Startseite Inhaltsverzeichnis Ausstellung Inhaltsverzeichnis Katalog Impressum Kontakt DHM homepage
Ulfert Herlyn

"Man freut sich, wie alles so schön geworden ist." Entstehung und Entwicklung des Heimatgefühls in Wolfsburg



Ausflug mit dem ersten eigenen Volkswagen, 1954
(Photo: Willi Luther)

Die Verbindung von heimatlichen Gefühlen mit einer "Neuen Stadt" scheint nicht nur auf den ersten Blick widersprüchlich zu sein. Traditionellerweise assoziieren wir mit Heimat das Leben auf dem Lande, und wenn wir diesen Begriff auf die Stadt beziehen, dann denken wir zunächst an alte, gewachsene Städte, die aufgrund einer langen Geschichte eine bauliche Gestalt und einen kulturellen Raum haben entstehen lassen, die uns helfen, ihn als einzigartig und unverwechselbar zu identifizieren. Aber eine Stadt aus der Retorte, eine "Neue Stadt", kann all dies nicht bieten, und es gibt zunächst einmal keine über Generationen ansässige Bevölkerung, die verschiedene Lebensphasen, insbesondere Kindheit und Jugend in ihr verbracht hat, geschweige denn ansässige Eltern- beziehungsweise Großelterngenerationen, die ihre Erlebnisse und Erfahrungen in und mit diesem Ort hätten weitergeben und auf diese Weise die spezifische Verbundenheit mit dem Ort entstehen lassen können.

Trotzdem ist gerade eine "Neue Stadt", die "in die Jahre gekommen ist" (der sechzigste Geburtstag Wolfsburgs steht kurz bevor) ein interessantes Experimentierfeld, um zu prüfen, wie sich der Prozeß des Heimisch-Werdens vollzieht. Immer wieder hat der Begriff "Heimat" gängige Ideologien wie ein Schwamm aufgesogen, man denke nur an die Phraseologie der "Bodenverbundenheit", die im Nationalsozialismus in der Vorstellung von "BIut und Boden" gipfelte. (1) Ohne hier den Gründen dafür nachgehen zu können, teile ich die Auffassung von Erika Spiegel, "daß es keinen zweiten Begriff gibt, in dem die Raumbezogenheit und Raumgebundenheit der Menschen unmittelbarer zum Ausdruck kommt" (2). Es sind also immer Orte gemeint, an denen Menschen Erfahrungen zur Gewinnung von Identität sammeln und so sich den betreffenden Ort aktiv aneignen konnten. Dabei variieren die Grenzen der Orte nicht unbeträchtlich. Sie reichen von der Wohnung über das Stadtviertel, das Dorf, die Stadt, die Region bis hin zum ganzen Land. (3) Bei der Frage, wann für einen Menschen ein Ort zur Heimat wird, scheiden sich die Geister, und es bestehen - grob sortiert - zwei Paradigmen nebeneinander: Auf der einen Seite sind es die Orte, in denen Kindheit und / oder Jugend verbracht wurden, denn die ersten Erfahrungen in den formativen Jahren der Kindheit und Jugend bilden für viele den Kern des Heimat-Phänomens. Sehr deutlich wird es bei von Krockow, wenn er schreibt: "In der Kindheit also und nirgendwo sonst ist das angelegt, was wir Heimat nennen" (4), entsprechend der bekannten Spruchweisheit "Vergesse nie die Heimat, wo Deine Wiege stand, Du findest in der Fremde kein zweites Heimatland". Nun ist es sicher unbestritten, daß die (Raum)erfahrungen in der Kindheit besonders prägend und nachhaltig sind. Daß Prozesse der Heimatbildung sich auf Kindheit begrenzen lassen, wird neuerdings jedoch immer häufiger angezweifelt. Danach wird Heimat nicht primär verstanden als die in der Kindheit mehr oder weniger zufällig mitgegebenen Orte, sondern als die aktiv angeeignete Umwelt, was prinzipiell in allen Altersphasen möglich ist: "Heimat ist eine Qualität von Aneignung der Welt, sie ist ein Aspekt von Arbeit, also Aufnahme und Veränderung von Wirklichkeit." (5) Der Philosoph Waldenfels bringt diese Interpretationsrichtung auf den Punkt: "Zunächst ist Heimat etwas, was erworben und gestaltet und nicht bloß vorgefunden wird [...]. Es gibt keine natürliche Heimat [...]. Wir haben immer noch Heimat vor uns. [...] Jedoch gibt es nicht beliebig viele "Heimatene". (6) Wenn es richtig ist, daß nur nach ihrem Verlust die Bedeutung von Heimat wirklich erkannt und erlebt werden kann, dann trifft das im besonderen auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu, in der Millionen Menschen fliehen mußten oder aus ihrem Heimatort vertrieben wurden. (7)

