Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
Vorwort
Einführung
Abbildungsteil
Regionale Zentren
Dokumentation
Anhang

Dabei hatte die DDR-Bohme weder eine pyramidale Hierarchie noch ein einheitliches Aktionsprogramm. Sie war eine lose Solidar- und Notgemeinschaft, die verschiedenste Facetten, Kunstprogramme und Philosophien in informellen Kreisen, Zirkeln und Gruppenbildungen vereinte. Das Verbindende war der vollzogene Ausstieg aus den Machtmechanismen und der freiwillige Abschied von einer intellektuellen Kader-Karriere. In der Boheme waren selbstbestimmte Lebensentwürfe möglich – freilich in den Grenzen des Systems. Hier gründete sich intellektuelles Selbstbewußtsein und ein vernehmbarer Stolz auf die erkämpften und ertrotzten Freiräume. Die DDR-Boheme lehnte zwar eine Oppositionsarbeit mit ästhetischen Mitteln größtenteils ab, dennoch besaß sie nach der Ansicht der Autoren eine erhebliche politische Relevanz, die allein schon durch ihre Existenz gegeben war. Ihr Beitrag an der innenpolitischen Destabilsierung der DDR war enorm. Vor allem durch die modellhafte Inbesitznahme und aktionale Erweiterung von weitgehend selbstbestimmten Lebens- und Freiräumen, die Installation einer subkulturellen Infrasturktur, einen vorbildhaften Ausstieg aus DDR-Produktionsmechanismen, die Installation eines alternativ-künstlerischen Sinnangebotes sowie durch die öffentliche Demonstration eines ‘anderen’ Lebensstils.

Für die Lebensformen der Boheme sind nach Helmut Kreuzers Standardwerk “Die Boheme” (1968) folgende Merkmale charakteristisch: “Bestimmende Züge der typischen Einstellungen und Haltungen der Boheme sind generell ein programmatischer Individualismus, der sich, mit dem Willen zur Abweichung als solcher, ohne Scheu vor provokatorischer Wirkung (oft mit Lust an ihr) von Konventionen der Lebensführung und des ästhetischen, moralischen oder politischen Urteilens emanzipiert; zum anderen eine theoretische und praktische Opposition gegen die Geldwirtschaft und gegen eine ökonomisch-materiell und utilitaristisch orientierte Skala der Geltung, der Macht und der Möglichkeiten im sozialen Leben. Die Boheme setzt sich aus informellen Gruppen zusammen. (...) Nicht selten bildet eine einzelne Persönlichkeit ihr Zentrum, oft haben sie ihren Jargon. Nirgends fehlen Mitglieder, die Künstler oder Schriftsteller sind oder auch zu sein erstreben. Die Kreise stehen nicht nur Bohemiens offen, sondern zum Beispiel auch Mitgliedern, die nur periodisch oder sporadisch im Milieu der Boheme erscheinen – ohne ihre bürgerlichen Berufe oder sonstigen Bindungen aufzugeben. Die Klassifikation als Bohemekreis, Künstlerkreis, Salon oder literarisch-künstlerischer Verein ist daher in manchen Fällen schwierig. Mischformen existieren, eine breite Zone des fließenden Übergangs zwischen der ‘Kerngesellschaft’ und der Boheme, die zugleich ohne feste Grenzen mit anderen Randgruppen verbunden ist.”(10)

Desweiteren benennt Helmut Kreuzer den “Bruch mit den Vätern” und die Abscheu vor einer normalen, bürgerlichen Existenz als primäre Impulse zum Ausstieg aus den vorgezeichneten Bahnen einer staatsbürgerlich korrekten Biografie. Über symbolische Aggressionen in Moden, Jargon und Habitus setzt die Boheme auch äußerliche Merkmale ihrer Differenz. Den geregelten und austarierten Lebensmodellen stellt der Bohemien eine nomadische und ungebundene Existenzform entgegen, die trotz eingeschränkter Möglichkeiten das Leben als Abenteuer begreift.

