der Republik wurden das Kaufhaus Magnet (1958 bis 1960) und das Hotel Lunik (1960 bis 1963) als zwei gut proportionierte Stahlbetonskelettbauten errichtet, die der Magistrale nach Süden hin einen städtebaulich wirkungsvollen Abschluß geben und zugleich zur künftigen Bebauung des Zentralen Platzes vermitteln sollten. Große Sorgfalt wurde auch auf eine differenzie Farbgebung und Oberflächentextur der Bauten verwandt (die Wohoblocks mit dunkelrot eingefärbtem Wandputz, die Ladenpavillions und das Möbelkaufhaus mit einer Keramikplattenverblendung, die Punkthäuser sowie das Hotel und das Magnet-Kaufhaus in hellem Weiß). Die architektonisch hervorragend gestalteten Hochhäuser geben der Magistrale eine einprägsame Silhouette. Sie weisen nach Norden zu den ersten Hochöfen des Eisenhüttenkombinates hin, die anstelle des nicht ausgeführten Werktorgebäudes sozusagen den "industriellen point de vue" der Leninallee bildeten und in dieser ursprünglich gar nicht beabsichtigten baulich-räumlichen Korrespondenz den Entwicklungszusammenhang zwischen Werk und Wohnstadt veranschaulichten.

Ein neues, mit ehrgeizigen Perspektivplanungen verbundenes Kapitel der Stadtgeschichte begann im November 1961 durch die seit Anfang der fünfziger Jahre vorgesehene Eingemeindung der Kleinstadt Fürstenberg / Oder und des Dorfes Schönfließ. Die erheblich vergrößerte Stadtanlage wurde - im Zuge der offiziellen Entstalinisierung - von Stalinstadt in Eisenhüttenstadt umbenannt; analog dazu verlor auch das Werk in seinem Namen den Zusatz "J. W. Stalin" und hieß nun wieder schlicht Eisenhüttenkombinat 0st (EKO). Aus der 1950 gegründeten und 1951 als ein idealstadtartig in sich geschlossener Organismus geplanten Kernstadt, die 1959 um einen fünften Wohnkomplex erweitert worden war, wurde nun der Stadtteil Eisenhüttenstadt-Mitte. Die ländliche Gemeinde Schönfließ wurde als Eisenhüttenstadt-West angegliedert, während Fürstenberg / Oder seinen Kreisstadt-Status an die Gesamtstadt abtrat und nur noch als ein erneuerungsbedürftiges Glied des zukünftig auszubauenden Stadtteils Eisenhüttenstadt-Ost angesehen wurde. Durch die eingemeindeten Ortschaften erhielt Eisenhüttenstadt eine neue, sich bandartig von West nach 0st erstreckende Hauptstruktur, die sowohl für die weitere Entwicklung der Industrie wie auch für die Anlage weiterer Wohngebiete genügend Raum bot. Eine erhebliche Erweiterung der metallurgischen Industrie war geplant, insbesondere durch ein modernes Kaltwalzwerk, das im Juli 1968 den Betrieb aufnahm. Im gleichen Jahr hatte Eisenhüttenstadt etwa 42 500 Einwohner, also 12 500 mehr, als der einst auf eine Endausbaugröße von 30 000 Einwohnern festgelegte Leuchtsche Bebauungsplan von 1951 vorgesehen hatte.