Die Stadt des KdF-Wagens - Wolfsburg war ein besonderes Auffangbecken für Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemaligen östlichen Reichsgebieten. Etwa zwei Drittel der erwachsenen Bevölkerung Wolfsburgs stammten damals aus Gebieten, die jenseits des "Eisernen Vorhangs" beziehungsweise der Grenzen der Bundesrepublik lagen. "Unter diesen Umständen sind die Wolfsburger nicht nur für die "Einheimischen" in den umliegenden Gemeinden "zusammengewürfeltes Volk", sie sind sich auch gegenseitig fremd in dem Sinne, den der Topos vom "zusammengewürfelten Volk" meint." (8)

Es lag also nahe, gerade mit diesem Personenkreis das Heimatproblem in der ersten großen gemeindesoziologischen Untersuchung zu diskutieren. Diese Erörterung wurde mit der provozierenden Frage eingeleitet: "Manche Leute sagen, man könne sich in Wolfsburg nicht heimisch fühlen. Was sagen Sie zu dieser Ansicht?" (9) Das Ergebnis der Befragung, die für die damalige Wolfsburger Bevölkerung als repräsentativ gelten kann, ist in der folgenden Tabelle niedergelegt.

Einstellung zu Wolfsburg (Frage nach dem "Heimischfuhlen") nach verschiedenen demographischen Merkmalen (1960 %)
Einstellungsgruppe*)
Geographische
Herkunft:
I II III IV Insge-
samt
N:
Einheimisch
oder aus
Nachbarkreis
9 4 4 83 100 78
Nieders. + BRD 20 15 11 54 100 252
DDR 16 9 7 68 100 212
Vertriebene 16 11 8 65 100 438
Volksdeutsche,
Ausländer
20 8 8 64 100 85
 
Zuzugsjahr:            
ab 1958 20 15 15 50 100 164
1954-1957 21 13 7 59 100 297
1945-1953 14 10 8 68 100 407
vor 1945 13 6 5 76 100 197
           
Stellung im Beruf:            
Arbeiter 19 10 8 63 100 644
AngestelIte,
Beamte
11 13 8 68 100 277
Akademiker 14 14 17 55 100 49
Berufslose 21 11 5 63 100 95
           
Familienstand:            
Alleinstehend 21 11 5 63 100 211
Ehepaare 16 10 9 65 100 854
         
Alle Befragten 17 11 8 64 100 1065
*)
Gruppe l: die sich in Woltsburg nicht heimisch fühlen
Gruppe Il: die sich nur teilweise heimisch fühlen
Gruppe lll: die sich mit der Zeit eingelebt haben
Gruppe IV: die sich heimisch fühlen
Quelle: Schwonke / Herlyn 1967, S.177f.

Das Ergebnis ist in mehrerer Hinsicht außerordentlich aufschlußreich. Es überrascht, daß sich zwei Drittel aller Befragten heimisch fühlen; nimmt man diejenigen hinzu, die sich erst mit der Zeit eingelebt haben, so steigt der Anteil derjenigen, die 1960 ein Heimatgefühl entwickeln konnten, auf 72 Prozent an. Lediglich 17 Prozent verneinen die Frage.

