Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
Vorwort
Einführung
Abbildungsteil
Regionale Zentren
Dokumentation
Anhang

Neue Kreise, andere Räume.
Aktionsorte und Organisationsformen

Im März 1972 erhielt Werner Schmidt, Leiter des Dresdner Kupferstichkabinetts, die wohl merkwürdigste Austellungseinladung in seinem Kunsthistorikerleben. Auf einer 17 x 15 cm großen Holzplatte war das Wort “UNTERgrund” eingebrannt und die anderen Hinweise auf Ort, Anlaß und Datum mit dem Tuschpinsel aufgetragen. Als er sich schließlich pünktlich zur Vernissage in einem Hinterhof-Atelier im sogenannten Hecht-Viertel der Dresdner Neustadt einfand, traf er nur drei weitere Gäste an. Eingeladen hatte die von A.R. Penck gegründete Künstlergruppe Lücke, und auf die Frage Werner Schmidts nach der geringen Beteiligung “erklärte mir Penck, er habe nur vier oder fünf Einladungen hergestellt, weil ihm die Brennerei auf Holz zu mühsam geworden sei.”(25)

Neben dem anekdotischen Wert macht die Schilderung Werner Schmidts, der zu einem der wichtigsten Förderer und intellektuellen Begleiter jener Autonomiebestrebungen von jungen Malern, Grafikern und Bildhauern wurde, auch die besonderen Bedingungen deutlich, unter denen sich eine kulturelle Alternative etablieren mußte. Die öffentlichen Galerien waren trotz des kulturellen Tauwetters bis auf wenige Einzelfälle weiterhin Tabu. Zu den Ausnahmen und Kunst-Oasen im (halb)öffentlichen Raum gehörten zunächst neben den bereits erwähnten kleinen Kulturbundgalerien vor allem Ausstellungsmöglichkeiten in Kirchenräumen, in privat geführten Antiquariaten und Kunsthandlungen. Hier seien als Beispiele nur die Buchhandlung Tannert in Berlin-Karlshorst und der Freitaler Kunst- und Antiquitätenhändler Werner Patzig genannt sowie im speziellen Dresdner Fall auch in den Klubräumen des Rossendorfer Institutes für Kernforschung. Später setzten sich auch einige der ab 1974 entstehenden Galerien des Staatlichen Kunsthandels für neue Formen und unangepaßte Künstler ein. Unter ihnen ist die von Klaus Werner geführte Galerie Arkade in Ostberlin sicher die wesentliche, auch wenn sie im Dezember 1981 aus politischen Gründen geschlossen wurde.

An eine normale Öffentlichkeitsarbeit für selbstbestimmte Aktivitäten war unter den Bedingungen des vormundschaftlichen Staates nicht zu denken. Es konnten weder Anzeigen in der Tagespresse geschaltet noch Plakate gedruckt und schon gar nicht im Stadtbild plaziert werden. So wichen die Künstler und Veranstalter oft auf heute antiquiert oder skurril anmutende Einladungsformen aus, wenn sie es überhaupt für nötig befanden, die gut funktionierende Mund-zu-Mund-Propaganda durch den Einsatz von Drucksachen noch zu verstärken. Bevor ab Ende der 70er Jahre eine ganze Anzahl von privaten Siebdruckwerkstätten entstanden, die unter dem genehmigungspflichtigen Limit von 100 Exemplaren nun auch bevorzugt Einladungen und Plakate in Kleinauflage für subkulturelle Veranstaltungen druckten, mußten die Künstler oftmals noch selbst Hand anlegen. In Jena stempelte der Veranstalter der Hofvernissagen seine Einladungen mitunter im Kohlrabi-Druck, in Leipzig griff der Maler Lutz Friedel für Hofausstellungen Anfang der 70er Jahre auf die altbewährte Kaltnadelradierung zurück, und in Ostberlin schrieb Ekkehard Maaß die Einladung zu einer Lesung mit dem Lötkolben in ein Abendbrotbrettchen, von dem er dann mühsam Papierabdrucke herstellte.

Verwendung fanden ebenso die handgefertigte, mittels Echt-Foto-Abzügen vervielfältigte Einladungscollage, der Fleckentferner “Nuth”, mit dessen Hilfe man Abreibungen von Druckvorlagen herstellen konnte, oder begehrte Kinderstempelkasten “Famos 524”, um nur einige zu nennen. Die Zweckentfremdung des letztgenannten Kinderspielzeugs hatte große Vorteile, wie der Ostberliner Privatgalerist Jürgen Schweinebraden nachträglich in seinen umfangreichen Staatssicherheits-Akten dokumentiert fand: Im Gegensatz zu den oft gebräuchlichen Blaupapier-Durchschriften, auf der manuellen Schreibmaschine “Erika” erstellt, war die Verwendung des Stempelkastens trotz diverser Kriminaltechnik nicht auf einen konkreten Urheber zurückzuführen. “Da derartige Gummistempeltypensätze”, recherchierte die Berliner Bezirksverwaltung für Staatssicherheit, “nur sehr selten individuelle Merkmale hinterlassen und diese Merkmale, sobald die einzelnen Typen aus der Druckleiste herausgenommen werden, Veränderungen erfahren bzw. gänzlich wegfallen können, ist eine Vergleichsarbeit deshalb kaum möglich.”(26)

Indviduelle Merkmale hinterließ die eingangs erwähnte Künstlergruppe Lücke dagegen überdeutlich. Sie war die erste und für lange Zeit einzige Künstlergruppe, die in der kulturellen Absatzbewegung Bestand hatte. Im Unterschied zu den bereits früher existierenden Freundeskreisen, die sich vor allem in wechselnden Ateliers und in Kneipen trafen, manifestierte sich 1971 mit der Gründung der Lücke erstmals ein auch nach außen als unabhängige Gemeinschaft wahrnehmbarer Verbund. Ihre erste Ausstellung, an der auch andere symapthisierende Maler teilnahmen, nannte die Künstlergruppe “Erste Integration junger Zeitgenossen” – ein in seiner Diktion derart anmaßender Titel, “daß die zuständige Abteilung der Staatssicherheit auf der Bautzener Straße das entweder als scharfe Provokation oder als Kinderei bewerten konnte. Sie entschloß sich offenbar zunächst zur Duldung unter Observation”, berichtet Werner Schmidt, “um nicht durch Verhaftungen vorzeitig unliebsames Aufsehen zu erregen. Die offenen Bezeichnung ‘Untergrund’ in späteren Einladungen verlieh der jugendlichen Provokation einen Ernst, dessen Wahrheitsgehalt schockierend oder kurios wirken mußte.”(27)


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