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Werner Widuckel

Sozialer Interessenausgleich und gewerkschaftliche Arbeitnehmervertretung im Volkswagenwerk



Anstehen zur Lohnauszahlung, 1954
(Photo: Willi Luther)




Generaldirektor Heinrich Nordhoff und der Vorsitzende des Betriebsrats, Hugo Bork, 1963.
Nordhoff wurde nicht müde zu betonen, daß betriebliche Sozialleistungen nicht "erkämpft", sondern "gern und bereitwillig" zugestanden würden
(Photo: Willi Luther)

Das Volkswagenwerk trägt eine historische Last. Der Grundstock für das Gründungskapital und den wirtschaftlichen Start des Unternehmens im Jahr 1938 wurde durch widerrechtlich angeeignetes Vermögen der freien deutschen Gewerkschaften über das Treuhandvermögen der Deutschen Arbeitsfront geschaffen. Auf jüngste Forschungen zum Charakter des Werks, das während des Krieges als nahezu reiner Rüstungsbetrieb unter massivem Einsatz von Zwangsarbeitern, ja sogar KZ-Häftlingen produzierte, sei hier nur verwiesen. (1) Nicht unerwähnt bleiben soll dabei die Tatsache, daß es dem gemeinsamen Wunsch von VW-Vorstand und Gesamtbetriebsrat entsprach, über die Geschichte des Werks bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges ein langjähriges, unabhängiges Forschungsprojekt zu finanzieren, dessen Ergebnisse kürzlich in einer umfassenden Studie publiziert wurden. (2) Für diesen Beitrag ist die Bedeutung des Unternehmens zur Zeit des Dritten Reichs insofern wichtig, als sie auch die Startbedingungen des Volkswagenwerks nach der Befreiung vom Faschismus wesentlich geprägt hat.

Im Vergleich mit anderen deutschen Industrieunternehmen stellt das Volkswagenwerk in mancher Hinsicht einen Sonderfall dar. Die erste Besonderheit bestand darin, daß der Eigentümer des Unternehmens mit dem Ende des NS-Staates nicht mehr existierte. Die zweite Besonderheit ist darin zu sehen, daß Volkswagen nicht auf eine gewachsene eigenständige Tradition gewerkschaftlicher Interessenvertretung aufbauen konnte, da historische Verbindungen zur Gewerkschaftsbewegung der Weimarer Republik nicht vorhanden sein konnten. Drittens war die Belegschaft durch eine hohe Fluktuationsrate geprägt. Durch die Rückkehr der ehemaligen Zwangsarbeiter in ihre Heimatländer, einen gleichzeitig aus dem Osten zuziehenden Strom von Flüchtlingen, fehlende städtische Infrastruktur und einen eklatanten Mangel an Wohnraum konnte ein homogenes innerbetriebliches Sozialgefüge nur langsam wachsen. Gleiches gilt für die Herausbildung einer Leitungsstruktur des Unternehmens, da die Eigentumsfrage erst im September 1949 durch die Übertragung des Volkswagenwerks auf die neu gegründete Bundesrepublik Deutschland gelöst wurde und der im Jahr zuvor noch von der britischen Besatzungsmacht eingesetzte Generaldirektor Heinrich Nordhoff in dieser Funktion erst zu diesem Zeitpunkt von der neuen Eigentümerin bestätigt werden konnte.

Die erste Periode des Wiederaufbaus begleiteten elementare Schwierigkeiten. Die Produktionsanlagen waren zu rund zwei Dritteln zerstört, die Versorgung der Belegschaft und der Wolfsburger Bevölkerung war äußerst mangelhaft, und die betriebs- sowie kommunalpolitischen Handlungsgrundlagen waren alles andere als stabil. Darüber hinaus prägten diesen Zeitraum innerbetriebliche Auseinandersetzungen um politisch belastete Führungskräfte, die im Jahr 1946 zu einer ersten Auseinandersetzung zwischen der Betriebsvertretung und dem britischen Werkskommandanten führte. (3)

Dem ersten Betriebsrat, gewählt gemäß der "Satzung der Betriebsvertretung der Wolfsburger Motorenwerke" vom 28. November 1945, stellten sich durch die genannten Rahmenbedingungen auch die ersten wesentlichen Aufgaben. Allerdings war das Volkswagenwerk in der Periode zwischen 1945 und 1950 noch weit davon entfernt, jene Vorbild- und Vorreiterfunktion für die Tarif- und Betriebspolitik der IG Metall einzunehmen, für die es später bekannt wurde. Die starke Fluktuation der Belegschaft, die gerade erst beginnende gewerkschaftliche Organisierung sowie äußerst heterogene politische Orientierungen im Werk und in der Stadt Wolfsburg bestimmten die Situation.