Schaut man sich einige Gruppen der Befragten an, so ist vor allem der Einfluß der geographischen Herkunft erläuterungsbedürftig. Erwartungsgemäß weisen die Befragten aus dem unmittelbaren Umkreis, die Ureinwohner (Pioniere) beziehungsweise Einheimischen, die höchste Zustimmung zu Wolfsburg als Heimat auf. Für mehr als vier Fünftel von ihnen ist Wolfsburg die Heimatstadt. Noch wichtiger jedoch erscheint die Tatsache, daß die Vertriebenen und andere aus dem Osten Deutschlands zugewanderte Personen eine durchschnittlich hohe Heimatbindung an Wolfsburg aufweisen. Gerade bei ihnen hätte man doch erwartet, daß sie, für die der Verlust der Geburts- beziehungsweise Kindheitsheimat noch nicht so lange zurückliegt, am ehesten sich kritisch gegenüber der neuen Stadt als Heimat äußern. Am negativsten antwortet die Gruppe der aus Niedersachsen beziehungsweise der übrigen (ehemaligen) Bundesrepublik zugezogenen Personen. Dies deutet darauf hin, daß die potentielle Möglichkeit, die alte Heimat wieder aufsuchen zu können, neue Heimatgefühle an anderem Ort nicht unerheblich erschwert; selbst Ausländer antworteten positiver.

Überaus deutlich ist die Beheimatung abhängig von der Wohndauer am Ort: Wer länger in der Stadt lebt, kann eher in ihr ein Heimatgefühl entwickeln. Die Wohndauer ist ein verläßlicher Indikator für ein höheres lokales Informationsniveau und die Integration einer Person in den Lebenszusammenhang eines Ortes: "Je länger eine Person in einer Stadt wohnt, desto besser sind ihre Kenntnisse der materiellen Ressourcen der Stadt, desto stärker sind ihre sozialen Ressourcen (Netzwerke) entwickelt." (10)

Unter den Berufsstellungsgruppen fällt auf, daß Akademiker und Freiberufler sich nicht so häufig vorbehaltlos in Wolfsburg heimisch fühlen. Die Tatsache, daß sie stärker als alle anderen Gruppen den prozessualen Charakter des allmählich Heimisch-Werdens betonen (vgl. Gruppe lll), kann mit besonderen Anpassungsschwierigkeiten dieser in der Arbeiterstadt Wolfsburg unterrepräsentierten Gruppe zusammenhängen.

Der Familienstand scheint eine eher untergeordnete Bedeutung dafür zu haben, ob man sich heimisch fühlt oder nicht, wenn es auch den Alleinstehenden etwas schwerer fällt.

Woran liegt es nun, daß sich doch ein gewisser Anteil der Einwohner der "Neuen Stadt" damals, 1960, nicht heimisch fühlen konnte? Bei einer Prüfung der Gründe, die diejenigen nennen, die sich nicht heimisch fühlen, zeigt sich häufig einerseits eine deutliche Zustimmung zum äußeren Bild der Stadt, andererseits jedoch eine ebenso deutliche Ablehnung der in Wolfsburg wohnenden Menschen und eine oft massive Kritik an den Verhaltensweisen der Mitbürger. Allgemein wird das "Moderne", "Großzügige" und "Fortschrittliche im Baustil bewundert und gepriesen, wenn auch nicht selten das Fehlen "organischen Wachstums", einer Tradition und romantischer Winkel beklagt wird. (11)

Das soziale Netzwerk aus Freunden, Bekannten, Verwandten und Nachbarn ist eine der entscheidenden Voraussetzungen für das Entstehen von heimatlichen Gefühlen an einem Ort und nicht die besonderen landschaftlichen Formationen einer Region oder baulich-räumliche Besonderheiten eines Ortes. Der geographisch bestimmte Wohnort kann demnach seinen Heimatcharakter verlieren, wenn die sozialen Bindungen innerhalb dieses Ortes verschwinden. Bewohner der Gebiete östlich von Oder und Neiße, die 1945 in ihrem Heimatort geblieben waren, wurden zu Fremden innerhalb eines anderen, sich neu bildenden Sozialgefüges.

Die These vom Primat der personalen und sozialen Beziehungen hinsichtlich des Gefühls des "Zu-Hause-Seins" kann somit als gesichert gelten. Damit soll nicht gesagt werden, daß das landschaftliche und bauliche Bild der Stadt keine Rolle spielt. Rene König spricht davon, daß "bei langer Eingelebtheit [...] alle Verhältnisse zur Umwelt und zur Mitwelt [...] zutiefst emotional fixiert werden" (12). Er bezieht die gefühlsmäßige Bindung auch auf Objekte wie das Elternhaus, die Schule, die man besucht hat, oder besondere landschaftliche Eigentümlichkeiten, die den Heimatort kennzeichnen. Man wird jedoch annehmen müssen, daß diese emotionale Fixierung in den meisten Fällen von intensiven oder oft wiederholten Erlebnissen herrührt, für die das betreffende Gebäude oder der betreffende Platz als Zeuge fungiert. Die in diesem Fall wörtlich zu nehmende "Rasenbank am Elterngrab" ist Auslöser von Erinnerungen an die verlorene Familie. Die Beziehung hat hier, wie König sagt, einen symbolhaften Charakter, das Symbol steht für etwas, was es selbst nicht ist. Das eigentlich Gemeinte bei der gefühlsmäßigen Bindung an Gebäude und Plätze sind vergangene oder noch bestehende personale und soziale Beziehungen, die selbst nicht unmittelbar sichtbar sind und für die wir gerne sichtbare Zeichen suchen. Sie sind das Überdauernde, an das sich die Erinnerung heften kann.