Die vorbereitenden Planungen für den Bau des Wohnkomplexes Vl (städtebaulicher Entwurf Herbert Härtel und Kollektiv, unter Mitwirkung des Instituts für Städtebau der Deutschen Bauakademie) auf dem vom Oder-Spree-Kanal und der Eisenbahnlinie Frankfurt / Oder - Guben begrenzten Areal südlich der Straße der Republik begannen in den Jahren 1960 / 61. Am 18. September 1965 wurde der Grundstein gelegt; 1969 war die erste Ausbaustufe im wesentlichen vollendet. Beim Bau dieses Wohnkomplexes kam neben der Großblockbauweise erstmals auch die Großplattenbauweise in Eisenhüttenstadt zur Anwendung. Im Gegensatz zur fließenden, viel lebendiger wirkenden Raumstruktur des Wohnkomplexes V sind die langgestreckten fünfgeschossigen Häuserblocks in einer streng rektangulären offenen Bebauung angeordnet, die in ihrem monotonen Erscheinungsbild völlig dem zeitgleichen, ebenfalls unter der Kontrolle der Deutschen Bauakademie konzipierten Wohnkomplex Vl in Schwedt / Oder entspricht. Deutlich ist zu sehen, daß die geforderte strikte Einhaltung wirtschaftlicher Parameter - Senkung der Baukosten und der Bauzeiten bei einer weiteren Erhöhung der Einwohnerdichte pro Hektar - jeglichen Anspruch stadträumlicher und architektonischer Gestaltung auf ein Minimum beschränkt hatte, und daß der in den Sog der landesweiten Industrialisierung geratene Eisenhüttenstädter Wohnungsbau in den sechziger Jahren jegliche individuelle Facette verlor. Daran haben auch die späteren Versuche wenig geändert, beim Bau der am Oder-Spree-Kanal gelegenen Wohngruppe Süd zu räumlich in sich geschlosseneren Strukturen zurückzufinden. Nachdem die Stadt ein eigenes Plattenwerk erhalten hatte, das im Oktober 1968 die Produktion aufnahm, folgten in den siebziger Jahren noch zwei Erweiterungen des Wohnkomplexes Vl mit Raum für insgesamt etwa 18 000 Einwohner.

Gegen Ende der sechziger Jahre wurde in Eisenhüttenstadt, das damals rund 42 000 Einwohner zählte, noch einmal ein großer planerischer Anlauf genommen, um der Stadt analog zur Industrie eine entwicklungsfähige Gesamtstruktur zu geben und das noch immer unvollendete Zentrum der Kernstadt Eisenhüttenstadt-Mitte baulich abzurunden. Diese Aktivitäten standen in engem Zusammenhang mit den Vorbereitungen für den 1969 begangenen zwanzigsten Jahrestag der DDR, den die SED als bedeutendes politisches Stichdatum und Gradmesser der Erfolge beim "gesetzmäßigen" Aufbau des Sozialismus ansah. Das mit großem propagandistischen Aufwand vorbereitete Jubiläum löste nicht nur in der Hauptstadt Berlin und in den Bezirksstädten eine regelrechte Planungseuphorie aus, sondern stimulierte auch in zahlreichen anderen Städten umfassende, zum Teil geradezu utopische Neuplanungen.

Im Mai 1969 lag der Generalbebauungsplan von Eisenhüttenstadt bestätigungsreif vor. Er basierte auf einer kühnen, für die nächsten drei Jahrzehnte ausgelegten Wachstumsprognose, der zufolge in einer ersten Ausbaustufe das Stadtzentrum vollendet, der Sport- und Erholungspark auf der vom Oder-Spree-Kanal umflossenen Insel ausgebaut und die Einwohnerzahl auf 58 000 ansteigen sollte. In der zweiten Ausbaustufe bis zum Jahr 2000 sollten die drei Siedlungskerne zu einem homogenen Stadtkörper von insgesamt 110 000 Einwohnern verschmelzen. Eine solche Größenordnung reichte nah an das damals prognostizierte maximale Wachstum der Bezirksstadt Frankfurt / Oder auf 120 000 Einwohner heran und übertraf beträchtlich den seinerzeit für Schwedt / Oder vorgesehenen Richtwert des Endausbaus (90 000 Einwohner).

Im Zusammenhang mit diesem Ausbaumodell fiel der Straße der Republik, die auch heute nur im Bereich der Kernstadt Eisenhüttenstadt-Mitte eine akzeptable stadträumliche Qualität aufweist, eine neue Funktion zu. Vom ehemaligen Dorf Schönfließ ausgehend, führt sie über Eisenhüttenstadt-Mitte, die Nordspitze der Kanalinsel und den Wohnkomplex Vl bis nach Eisenhüttenstadt-Ost. Geplant war, den gesamten Straßenzug zur künftigen Hauptkommunikationsachse der Stadt zu entwickeln und ihn durch eine Folge von Hochhäusern städtebaulich zu akzentuieren. Als westlicher Auftakt und bedeutendstes Glied dieser sorgfältig geplanten Kette von Vertikalakzenten wurde das Hochhaus am Zentralen Platz konzipiert. Auf der Inselspitze war eine Gruppe von Punkthäusern vorgesehen, die den Eingang zum Kulturpark betonen und mit den Punkthäusern des Wohnkomplexes Vl korrespondieren sollte. Ein weiteres Hochhaus in Gestalt einer großen abgewinkelten Wohnscheibe war im Bereich der Einmündung der Straße der Republik in die Gubener Straße geplant. Es sollte optisch zu den neuen baulichen Dominanten des Stadtteilzentrums Eisenhüttenstadt-Ost überleiten. Damit war an die Stelle der praktisch längst aufgegebenen, in sich zentrierten Stadtkomposition ein strukturell wesentlich offeneres, bandstadtartiges Entwicklungskonzept getreten, das freilich auch nur in Ansätzen nach der Fassung von 1968 verwirklicht worden ist.