Der Durchbruch zu einer sozialdemokratisch geprägten Tarif- und Betriebspolitik, die auf einen pragmatischen Konsens mit der Unternehmensleitung setzte, begann erst 1950 und konnte mit den Betriebsratswahlen von 1955 abgeschlossen werden. Eine entscheidende Grundlage hierfür bildete die Durchsetzung von Tarifverträgen durch die IG Metall, die auf der Vereinbarung des ersten Lohn- und Gehaltstarifvertrages im Jahre 1943 fußten. Mit diesem Durchbruch wurde auch die Basis für eine bemerkenswerte personelle Kontinuität der Betriebsrats- und Gewerkschaftsarbeit bei Volkswagen geschaffen, die mit dem Namen Hugo Bork, Betriebsratsvorsitzender von 1951 bis 1971 und seit 1953 Mitglied des Aufsichtsrats,
untrennbar verbunden ist. In diesen Zeitraum fällt auch der Aufbau eines gewerkschaftlichen Vertrauenskörpers der IG Metall sowie einer systematischen Mitgliederwerbung und -betreuung.

Von 1950 bis zur ersten Rezession von 1966 / 67 war die Entwicklung des Volkswagenwerks von enormer Expansion geprägt. Neue Inlandswerke in Hannover, Kassel und Emden sowie der Ausbau des Braunschweiger Vorwerkes zum Komponentenwerk für Achsen, Fahrwerke und Lenkungen, der Aufbau von Auslandsproduktionsstätten und Tochtergesellschaften in Südafrika (1956), in Brasilien (1959) sowie in Mexiko (1964) belegen das Ausmaß dieses Wachstums. 1966 produzierte Volkswagen gegenüber 1951 mehr als das 15fache, exportierte mehr als das 27fache, setzte mehr als das 20fache um und investierte weltweit mehr als das 20fache. Die Belegschaft im Inland wuchs in diesem Zeitraum um mehr als das 6fache. Es liegt auf der Hand, daß vor diesem Hintergrund die Bedingungen für eine sozial und materiell erfolgreiche Tarif- und Betriebspolitik günstig waren. Von wesentlicher Bedeutung waren hierbei allerdings auch die Eigentümerstruktur des Unternehmens und das Bestreben von Generaldirektor Heinrich Nordhoff, sich möglichst umfassende Spielräume für ein eigentümer- und verbandsunabhängiges Handeln zu sichern. Volkswagen gehört bis heute keinem Arbeitgeberverband an. Die 1948 getroffene Grundentscheidung, Tarifverträge mit der IG Metall direkt auszuhandeln, hat bis heute Bestand und ist eine der zentralen Ursachen für bestimmte Besonderheiten industrieller Beziehungen im Volkswagenwerk.

Nachdem das Unternehmen 1949 als GmbH auf die Bundesrepublik Deutschland übertragen worden war, übte das Land Niedersachsen treuhänderisch und auf Weisung des Bundes die Rechte der Eigentümerin aus. Im Jahr 1960 folgte die Umwandlung in eine Aktiengesellschaft, wodurch sechzig Prozent des stimmberechtigten Aktienkapitals privatisiert und auf das Land Niedersachsen und die Bundesrepublik Deutschland je zwanzig Prozent des Aktienkapitals übertragen wurden. Diese Privatisierung hatte den Charakter eines politischen Kompromisses, da im bis heute geltenden VW-Gesetz einige Besonderheiten enthalten sind, die vom Aktienrecht abweichen. So besteht eine Stimmrechtsbeschränkung auf zwanzig Prozent des stimmberechtigten Aktienkapitals. Die sogenannte Sperrminorität liegt nach dem VW-Gesetz bei zwanzig Prozent, was bedeutet, daß für eine Satzungsänderung mehr als achtzig Prozent der Stimmen in der Hauptversammlung erforderlich sind. Das Aktienrecht verlangt hier nur mehr als 75 Prozent. In der Praxis bedeutet dies zum Beispiel, daß die Verlegung des VW-Konzernsitzes nicht gegen die öffentlichen Anteilseigner beschlossen werden kann. Eine weitere wesentliche Abweichung besteht darin, daß die Errichtung oder Verlegung einer Produktionsstätte einer Zweidrittelmehrheit im Aufsichtsrat bedarf. Selbst wenn man in Betracht zieht, daß beide öffentlichen Anteilseigner nicht direkt in die Politik der Geschäftsleitung eingegriffen haben, so wird hieran doch deutlich, daß die stark von öffentlichen Interessen geprägte Position der stärksten Aktionäre sowie die hohe Streuung des Aktienkapitals und die Stimmrechtsbeschränkung das Unternehmen nicht zu einer "normalen" Aktiengesellschaft werden ließen.