Welche Bedeutung haben die geschilderten Zusammenhänge für eine "Neue Stadt" wie Wolfsburg? Nachteilig für das Heimatgefühl, also das "Sich-heimisch-Fühlen" sind die notwendig unvollkommene Ausbildung des personalen Beziehungsgeflechts für alle, die noch nicht lange genug in der Stadt leben, das Fehlen eingespielter Nachbarschaftsbeziehungen, die relativ geringe Zahl der Verwandten am Ort. Auch die "emotionalen Fixierungen infolge langen Eingelebtseins" können in einem Ort, dessen Einwohner in der Regel erst vor wenigen Jahren zugezogen sind, nicht den gleichen Umfang wie in alten Gemeinden erreichen. Zudem sind die personalen Beziehungen, wie unsere Untersuchungen zeigten, in Wolfsburg noch relativ labil und verleihen noch nicht das Gefühl sicherer Vertrautheit. Die Nötigung, neue Verbindungen zu knüpfen und beste
hende zu korrigieren, ist größer als an anderen Orten, ebenso der Zwang zur Regulierung von Nachbarschaftsverhältnissen, für die kein fester Verhaltenskodex besteht.

Die positiven Äußerungen zum Heimatgefühl beinhalten jedoch nicht immer eine emphatische Zustimmung zur Stadt, sondern nicht selten wird in den Antworten ein Zwang spürbar, in Wolfsburg sich heimisch fühlen zu müssen. Gerade bei den Vertriebenen wird gegenüber den relativ negativ zu Wolfsburg als Heimat eingestellten Personen, die aus Niedersachsen beziehungsweise der Bundesrepublik zugewandert sind (vgl. die Tabelle), die Ausweglosigkeit offensichtlich, den ursprünglichen Heimatort wieder erreichen zu können. Viele von ihnen können daher gar nicht anders, als diese Stadt zu ihrer "zweiten Heimat" zu machen. Man muß sich zusätzlich vor Augen halten, daß sehr viele Personen in einer ganz bestimmten Lebenssituation an diesen Ort kamen. Sie hatten ihre erste Heimat verloren, häufig waren ihre sozialen Netzwerke zerstört und zerbrochen, und sie sahen nun Wolfsburg nach dem Kriege quasi als einen ersten und letzten Notanker an, um nach dem Schicksal der Flucht oder der Vertreibung wieder Fuß zu fassen. Die Vertriebenen und Flüchtlinge, die sozusagen schon vor der Mitte ihres Lebens "am Ende" waren, indem sie gewissermaßen "Haus und Hof" beziehungsweise "Stadt und Dorf" hatten aufgeben müssen, waren praktisch gezwungen, nun diese Stadt Wolfsburg zu "ihrer" Stadt zu machen. Die überwiegend positive Beurteilung läßt sich also auch aus den Kohortenschicksalen der befragten Vertriebenen erklären, daß den hier Befragten nach ihrer Lebensgeschichte praktisch nichts anderes mehr übrig blieb, als sich diesem Ort gegenüber zu öffnen und ihn anzunehmen und zu versuchen, ihr Leben dort möglichst harmonisch zu fristen.