Überaus charakteristisch für die in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre unter den Schlagworten "wissenschaftlich-technische Revolution" und "sozialistische Menschengemeinschaft" formulierten städtebaulichen Leitgedanken zum weiteren Ausbau der Stadtzentren ist die im Eisenhüttenstädter Generalbebauungsplan vorgesehene Bebauung des Zentralen Platzes. Waren in den fünfziger Jahren das Rathaus oder der Kulturpalast als die bauliche Dominante der Stadtanlage in axialer Korrespondenz zum Werktor konzipiert worden, so rückte jetzt der geplante Verwaltungsbau des Bandstahlkombinates an deren Stelle: "Durch den Entschluß des Kombinates, ein repräsentativ gestaltetes Leitungs- und Wissenschaftszentrum im zentralen Bezirk der Stadt zu schaffen, besteht die Möglichkeit, diese wichtigste Funktion der Stadt noch stärker als bisher im Stadtbild in Erscheinung treten zu lassen. Das Leitungszentrum des VEB Bandstahlkombinat wird baulich ergänzt durch das Kulturzentrum der Stadt. Die bauliche Einheit dieser beiden Funktionen ist Symbol der Wechselbeziehungen und der untrennbaren Einheit von sozialistischer Produktion und sozialistischer Kultur." (3) An anderer Stelle wird der politische, kulturelle und baukünstlerische Anspruch des Platzensembles wie folgt umschrieben: "Die Gebäudekomposition des Zentralen Platzes bildet den Abschluß und den Höhepunkt der Leninallee und wird durch die Spezifik ihrer Gestaltung zugleich zum unverwechselbaren Element der Stadtsilhouette. Die Komposition soll gestalteter Ausdruck der Einheit von Produktion, Wissenschaft, Kultur, Bildung und Handel sein. Der ideologisch-politische Inhalt führte zu einer kompakten urbanen Konzeption [...]. Die städtebauliche Ordnung des Komplexes soll in ihrem Wechsel von Großräumigkeit und Intimität vielseitige Formen des sozialistischen Gemeinschaftslebens fördern. In der architektonischen Gestaltung ist eine Plastizität (Verwaltungshochhaus, Saal) angestrebt, die in Übereinstimmung mit den Ansprüchen und Möglichkeiten progressiver industrieller Technologien steht. Es sind moderne Materialien, insbesondere auch Spitzenerzeugnisse des Bandstahlkombinates, bei der architektonischen Durchbildung des Ensembles zu verwenden." (4)

Das in seiner Silhouette gestufte und durch ein großflächiges Wandbild geschmückte Hochhaus sollte in eine dreiseitige Platzumbauung mit vielfältigen Versorgungs- und Kultureinrichtungen eingebunden werden. Geplant waren unter anderem ein Zentrum der wissenschaftlich-musischen Bildung, ein Gebäude für die Stadtbibliothek und ein großes Warenhaus. Mit diesem funktionalen, im Gegensatz zu anderen zeitgleichen Zentrumsplanungen durchaus nicht überzogenen Bebauungskonzept wäre es möglich gewesen, den Aufbau der Kernstadt in wenigen Jahren zu vollenden. Weitere urbane "Erlebnisbereiche" (5) sollten mit dem endgültigen Ausbau der Karl-Marx-Straße, dem Neubau des Bahnhofs und der Anlage des Stadtteilzentrums in Eisenhüttenstadt-0st entstehen. Mit Ausnahme des Kaufhauses ist keines dieser Projekte verwirklicht worden.