Die gewerkschaftliche Tarif- und Betriebspolitik im Volkswagenwerk war zu Beginn der fünfziger Jahre bis zur Rezession 1966 / 67 eingebettet in die allgemeinen tarifpolitischen Zielsetzungen der IG Metall. Dafür war im wesentlichen der damalige Bezirksleiter und spätere Erste Vorsitzende der IG Metall, Otto Brenner, verantwortlich. Als Mitglied im Aufsichtsrat bei Volkswagen und intimer Kenner der gewerkschaftlichen Entwicklung im Unternehmen nahm er eine einflußreiche und anerkannte Position ein. Nachdem seit dem Beginn der fünfziger Jahre die IG Metall im Arbeiterbereich zur unangefochten stärksten gewerkschaftlichen Kraft geworden war und der wirtschaftliche Erfolg des Volkswagenwerks Verteilungsspielräume eröffnet hatte, entfaltete sich eine Wechselwirkung aus organisationspolitischer Kraft und tariflichen Erfolgen, die die Position der IG Metall weiter festigte. Die Löhne und Gehälter konnten auf der Basis dieser ökonomischen Rahmenbedingungen im Verhältnis zur übrigen deutschen Industrie überproportional steigen. Darüber hinaus wurde in den Manteltarifverträgen für Lohn- und Gehaltsempfänger ein Gratifikationssystem aus Zuschlägen für Mehr-, Samstags- und Feiertags- bzw. Sonntagsarbeit entwickelt, das ebenfalls über dem allgemeinen Niveau lag. Gleich
es gilt für das zusätzliche Urlaubsgeld und eine zusätzliche Sonderzahlung.

Eine Vorreiterfunktion nahm das Unternehmen aber nicht nur bei der Entwicklung der laufenden Einkommen ein, sondern auch bei der Schaffung einer betrieblichen Altersversorgung bereits zu Beginn der fünfziger Jahre sowie mit seinem starken Engagement zur Unterstützung des Wohnungsbaus. Außerdem wurden Erholungseinrichtungen geschaffen und ein zusätzlicher Erholungsurlaub für die Belegschaft eingeführt. Auch an der Weiterentwicklung der städtischen Infrastruktur beteiligte sich das Volkswagenwerk, zum Beispiel mit der Schenkung eines Freibades oder der großzügigen finanziellen Unterstützung beim Bau des Kulturzentrums.

Einige Verbesserungen in der Arbeitszeit konnten im Volkswagenwerk durch Betriebsvereinbarungen erreicht werden, lange bevor sie durch die Tarifpolitik der IG Metall auch allgemeine Gültigkeit bekamen. Die Fünftagewoche wurde hier im Jahr 1957 eingeführt, und die Verkürzung der Arbeitszeit auf vierzig Stunden für bestimmte Beschäftigtengruppen galt bei Volkswagen bereits vier Jahre vor der allgemeinen Einführung in der Metallindustrie.

Es ist zu fragen, ob diese besondere tarifpolitische Entwicklung nur durch den wirtschaftlichen Erfolg ermöglicht wurde oder ob sie nicht aus der Sicht der Akteure sogar zwingend erforderlich war. Für die IG Metall und den Betriebsrat war die Tarifpolitik ein Ausweis und die Grundlage ihrer Durchsetzungsstärke, programmatisch eingebettet in die Überzeugung, die Arbeitnehmer hätten ein Anrecht auf eine sozial gerechte Teilhabe an den Unternehmensgewinnen. Aus der Sicht des Managements, insbesondere des Generaldirektors Nordhoff, entsprach diese Entwicklung einem patriarchalischen Selbstverständnis besonderer Fürsorge, aber auch der Notwendigkeit, für ein geradezu überschäumendes Wachstum eine Versorgung mit Arbeitskräften sicherzustellen. Nicht ohne Grund wurden seit den frühen sechziger Jahren auch ausländische Arbeitskräfte, insbesondere aus Italien, angeworben.