Wie hat sich nun das Heimatgefühl der Wolfsburger in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten entwickelt? Mit jedem Jahresring hat die neue Stadt Wolfsburg auf dem langen Weg von einer Werkssiedlung zu einer Großstadt einen Schritt auf jene Normalität hin gemacht, die nun einmal ältere Städte auszeichnet. (13) Im Zentrum der zweiten Untersuchung der Stadt Wolfsburg stand 1980 die nochmalige Befragung von etwa 500 Personen, die schon zwanzig Jahren zuvor an der Studie teilgenommen hatten. Wieder wurde dieselbe Frage nach dem Heimat-Bewußtsein gestellt. (14)

Im ganzen hat sich das in der Tabelle dargestellte Meinungsspektrum nur unwesentlich verschoben, denn drei Viertel der nochmals Befragten blieben in ihrer Einschätzung konstant. Den Rest bilden überwiegend Leute, die von einer negativen zu einer positiven Meinung zum Heimatgefühl in Wolfsburg gewechselt sind. Nicht selten wird auf die Zeit hingewiesen, die es dauert, bis ein Gefühl des Heimisch-Seins entsteht. Manchmal wird auch ein normativer Druck spürbar, wenn wiederholt Befragte sagen, daß man sich nach zwanzig Jahren einfach heimisch fühlen müsse. Insgesamt scheint sich die Spruchweisheit zu bestätigen, daß die Zeit alle Wunden heilt, denn über die Hälfte der zwanzig Jahre vorher zum ersten Mal befragten Einwohner waren Flüchtlinge oder Vertriebene, bei denen diese Thematik von 1960 auch noch 1980 nicht selten eine "Trauer über ein verlorenes Zuhause" weckt.

Es konnte in der zweiten Befragung wieder bestätigt werden, daß es vor allem die sozialen Beziehungen sind, die die Stadt zur Heimat für Menschen werden lassen, auch angesichts der Tatsache, daß es 1980 schon viel mehr Personen gab, die in Wolfsburg geboren waren. Bei denjenigen, die sich 1980 heimisch fühlen, knüpft sich das soziale Netzwerk signifikant dichter: Intensivierung der nachbarlichen Interaktionsfelder, Konsolidierung des Verkehrskreises durch Expansion der Bekannten- und Verwandten-Beziehungen.

Weiter gibt es eine Parallele zwischen der städtischen Entwicklung und der individuellen Lebensgeschichte. Das scheint typisch für eine "Neue Stadt" zu sein, die erst allmählich ihre Konturen gewinnt und in der noch nicht alles "fertig" ist. Das kommt zum Beispiel in folgenden Zitaten zum Ausdruck: "Man kann sagen, daß man sich hier in den Jahren eingelebt hat, und ich fühle mich als Wolfsburger [...] Ich glaube nicht, daß ich in einer anderen Stadt die letzten zwanzig Jahre so gelebt
haben könnte wie hier. Dies war eine Stadt, wie wir hierher kamen - wo nichts war. Und wir kamen ja auch von einem Nichts. Und wir hatten ja alle nichts. Dann ist das hier so gemeinsam hochentwickelt. Und dann freut man sich. Man freut sich, wie alles so schön geworden ist." (ungelernter Arbeiter, seit 1955 in Wolfsburg, aus Ostpreußen)

Oder: "Habe den Aufbau mitgemacht, und in diesem Sinne sahen wir beide, meine Frau genauso wie ich, damals Wolfsburg als zweite Heimat an. [...] Wir waren jung, wir hatten unsere Familie aufgebaut und die Wohnung gefunden. Und so durch den Aufbau der Stadt, so hat man das als zweite Heimat angesehen.: (Facharbeiter, verheiratet, aus Danzig, 55 Jahre alt)

Oder eine andere Aussage: "Ob man sich heimisch fühlen kann, daran ist jeder selbst schuld. Ich fühle mich hier heimisch, weil ich den Stadtaufbau miterlebt habe. Ich freue mich immer, wenn ich in meine Wohnung komme." (Planungsingenieur vom Eichelkamp, 52 Jahre alt)

Die Korrespondenz zwischen der Dynamik städtischer Expansion und Veränderung auf der einen und individueller Lebensgeschichte - oft im Rahmen der Familie - auf der anderen Seite scheint eine Lebenseinstellung zu begünstigen, die gewissermaßen Voraussetzung einer Identifizierung mit dem Ort ist. Man muß dann - in Abwandlung einer auf die Wohnung bezogenen Metapher - nicht mehr "gegen die Stadt anwohnen", man fühlt sich aufgehoben, bestärkt, ja beflügelt, indem Gemeinsames zwischen städtischer und individueller Entwicklung erkannt wird. (15)