Eisenhüttenstadt-Ost, heute ein loses Konglomerat der Wohnkomplexe Vl, Vll und der ehemaligen Kreisstadt Fürstenberg / Oder, wurde im Generalbebauungsplan 1968 als ein zusammenhängendes Planungsgebiet betrachtet, innerhalb dessen die historische, durch einen wohlerhaltenen mittelalterlichen Grundriß und eine kleinteilige Bebauung geprägte Stadtanlage als störendes Relikt einer siegreich überwundenen Vergangenheit betrachtet wurde. Radikale Abrißpläne, nach denen von Alt-Fürstenberg lediglich Teile des überkommenen Straßengerüstes und die Marktplatzfläche (Marx-Engels-Platz), die zur Konzerthalle umgenutzte mittelalterliche Stadtkirche und das zum Museum umgebaute Rathaus erhalten geblieben wären, waren schon um die Mitte der sechziger Jahre entwickelt worden. Dieses Ziel wurde im Generalbebauungsplan fixiert, wobei man den beabsichtigten Kahlschlag mit dem schlechten Bauzustand vieler Wohngebäude im Altstadtbereich rechtfertigte: "Das bedeutet in der Endkonsequenz einen Abriß aller vorhandenen Gebäude und einen Neuaufbau nach den Gesichtspunkten modernen sozialistischen Städtebaus. Dabei muß im Detail untersucht werden, ob die Notwendigkeit bzw. Möglichkeit besteht, evtl. einzelne erhaltenswerte Gebäude in die Neuplanung organisch einzubeziehen." (6)

Vage erwogen wurde eine Sanierung der Wilhelm-Pieck-Straße (heute wieder Königstraße), da sie als die traditionelle Haupt- und Einkaufsstraße des Ortes noch längere Zeit eine wichtige Versorgungsfunktion zu erfüllen hatte. Im ganzen aber standen die Zeichen der Planung auf Flächenabriß und Verdichtung, um mit einem massiven Neubauprogramm den im Werden begriffenen Stadtteil Eisenhüttenstadt-Ost auf eine Gesamtgröße von rund 35 000 bis 40 000 Einwohner auszubauen. Damals betrug die Einwohnerzahl Fürstenbergs etwa 6 300.

Schon zu Beginn der siebziger Jahre waren die städtebaulichen Grundlinien des 1968 bestätigten Eisenhüttenstädter Generalbebauungsplanes nur noch bedingt gültig, denn schon ein Jahr nach den Jubelfeiern des zwanzigsten Jahrestages der DDR war in Anbetracht der realen Wirtschaftslage eine große Ernüchterung eingetreten. In fast allen Städten wurde der weitere Ausbau der Stadtzentren zugunsten des Baus neuer, an der Peripherie gelegener Großwohngebiete zurückgestellt. Auch in Eisenhüttenstadt verlief die städtebauliche Entwicklung nach diesen Richtlinien. So entging die Fürstenberger Altstadt glücklicherweise dem geplanten Flächenabriß,
doch blieb wegen der gleichen ökonomischen Zwänge der Zentrale Platz der Stadt unbebaut. Eisenhüttenstadt, das vom Anfang der fünfziger bis zum Ende der sechziger Jahre in der Entwicklung des DDR-Städtebaus stets eine besondere Rolle gespielt hatte, rückte in den siebziger Jahren aus dem Zentrum des Baugeschehens. Was fortan projektiert und gebaut wurde, entsprach den landesüblichen gestalterischen Standards im industriellen Wohnungsbau und ging über die Grundausstattung der Wohngebiete mit den notwendigen schulischen und Versorgungseinrichtungen kaum hinaus. Von 1982 bis 1987 wurde der Wohnkomplex Vll östlich der Bahntrasse Frankfurt / Oder - Guben ausgeführt. In den Jahren 1988 / 89 entstand als letztes Vorhaben des planwirtschaftlichen Wohnungsbaus die Wohngruppe Seeberge, mit der die Bebauung des Wohnkomplexes Vll abgerundet wurde.

Eisenhüttenstadts Entwicklung ist insofern mit dem Schicksal der drei anderen "sozialistischen Wohnstädte" Neu-Hoyerswerda, Schwedt / Oder und Halle-Neustadt vergleichbar, als es in der ersten Aufbauphase als Musterbeispiel und Experimentierfeld komplexer Stadtplanung eine vorrangige Förderung genoß, dann aber in das Routinegetriebe des Wohnungshaus geriet und als urbaner Organismus sozusagen nur ein Halbfabrikat blieb. Immerhin war der Aufbau der Kernstadt bis zur Mitte der sechziger Jahre schon so weit vorangetrieben worden, daß sie trotz des unvollendeten Zentralen Platzes und manch anderer infrastrukturellen Defizite durchaus städtische Qualitäten besaß. Die Eisenhüttenstädter richteten sich in >ihrer< Stadt offenbar recht gut ein. Da ihr berufliches und privates Leben in der Regel eng mit der Entwicklung von Werk und Wohnstadt verknüpft war, entstand ein Identitätsgefühl, das sich vor allem viele ältere Bürger bis heute bewahrt haben.