Alle diese Merkmale sind in den Lebens- und Artikulationsformen der DDR-Boheme zumindest ansatzweise zu fixieren, wie in den nachfolgenden Beiträgen vorzuzeigen sein wird. Zudem ist der signifikante Bezug auf die historische Boheme – der in vielen Interviews und Statements für die eigene Lebensform als leitbildhaft dargestellt wird, auch wenn Kenntnisse über sie oft nur aus ‘zweiter Hand’ erreichbar waren – ein deutlicher Beleg für die offensichtliche Seelenverwandtschaft. So wird die Karl-Marx-Städter Künstlergruppe Clara Mosch von der impressionistischen Freiluftmalerei zu eigenen “Pleinairs” angeregt, erheben Dresdner Künstler in der Ausstellung “Frühstück im Freien” im Leonhardi-Museum Edouard Manets gleichnamiges Bild zu einer lebensweltlichen Ikone und fühlen sich Leipziger Literaten um Wolfgang Hilbig und Siegmar Faust von der französischen Malergruppe Nabis zu eigenem Tun inspiriert. Der spätere Theaterregisseur Leander Haußmann gründet Anfang der 80er Jahre in Berlin sogar ein freies Berliner Boheme Theater, der Künstlerkreis um den 1. Leipziger Herbstsalon sieht sich in Nachfolge von Herwarth Walden agieren, und die expressionistische Künstlergruppe Die Brücke steht nicht nur bei der 1971 erfolgten Gründung der Künstlergruppe Lücke um A.R. Penck, sondern auch für die kurzzeitige Installation der kg steg in Cottbus durch den Maler Hans Scheuerecker Pate. Die inspirierende Kraft Pablo Picassos würdigen gleich mehrere Generationen der ostdeutschen Maler-Boheme: Zum 1. Todestag des spanischen Modernisten findet 1974 in der inoffiziellen Ostberliner Privatgalerie von Jürgen Schweinebraden eine Gemeinschaftsausstellung statt, und 1981 setzen jüngere Maler diese Tradition zum 100. Geburtstag Picassos mit einer ähnlichen Schau in der Ateliergalerie des Bildhauers Hans Scheib im Prenzlauer Berg fort. “Picasso hatte also durchaus Wirkung unter den Künstlern”, reflektiert Jürgen Schweinebraden das damalige Ereignis, “und war das große Vorbild – spektakulärer als van Gogh, dem man wegen seines abgeschnittenen Ohres nicht recht trauen mochte. Picasso war auch als Bohemien Leitfigur. In ihm inkarnierte sich nicht nur eine faszinierende Malerei, sondern eine Lebensauffassung von individueller Freiheit, Erfolg (auch bei den Frauen) und damit Glück.”(11)

Die in der DDR-Subkultur stark “sentimentale, romantisierende Betonung des Künstlermenschen”(12), wie der Kunsthistoriker Eugen Blume jenes Phänomen einer sinnstiftenden Rückbesinnung beschreibt, stand dabei vor allem als zweck- und ideologiefreier Gegenentwurf zum Typus des hofierten Auftrags- und Staatskünstlers. Obwohl hier eingrenzend eingefügt werden muß, daß das Kriterium der Auftragskunst keinesfalls zur Unterscheidung zwischen offizieller Staatskunst und nonkonformer Kunst geeignet scheint. Nur in ganz wenigen Fällen haben sich Künstler in der DDR generell staatlichen Aufträgen enthalten. In diesem Zusammenhang scheint also weit eher von Interesse zu sein, welche Aufträge ein Künstler ausgeführt hat. Zwischen der Ausgestaltung eines Jugendklubs im Neubaugebiet Dresden-Gorbitz oder des Foyers im Ostberliner Theater der Freundschaft und der farblichen Auffrischung des Offiziersklubs im Staatssicherheits-Regiment “Felix Dzierzynski” liegen sowohl politisch als auch künstlerische Welten, deren Differenz bei einer vom Themenkreis Auftragskunst ausgehenden Betrachtung aufzuzeigen ist.


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