Nun läßt sich aber auch am Beispiel Wolfsburgs sehr deutlich zeigen, daß baulich-räumliche Besonderheiten für die Entstehung der Heimatbindung nicht unerheblich sind. Wolfsburg hat zwar inzwischen eine individuelle, unverkennbare Gestalt, aber es fehlt eben die Atmosphäre, die ältere Städte mit Tradition eher vermitteln. Immer wieder taucht in den Antworten das Attribut "nüchtern" auf. Wolfsburg ist halt nicht "gemütlich" Um es auf einen Nenner zu bringen: Es wird beklagt, daß es - einmal abgesehen vom Schloß - keine baulichen und sozialen Überlieferungen aus einer Zeit gibt, zu der man selbst noch nicht in der Stadt war. Man vermißt die Gegenwart der Geschichte, vor allem alte Häuser aus früheren Epochen, über die zum Beispiel das nahegelegene Braunschweig reichlich verfügt.

Die Innenstadt soll nicht nur funktionieren, sie soll als das alleinige Interaktionsfeld für potentiell alle Bewohner auch die Stadt als Ganzes repräsentieren. Diese Leistung vollzog die Stadtmitte in Wolfsburg lange Zeit nicht, und dies war ein folgenreicher Geburtsfehler der neuen Stadt. Zunächst prägten Brachflächen die Stadtmitte. Erst gegen Ende der fünfziger Jahre, also etwa zwanzig Jahre nach der Gründung, begann die Porschestraße die Zentrumsfunktion zu übernehmen. Hier wurden zwar die wichtigsten Funktionen konzentriert, aber von "Repräsentation" konnte man kaum sprechen. Ein unverwechselbares Zentrum entstand in Wolfsburg erst 1980 durch die Umgestaltung der Porschestraße zur Fußgängerzone. Die millionenschweren Investitionen dienten einerseits dem kulturellen beziehungsweise rekreativen Nutzen, ihnen kam jedoch auch immer eine ästhetisch-symbolische Funktion zu. Mit jedem dieser Großprojekte bewegte man sich auf eine "richtige Stadt" zu insofern, als es sich hierbei um städtische Identifikationsobjekte erster Ordnung handelte. Die Umgestaltung der Porschestraße wird von vielen Befragten als ein ganz hervorragendes Ereignis der letzten zwanzig Jahre bezeichnet.

Jean Amérys Frage, "wieviel Heimat braucht der Mensch?", kann auch am Ende dieses Beitrags nicht beantwortet werden. Unsere empirischen Forschungen in der "Neuen Stadt" Wolfsburg konnten jedoch belegen, daß die "Suche nach Heimat" (16) auch heute noch oder gerade typisch ist in einer Zeit, die sich durch eine nicht zu unterschätzende Individualisierungsdynamik auszeichnet. Es scheint so zu sein, daß gerade in einer Zeit, die durch große Wanderungen und kleinräumige Mobilität charakterisiert werden kann, eine gewisse Raumgebundenheit notwendig bleibt, um den Aufbau von Identifikationsleistungen zu sichern, die für jeden Menschen zur Identitätsgewinnung notwendig sind. Die soziale, kulturelle und räumliche Verortung des einzelnen erfordert eine gewisse zeitliche Dauer an einem Ort.

Wenn von Heimat und Heimatgefühl die Rede ist, wird häufig nur an den Ort der Kindheit und Jugend gedacht. Aber die emotionale Raumbezogenheit, die Entsprechung von Ich und Umwelt ist - das haben unsere Forschungen deutlich gezeigt - den Menschen nicht in die Wiege gelegt, sondern muß im Verlaufe des Lebens (und das schließt heute wechselnde Orte ein) immer wieder neu aufgebaut und erarbeitet werden. Die prinzipielle Entkoppelung von Kindheit und Heimat ermöglicht es, den Begriff der Heimat als Maßstab für einen erfolgreichen Integrationsprozeß in das lokale System von Städten und Gemeinden zu verwenden: Die Kennzeichnung eines Ortes als Heimat kann nicht auf Erfahrungen aus einer Lebensphase fixiert werden, sondern ist Ergebnis einer biographisch variablen Raumdeutung.

