Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
Vorwort
Einführung
Abbildungsteil
Regionale Zentren
Dokumentation
Anhang

Zum besseren Verständnis sollte man sich erinnern, daß zu jener Zeit und auch später jede Abspaltung vom sozialistischen Kollektiv als Sektierertum verteufelt oder im schlimmsten Fall als “staatsfeindliche Gruppenbildung” geahndet werden konnte. Hier geschah nun für die DDR-Kulturpolitik etwas Unerhörtes: Pencks Lücke entfernte sich nicht nur vom Kollektiv, sie ignorierte es schlicht. Zwar hatten sich einige der Gruppenmitglieder eine Zeitlang vergeblich um die Mitgliedschaft im staatlichen Künstlerverband bemüht, mit der Installation der Lücke und der auch für andere Künstler offenstehenden Galerie Lücke Frequentor behaupteten die beteiligten Autodidakten fortan jedoch ein autonomes und von den Strukturen des VBK und der Kunsthochschule nicht erreichbares Kunstquartier. Ihre Ziele formulierte nicht das Statut und die Dienstreisesatzung des staatlichen Künstlerverbandes, sondern ein programmatisches Manifest.

Harald Gallasch, Wolfgang Opitz, A.R. Penck und der unter dem Pseudonym Terk arbeitende Steffen Kuhnert rekultivierten von 1971 bis 1976 das über Jahrzehnte auch im offiziellen Kulturbereich der DDR nicht anzutreffende Organisationsmodell der Künstlergruppe. Der historische Anklang an die legendären Brücke-Expressionisten unterstrich noch den vitalen Auftrittsgestus der nonkonformen Gruppengründung, die für die weitere subkulturelle Entwicklung von außergewöhnlicher Bedeutung war. “Die Schwierigkeit bestand darin, daß es ja viele Dinge gab, die wir von der Gesetzeslage her gar nicht so hätten tun dürfen”, erinnert sich Terk an die frühen Dresdner Jahre. “Wir haben das einfach gemacht. Das war schon das erste Einschneidende. man hätte uns in Arbeitslager einsperren können. Wir hatten eine Arbeitspflicht, wir waren eigentlich asozial, offiziell! Wir durften uns noch nicht mal Künstler nennen, und wir durften auch keine Bilder veräußern. Also mit all diesen Dingen haben wir aber gearbeitet, ständig. Und das hat natürlich doch auch eine Menge Dinge bewirkt. Das hat unter anderem dazu geführt, glaube ich, daß im Laufe der Jahre andere gesehen haben, daß das geht, und sich auch freigemacht haben – ganz gleich in welcher Richtung –, um zusammen etwas zu tun oder einzeln. Nur dieses Beispiel hat genügt zu zeigen, daß es überhaupt keinen Anlaß gibt, sich in jedem Fall schon von vornherein zu beugen. Ich glaube, das war damals vielleicht sogar das Wichtigste daran.”(28)

Mit einiger Zeitverschiebung folgten andere Künstler dem Beispiel der Lücke nach: 1977 entstand in Karl-Marx-Stadt die Künstlergruppe Clara Mosch, zur gleichen Zeit sammelte sich in Leipzig ein Freundeskreis, der sich 1984 als Veranstalter des 1. Leipziger Herbstsalons nachhaltig zu Wort meldete, und in den 80er Jahren setzte ein regelrechter Gründungsboom ein. Die entstehenden Gruppen, die allerdings oft nur kurzzeitig existierten und unter veränderten kulturpolitischen Verhältnissen keine allzu große Distanz zum Künstlerverband mehr aufbauen mußten, hießen beispielsweise Neon Real, Nach uns die Zukunft, Gruppe Meyer, Autoperforationsartisten oder PGH Glühende Zukunft.

Überhaupt spielten bildende Künstler bei der Ausbildung einer subkulturellen Landschaft Anfang der 70er Jahre neben der kulturellen Lockerung durch die Rezeption der Hippie-Bewegung eine entscheidene Rolle. Erstens waren sie als Einzelgänger den kollektiven Ritualen und Einflußnahmen der Kulturpolitik weit weniger ausgesetzt als die in hierarchisch geleiteten Institutionen arbeitenden Schauspieler, Tänzer und Musiker. Zweitens hatten sie einen entscheidenden Vorteil gegenüber allen anderen: Sie verfügten über eigene und selbstbestimmt nutzbare Arbeitsräume, deren Zuweisung zumindest nach Abschluß eines Hochschulstudiums gesetzlich geregelt war und die – anders als die kleinen Wohnungen der Literaten – auch für Lesungen, Feste oder Konzerte nutzbar waren. Drittens avancierten ihre Ausstellungen zu genreübergreifenden Veranstaltungs- und Kommunikationspunkten, in denen sowohl ein Austausch als auch die Präsentation anderer Kunstformen möglich wurde. Während der Ausstellungslaufzeiten organisierten die Künstler mithilfe ähnlich denkender Galeristen eine Vielzahl begleitender Veranstaltungen, die ohne die Anbindung an das eigentliche Ausstellunsgereignis keine Chance bekommen hätten.

So wundert es nicht, daß sich das Aktionsfeld der Boheme mangels anderer Räume anfangs vor allem auf Ateliers und meist von Malern initiierte Freundeskreise beschränkte – ein Phänomen, das noch dadurch verstärkt wurde, daß im Unterschied zu den klassischen Boheme-Zeiten kaum Cafes, Kneipen und Künstlerlokalitäten zu echten Treffpunkten wurden. Die wenigen Ausnahmen wie etwa der Dresdner Körnergarten, die Jenaer Weintanne oder auch die Prenzlauer-Berg-Cafes Mosaik und Wiener Cafe bestätigten nur die Regel einer insgesamt bohemefeindlichen Gaststättenkultur. Sie beförderte damit indirekt den zwischenmenschlichen Umgang, denn nach dem frühen Ausschankschluß, der meist zwischen 22 und 24 Uhr lag, zogen oft wild zusammengewürfelte Gesellschaften aus Freunden, Fremden und Halbbekannten zum mitunter exzessiven Weiterzechen in die Künstlerateliers und größeren Privatwohnungen.


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