Die materiellen Leistungen des Volkswagenwerks und ihr Anstieg hatten deshalb auch eine Anreizfunktion zur Annahme einer Arbeit, die durch die Bedingungen der Massenproduktion mit ihrem stark repetitiven Charakter gekennzeichnet war, der weder dem Erfahrungshintergrund noch den beruflichen Vorstellungen vieler
bei Volkswagen beschäftigter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entsprach. Die Attraktivität eines relativ schnell erreichbaren, wenn auch bescheidenen Wohlstands ebenso wie der Ausbau der städtischen Infrastruktur und die Bereitstellung preisgünstigen Wohnraumes waren wesentliche Voraussetzungen dafür, das "Wachstumsmodell Volkswagen" unter den genannten eher negativen Voraussetzungen in Wolfsburg zum Laufen zu bringen und am Laufen zu halten. Die objektiven ökonomischen Wachstumsbedingungen sowie der Markterfolg des Standardprodukts "Käfer" schufen nicht nur die hierfür notwendigen Verteilungsspielräume, sondern machten VW zu einem Symbol für den Erfolg der deutschen Wirtschaft, die Durchsetzungsfähigkeit von Gewerkschaften und für die Massenmotorisierung in Deutschland und vielen anderen Ländern. Diese Entwicklung prägte auch das Verhältnis zwischen Werk und Stadt. Die Tatsache, daß der Betriebsratsvorsitzende Hugo Bork in der geschilderten Prosperitätsphase als Oberbürgermeister amtierte, ist ein Ausdruck dafür.

Das Dreiecksverhältnis Unternehmen, Belegschaft und Stadt ist von einem sehr eigenen "New Deal" geprägt. Während unternehmensintern der Vorstand und der Betriebsrat sowie die IG Metall die Bedingungen für Wachstum und eine überdurchschnittliche Gewinnverteilung aushandelten, vollzog sich in der Stadt die Sicherstellung von Wachstums- und Lebensbedingungen sowie einer wohlfahrtsstaatlichen Ausgestaltung durch preisgünstigen Wohnraum und eine gute Infrastruktur. Solange die Expansion anhielt, funktionierte das Modell. Allerdings wurden auch das Volkswagenwerk und Wolfsburg von der Kürze des Traumes "immerwährender Prosperität" (4) eingeholt.

Schaut man heute rückblickend auf die Verhältnisse zwischen 1945 und der ersten Rezes
sion von 1966 / 67, dann wird ein sehr scharfer Wechsel der politischen, ökonomischen und gewerkschaftlichen Paradigmen deutlich, der insbesondere in den letzten zehn Jahren stattgefunden hat. Zuerst muß festgehalten werden, daß es neben einer generellen Verschlechterung von Wachstumsbedingungen für traditionelle Automobilstandorte auf "reifen" Märkten auch eine Entkoppelung von Wachstum und Beschäftigung gab. Die Wachstumsraten der Produktivität überstiegen diejenigen der Märkte und des Absatzes erheblich. Darüber hinaus setzt eine verschärfte Standortkonkurrenz mit Regionen in Zentraleuropa und Südostasien alle traditionellen Automobilstandorte einem Verdrängungswettbewerb aus, dem das bestehende gewerkschaftliche Handlungsinstrumentarium nicht ausreichend gewachsen ist. In den siebziger Jahren war der Schock der "Käfer-Krise" von 1974 / 75 schnell vertaut, und man glaubte sehr schnell, mit dem Golf den Erfolg des "Käfers" wiederholen zu können. Rationalisierungs- und Abgruppierungsschutz, also die Sicherung des Einkommens bei rationalisierungsbedingter Änderung der Technik und der Arbeitsorganisation, sowie die Humanisierung der Arbeit bildeten nun den Fokus gewerkschaftlicher Tarif- und Betriebspolitik. Und auch auf dieser Basis gelang es noch Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre, bei Volkswagen weitergehende Schutzbestimmungen und die Einführung einer neuen Entgeltstruktur durchzusetzen. Diese führte zu Einkommenssteigerungen, indem Einzeltätigkeiten, zu sogenannten Arbeitssystemen zusammengefaßt, einen flexiblen Personaleinsatz ermöglichen.