Heimatgefühl stellt sich zuallererst aufgrund der Einbindung in ein soziales Netzwerk ein. In den Wolfsburg-Untersuchungen konnte gezeigt werden, daß diese soziale Verortung die entscheidende Voraussetzung für ein Heimisch-Fühlen darstellt. Das Primat der personalen und sozialen Bindungen bei der Begründung eines Heimatgefühls darf aber nicht übersehen lassen, daß es wie der Sozialpsychologe Mitscherlich es einmal ausdrückte - "Markierungen der Identität des Ortes" (17) geben müsse, damit sich mit ihnen etwas verbinden läßt, damit sie neue Symbole für persönliche Erlebnisse und Erfahrungen werden können. Wenn man unter diesem Gesichtspunkt die "Neue Stadt" Wolfsburg betrachtet, so ist sie wahrhaftig keine Dutzendstadt - allerdings hat sie kaum unverwechselbare Bausubstanz aus anderen historischen Epochen zu bieten. Die architektonischen und städtebaulichen Besonderheiten bedürfen daher in besonderem Maße der planerischen Aufmerksamkeit.

  Inhaltsverzeichnis Katalog

  Anmerkungen
1 Vgl. Bausinger, Hermann: "Heimat und Identität", in: Moosmann, E. (Hg.): Heimat, Sehnsucht und Identität, Berlin 1980.
2 Spiegel, Erika: Heimat, in: Handwörterbuch der Raumforschung und Raumordnung, Hannover 1995, S. 467.
3 Es können aber auch ganz andere Territorien sein, die als Heimat begriffen werden. Das trifft zum Beispiel auf Erasmus von Rotterdam zu, der seine Bibliothek als Heimat bezeichnete, oder auf Paul Gerhardt, der den Himme als seine Heimat ansah.
4 Krockow, Christian von: Heimat in der Fremde, in: Führ, Eduard (Hg.): Worin noch niemand war: Heimat, Wiesbaden / Berlin 1985, S. 9.
5 Fuhr, Eduard: Wieviel Engel passen auf die Spitze der Nadel, in: ders. (Hg.) 1985 (wie Anm. 4), S. 24.
6 Waldenfels, Bernhard: Heimat in der Fremde, in: Fuhr (Hg.) 1985 (wie Anm. 4), S. 35f.
7 Davon legen viele authentische Berichte von Vertriebenen Zeugnis ab; vgl. Bundesministerium für Vertriebene (Hg.): Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, 3 Bde., München 1984 (Nachdruck von 1954).
8 Schwonke, Martin / Herlyn, Ulfert: Woltsburg. Soziologische Analyse einer jungen Industriestadt, Stuttgart 1967, S. 65.
9 Zur Methode siehe ebd., S.195ff. Mit dem Indikator "Heimischfühlen" wude auch in der DDR gearbeitet, als in den achtziger Jahren die Bevölkerung in einer Reihe von Städten auf die emotionale Ortsverbundenheit vergleichend untersucht wurde. Dort zeigte sich, daß trotz aller Widrigkeiten bei der alltäglichen Lebensbewältigung immer über die Hälfte der Befragten sich heimisch fühlte, jedoch die zustimmenden Antworten zwischen 87 Prozent in Rostock und 57 Prozent in Halle ganz erheblich schwankten; vgl. Staufenbiel, Fred: Leben in Städten, Berlin 1989.
10 Friedrichs, Jürgen: Stadtsoziologie, Opladen 1995, S.170.
11 Vgl. Schwonke / Herlyn 1967 (wie Anm. 8), S.179.
12 König, René: Der Begriff der Heimat in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften, in: ders. (Hg.): Soziologische Orientierungen, Köln / Berlin 1965, S. 421.
13 Vgl. Herlyn, Ulfert / Tessin, Wulf: Von der Werkssiedlung zur Großstadt, in: Die Alte Stadt 2 (1988), S.145.
14 Herlyn, Ulfert / Schweitzer, Ulrich / Tessin, Wulf / Lettko, Barbara: Stadt im Wandel. Eine Wiederholungsuntersuchung der Stadt Wolfsburg nach 20 Jahren, Frankfurt / Main 1982.
15 Vgl. Herlyn u.a.1982 (wie Anm.14), S. 251ff.
16 Vgl. Greverus, Ina-Maria: Auf der Suche nach Heimat, München 1979.
17 Mitscherlich, Alexander: Die Unwirtlichkeit der Städte. Anstiftung zum Unfrieden, Frankfurt / Main 1965, S.15.
  Inhaltsverzeichnis Katalog

© Ulfert Herlyn