Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
Vorwort
Einführung
Abbildungsteil
Regionale Zentren
Dokumentation
Anhang

Eine Boheme in der DDR?
Die Voraussetzungen und der Begriff

“Die sozialistischen Staaten haben die radikalegalitären und -libertären, individualistischen und kunstemanzipatorischen Tendenzen der literarisch-künstlerischen Intelligenz nur zeitweillig unterdrückt, aber nicht überwunden. Seit der Entstalinsierung sind sie in Osteuropa wieder sichtbar geworden, verbunden mit offenkundigen Tendenzen zur Boheme.”
Helmut Kreuzer
“Wir haben die Boheme als individuelle Befreiung verstanden und Henri Murger regelrecht verschlungen.”
Leander Haußmann
“Was ist nun diese Szene? Ist es überhaupt möglich, sie zu definieren? (...) Inzwischen habe ich begonnen, Menschen aus meinem Bekanntenkreis nach Assoziativwörtern zum Begriff Szene zu befragen, und da tauchten unter anderem auf: Publikum, Farbe, Geilheit, Dreck, Feten, Wehleidigkeit, Wiener Cafe (...) und neben vielen weiteren: Boheme. Hier merkte ich auf. Ist Szene gar eine Fortsetzung dessen, was man einst als Boheme bezeichnete?”
Bernd Janowski

In diesem aufgehitzten Disput blieb allerdings ein wichtiger Punkt unstrittig, nämlich, daß in der DDR-Kultur eine wie auch immer zu bewertende Absatzbewegung existierte, die seit den 70er und vor allem in den 80er Jahren eine Alternative zu den normierten Angeboten der SED-Kulturpolitik schuf. Vereinzelt hatte es bereits vorher alternative Lebensentwürfe gegeben – vor allem in den Nischen relativ liberaler Kunstinstitutionen sowie im Schutz renommierter Intellektueller und bildungsbürgerlich inspirierter Hauskreise. Das Spektrum reichte etwa von den für DDR-Verhältnisse exorbitanten Freiräumen um das Berliner Ensemble über die lange nachwirkende Aura herausragender Dozenten wie Ernst Bloch und Hans Mayer an der Leipziger Universität bis hin zu einer “Gegenkultur aus bildungsbürgerlichem Geist”, wie Günter Wirth formuliert. Zwar verließen viele prominente Intellektuelle bereits vor dem Mauerbau das Land. “Es sind indes mehr Persönlichkeiten aus diesem Milieu in der DDR geblieben, als man annimmt.”(9)

Trotz dieser inspirierenden Autoritäten und Spurenleger, zu denen im künstlerischen Bereich auch der frühe Freundeskreis um Jürgen Böttcher in Dresden, der Kreis um den Liedermacher Wolf Biermann oder wegweisende Künstlerpersönlichkeiten wie die Friedrichshagener Malerin Charlotte E. Pauly und der im Künstlerhaus Dresden-Loschwitz lebende ‘Patriarch der Moderne’ Herrmann Glöckner gehörten, blieb die kulturelle Gegenwehr in den 50er und 60er auf einzelne Aktivitäten beschränkt. Erst Anfang der 70er Jahre kam es aus noch zu behandelnden Ursachen zu einem qualitativen und quantitativen Schub. Die Argumentation des Literaturwissenschaftlers Klaus Michael, der den Beginn der Geschichte der DDR-Alternativkultur in seinem Bericht vor der Enquete-Kommission des Deutschen Bundesstages auf den November 1976 – die Ausbürgerung Wolf Biermanns – legt, ist nach dem vorliegenden Recherchestand nicht zuzustimmen.