Seit Mitte der achtziger Jahre rückt jedoch auch bei Volkswagen im Zuge der allgemeinen Debatte um die Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden der Aspekt der Beschäftigungssicherung in den Vordergrund. Ging es zu Beginn der Kampagne noch um die Einstellung Arbeitsloser zur Entlastung der Arbeitsmärkte in den Regionen der VW-Standorte, so wird zu Beginn der neunziger Jahre die Sicherung der bestehenden Standorte und Beschäftigungsverhältnisse immer stärker als Zielsetzung betont. Die ökonomische Basis des "Wohlstandsmodells" IG Metall / Volkswagen, die in den fünfziger Jahre tragend war, ist heute nicht mehr vorhanden. Die seinerzeit gewachsene stabile Zusammenarbei zwischen IG Metall und Betriebsrat auf der einen sowie Vorstand und Management auf der anderen Seite ermöglicht allerdings eine erhebliche Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit, die sich von den allgemein aufbrechenden Konfliktstrukturen entlang der sogenannten Standortdebatte unterscheidet. Nicht gegenseitige Schuldzuweisungen sondern die Suche nach gemeinsamen Wegen unter den veränderten Rahmenbedingungen eines verschärften Wettbewerbs kennzeichnen die Entwicklung der industriellen Beziehungen bei Volkswagen. Mehr noch: Mit der Einführung der sogenannten Viertagewoche bei einem weitgehende Verzicht auf Lohnausgleich, aber auch mit dem tarifvertraglichen Ausschluß betriebsbedingter Kündigungen ist ein Paradigmenwechsel VW-spezifischer Prägung eingeleitet worden. Nicht mehr die Avantgardeposition im materiellen Leistungsniveau, sondern ein Verteilungsverhältnis von Arbeit und Einkommen, das Beschäftigung, sozial Lebenschancen und Wettbewerbsfähigkeit gleichermaßen sichert, ist heute die neue Zielsetzung eines veränderten >New Deals<. Dies hat auch zu einer neuen Kooperationskultur zwischen Unternehmensleitung, Betriebsrat, IG Metall und der Stadt Wolfsburg geführt. Verstärkte Anstrengun
gen zur Ansiedlung von Lieferanten gehören hierzu genauso wie die Errichtung eines Gründungs- und Innovationszentrums oder der Ausbau der Stadt Wolfsburg zum Hochschulstandort. Außerdem bemüht sich das Volkswagenwerk, Fertigungs- und Dienstleistungsumfänge zusätzlich zu integrieren und Vermarktungschancen zu nutzen. Beispielhaft hierfür ist die Vermarktung von Qualifizierungsleistungen durch die VW-Coaching GmbH.

Im Sinne eines sich immer wieder aufbauenden Spannungsverhältnisses von Wandel und Kontinuität können wir deshalb neben den Herausforderungen des Wandels festhalten, daß wir über ein funktionierendes Geflecht von Institutionen verfügen, in dem ein gemeinsames Zielverständnis weiterentwickelt werden konnte. Dieses Zielverständnis setzt darauf, soziale Verantwortung im Wandel zu bewahren und kollektive Interessenvertretung nicht als Störfaktor, sondern als soziales Sicherungs- und Gestaltungsprinzip aufrechtzuerhalten. Nicht die Deregulierung, sondern die Entwicklung neuer, dynamischerer und flexiblerer Regelungsgrundlagen ist heute die große Herausforderung einer Neugestaltung industrieller Beziehungen. Ob in den Arbeitszeitsystemen, bei der Ausgestaltung von neuen Konzepten zur Lebensarbeitszeit, bei der technischen Flexibilität in der Fabrik und in der Organisation von Projekten: In allen diesen Bereichen wird die Herausforderung sichtbar und drängend.

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  Anmerkungen
1

Vgl. Siegfried, Klaus-Jörg: Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit im Volkswagenwerk 1939 bis 1945. Eine Dokumentation, Frankfurt / Main 1986; ders.: Das Leben der Zwangsarbeiter im Volkswagenwerk 1939-1945, Frankfurt / Main 1988.

2 Mommsen, Hans / Grieger, Manfred: Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich, Düsseldorf 1996.
3 Vgl. Koch, Günther: Arbeitnehmer steuern mit, Köln 1987
4 Vgl. Lutz, Burkart: Der kurze Traum immerwährender Prosperität, Frankfurt / Main und New York,1984. Lutz liefert eine allgemeine Analyse des deutschen Wachstumsmodells nach 1945.
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© Werner Widuckel