Umfragen zufolge gab es in Eisenhüttenstadt eine überdurchschnittlich hohe >Wohnzufriedenheit<, die wohl weniger auf die Ausstattung der Wohnungen selbst als vielmehr auf die kontinuierlichen und intensiven Bemühungen zur Gestaltung des öffentlichen Raumes und des weiteren Umfeldes der Stadt zurückzuführen ist. Schon im Zuge der Planung des 11. Wohnkomplexes wurde 1953 für die gesamte Stadt ein fußgängerfreundliches System zentraler Grünachsen und landschaftsgärtnerisch gestalteter Wohnhöfe konzipiert. 1958 schloß die Kommune die ersten Verträge mit den Hausgemeinschaften zur Pflege der Grünanlagen in den Wohnbereichen ab. Diese Arbeiten zur kontinuierlichen Erweiterung der städtischen Grün- und Erholungsanlagen in Verbindung mit einer großzügigen Auftragspolitik für Werke der bildenden Kunst im städtischen Raum wurden wesentlich von den Einwohnern mitgetragen und machten den eigentlichen Stolz der Eisenhüttenstädter aus. Besonders gelungene Beispiele sind der Rosenhügel im Landschaftsschutzund Naherholungsgebiet Diehloer Berge und das von 1965 bis 1969 westlich vom Wohnkomplex lll angelegte, mit farbenfrohen Blumenrabatten reich bepflanzte Gartenfließ an der Diehloer Straße. Der von einem gewundenen Wasserlauf durchzogene parkartige Freiraum ist in Verbindung mit der ihn begrenzenden Wohnzeile und dem höher gelegenen Wohnhochhaus Diehloer Straße (erbaut 1959 bis 1962) ein eindrucksvoller Beleg für die Umsetzung des Konzepts der Stadtlandschaft im Eisenhüttenstädter Wohnungsbau der sechziger Jahre. Schließlich sei noch auf den Sport- und Erholungspark auf der Kanalinsel verwiesen, der in den siebziger Jahren auf die jetzige Größe von rund sechzig Hektar ausgebaut wurde. Aufgrund seiner geradezu idealen mittigen Lage im heutigen Stadtgebiet ist er von allen Wohnkomplexen aus schnell erreichbar, weshalb hier das Stadion und weitere Sport- und Freizeiteinrichtungen von gesamtstädtischer Bedeutung errichtet wurden.

Die städtebaulichen Qualitäten und die Bedeutung der Kernstadt Eisenhüttenstadt als komplexes Denkmal der DDR-Geschichte sind während der achtziger Jahre im Zusammenhang mit einer beginnenden positiven Neubewertung der städtebaulichen Leistungen der fünfziger Jahre wiederentdeckt worden. 1984 wurden die Wohnkomplexe I, Il und lll zu Denkmalschutzgebieten erklärt, 1985 folgten die Altstadt Fürstenberg sowie die Gebäude der Bahnhof- und der Fellertstraße. Diese Positionen sind in die heute
gültige Denkmalliste übernommen worden und sollen zukünftig auf die gesamte Kernstadt Eisenhüttenstadt-Mitte erweitert werden: "Das Brandenburgische Landesamt für Denkmalpflege steht mit der Stadtverwaltung in den Regularien zur Verabschiedung einer Denkmalbereichssatzung, die die Wohnkomplexe I bis IV einschließlich der Magistrale, der Lindenstraße, umfaßt. Wir sind davon ausgegangen, daß für diesen Kernbereich mit seinen Einzeldenkmalen ein derartiger Schutzstatus zwingend geboten erscheint, um den vielschichtigen Erscheinungen zur Entstehung und zum Werden dieser Stadt [...] zu entsprechen." (7)