Die ostdeutsche Subkultur wurzelt in bereits seit den 50er Jahren vereinzelt zu konstatierenden Nischen- und Insellagen, die schließlich im kulturpolitischen Tauwetter des Machtwechsels von Walter Ulbricht zu Erich Honecker zu vernetzten Ausgangsbasen für eine kulturelle Gegenbewegung werden. Biermanns Ausbürgerung setzt zwar den Beginn zahlreicher Subkultur-Aktivitäten, die sich nun vor allem aus einem Gestus des ‘Trotzdem’ und ‘Dagegen’ beziehen. Gleichzeitig ist die zweifellos für die weitere kulturelle Entwicklung entscheidende Zäsur aber auch Auslöser eines Paradigmenwechsels und zugleich das Ende einer Etappe relativer Freizügigkeit, in der sich wichtige Träger der erst Ende der 70er Jahre tragfähigen subkulturellen Infrastruktur ausbilden konnten. Wie in den nachfolgenden Regionalkapiteln an einer Fülle von Fallbeispielen nachzuvollziehen ist, kann diese Entwicklung längst nicht nur im Ostberliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg nachgewiesen werden. Vor allem in den traditionsreichen Kunstzentren Dresden und Leipzig, aber auch in Halle, Erfurt, Jena und Karl-Marx-Stadt bildeten sich ab Anfang der 70er Jahre subkulturelle Biotope, die durch spezifische Freiräume, lokalpolitische Konstellationen und mitunter auch von einander abweichenden Handlungsstrategien geprägt waren.

In der heftigen Diskussion um das Phänomen einer ‘anderen Kultur’ in der DDR herrschte auch in einem weiteren Punkt Konsens. Alle Disputanten räumten prinzipiell ein, daß sich jene spezielle ostdeutsche Subkultur in einem gänzlich anderen gesellschaftspolitischen Kontext durchzusetzen hatte als die 68er-Bewegung in Westeuropa. Trotz auffallender Anleihen – von vereinzelten Kommunen-Gründungen über die mitunter stark zeitversetzte Rezeption von Musik, Philosophie und bildender Kunst bis hin zur Adaption und modifizierten Aneignung westlicher Lebensstile – besteht unter wissenschaftlichen Autoren weitgehend Übereinstimmung, daß diese kulturelle Alternative nicht mit den politisch aufgeladenen Termini westdeutscher Soziologie erfaßt werden kann. Der Hauptgrund für diese Nicht-Kompatibilität liegt darin, daß die Autonomiebestrebungen in der DDR unter den Bedingungen einer Diktatur nicht die Züge einer politisch ausgerichteten ‘Gegenkultur’ angenommen haben oder annehmen konnten, von ihren Vertretern größtenteils auch gar nicht in diesem Sinne intendiert waren.

Im folgenden wird hier stattdessen die These verfolgt, daß die sich seit Anfang der 70er Jahre herausbildende ‘Ergänzungskultur’ mit dem Begriff Boheme abgebildet werden kann. Auch wenn vielfältige und facettenreiche Prozesse nie völlig unter einen Terminus zu subsumieren sind, bringt seine Einführung in diesem Zusammenhang eine ganze Reihe von Vorteilen. Zwar hebt der klassische Boheme-Begriff vor allem auf ein erstmals im 19. Jahrhundert auftauchendes Komplementärphänomen zu den angepaßten Mittelschichten einer Gesellschaft ab, in der sich kapitalistische Lebens- und Wirtschaftsformen endgültig durchgesetzt haben. Auf der anderen Seite sind seit der Entstalinisierung in Osteuropa erkennbar Freiräume für ‘symbolische Aggressionen’ zu konstatieren, die eine Verwendung des Begriffs für begründet erachtet lassen. Unter Boheme wird nachfolgend in Anlehnung an den von Helmut Kreuzer verwandten Begriff eine intellektuelle Subkultur verstanden, die sich weitgehend dem Kollektivdruck des DDR-Systems entzog. Im Zentrum ihrer erlangten individualistischen Spielräume standen künstlerische und symbolische Aktivitäten, die sich vor allem in der Herausbildung eines zu den Paßformen der ‘sozialistischen Persönlichkeit’ konträr verhaltenen Lebensstils manifestierte.


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