In der Folge der politischen Wende von 1989 / 90 vollzog sich in Eisenhüttenstadt der Wandel der Lebensverhältnisse mit einer geradezu dramatischen Dynamik. So bewirkte der Abbau der Arbeitsplätze in der örtlichen Industrie einen raschen und empfindlichen Rückgang der Einwohnerzahlen von 52 395 (1989) auf rund 48 500 (1994), der auch durch die Eingemeindung des Dorfes Diehlo nicht ausgeglichen werden konnte. Eine weitere Schwächung seiner Bedeutung als regionales Zentrum erfuhr Eisenhüttenstadt durch den Verlust der Kreisstadt-Funktion, die das dreißig Kilometer westlich gelegene Beeskow übernahm. Um ein positives Zeichen des Neubeginns zu setzen, schrieb die um die Lösung ihrer gravierenden Strukturprobleme und um ein neues Image bemühte Stadt 1992 einen Ideenwettbewerb zur städtebaulichen Gestaltung des Stadtzentrums und zur Bebauung des Zentralen Platzes aus. Praktikable Konzeptionen waren erwünscht, damit so bald wie möglich "der bestehende Torso des Kernbereichs neugeordnet und zu einem erlebbaren, stadtgestalterisch überzeugenden und durch eine hohe Funktionsdichte attraktiven wie räumlich abgeschlossenen städtischen Oberzentrum entwickelt werden könnte". (8) Diese Erwartungen wurden vom ersten Preisträger (Andreas Thierbach und Wolfgang Töpfer aus Frankfurt / Oder) mit einem eigenwilligen und sich trotzdem gut in die Grundfigur des Stadtzentrums einfügenden Entwurf erfüllt. Die Autoren schlugen vor, den Platz auf mehr als die Hälfte seiner jetzigen Fläche zu verkleinern. Sie planten unter anderem eine große viertelkreisförmige Einkaufspassage und einen Hotelbau, der die Stelle des in den fünfziger Jahren als Stadtdominante vorgesehenen Kultur- oder Rathausgebäudes in der Achse der Lindenallee einnehmen sollte.

Inzwischen ist das verheißungsvolle Projekt unter dem Druck der wirtschaftlichen Verhältnisse wohl für längere Zeit zurückgestellt worden. Die Stadt hat ihre Pläne selbst konterkariert, indem sie den Bau eines großflächigen Einkaufszentrums nördlich der Innenstadt genehmigte,
das seither einen erheblichen Teil der ohnehin geringen Kaufkraft der Eisenhüttenstädter absorbiert, während die noch verbliebenen Geschäfte im Stadtzentrum um das bloße Überleben kämpfen. Dirk Meyhöfer hat die derzeitige Situation treffend beschrieben und folgendes Fazit gezogen: "Die Vorgaben aus dem Wettbewerb von 1992 sind nicht mehr realistisch, denn einerseits gibt es bereits Ladenflächen im Überangebot, andererseits fällt die verarmte Kommune als Bauherr für eine Bücherhalle, Freizeiteinrichtungen oder das dringend benötigte zweite Stadthaus aus. Wieder hat es Eisenhüttenstadt mit der Verwaltung des Mangels zu tun - und das kurioserweise in einem ganz anderen Gesellschaftssystem, was beweist, daß mit Idealen allein keine Urbanität zu schaffen ist. Die Chancen sind groß, daß das >grüne Loch< [der unbebaute Zentrale Platz, d.V.] noch weit bis in das nächste Jahrtausend Bestand hat." (9)

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  Anmerkungen
1 Leucht, Kurt W.: Die erste neue Stadt in der Deutschen Demokratischen Republik. Planungsgrundlagen und -ergebnisse von Stalinstadt, Berlin 1957, S. 79f.
2 Bartsch, Gerd: Der V. Wohnkomplex von Stalinstadt, in: Deutsche Architektur 4 (1959), S. 196.
3 VEB Montagekombinat Frankfurt / Oder, Abt. Stadt- und Siedlungsplanung, und Rat der Stadt Eisenhüttenstadt: Generalbebauungsplan der Stadt Eisenhüttenstadt, fertiggestellt im Mai 1969, S. B 22.
4 Ebd.,S.C 5.
5 Ebd., S. B 12.
6 Ebd., S.C 20.
7 Karg, Detlef: Stadtentwicklung am Beispiel Eisenhüttenstadt, in: Verfallen und vergessen oder aufgehoben und geschützt? Architektur und Städtebau der DDR. Geschichte, Bedeutung, Umgang, Erhaltung (Schriftenreihe des Deutschen Nationalkomitees fur Denkmalschutz, Bd. 51), Bonn 1996, S. 50.
8 Aus dem Ausschreibungstext, zit. in: Meyhöfer, Dirk: Wiedersehen mit Eisenhüttenstadt, in: deutsche bauzeitung 5 (1995), S. 48.
9 Ebd.
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