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Facettenreicher Mythos: Der Prenzlauer Berg als Zentrum und Transitraum einer von den Rändern nach Berlin drängenden Subkultur

Der Prenzlauer Berg ist ohne Zweifel eine Legende. Als Quartier für unangepaßte Schichten wird er in den letzten beiden DDR-Jahrzehnten zum magnetischen Zentrum und zum Synonym einer intellektuellen Subkultur. Dieser Stadtbezirk ist Insel der Unordnung und subversive Mega-Nische, eine von den Westmedien mitunter gut beleuchtete Bühne gelebten Widerspruchs und primäres Aktionsfeld politischen Widerstands. In der Sucht nach Etikettierung und vorzeigbaren Frontfiguren erscheint die virulente Szene am Prenzlauer Berg in der retrospektiven Aufarbeitung jedoch oft als gut gefüllter Aussteiger-Klub, mit verbindlichen Spielregeln und akzeptierten Hierarchien, geführt von weithin akzeptierten Protagonisten, von denen der Dichter, Herausgeber und inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit Sascha Anderson wohl der bekannteste ist.

Der Mythos von einer ‘bunten Republik’ ist schillernd, facettenreich und trügerisch, denn eine homogene ‘andere’ Kultur hat es im Prenzlauer Berg nicht gegeben. Vielmehr ist für das nonkonforme Leben im bröckelnden Gründerzeitviertel ein dezentrales Nebeneinander von Gruppenbildungen, Aktionen und Projekten typisch, die sich eher tolerieren als programmatisch vernetzen. So entstanden mehrere Zentren wie zum Beispiel das sogenannte LSD-Vierte, abgeleitet aus den Namen Lychener-, Schliemann- und Dunckerstraße. Auch das Gebiet um den Kollwitzplatz oder die Oderberger Straße, eine bevorzugte Wohn- und Atelierstraße, wird zu einem auffälligen Kristallisationsort. “Auf kleinem Raum”, so Klaus Michael, Literaturwissenschaftler und Mitherausgeber der am Ende der 80er erscheinenden Untergrundzeitschrift Liane, “entstanden im Laufe der 70er Jahre unzählige kreative Orte, aus denen nach und nach die Topographie einer eigenständigen Kultur entstand.”(1)

Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist der rapide Verfall der Bausubstanz – ein Umstand, den der Prenzlauer Berg mit vielen Altstadtvierteln in der DDR teilt. Durch undichte Dächer, fehlende Handwerker und der damit einsetzenden Wohnwertminderung kommt es zu einer Abwanderungswelle von Arbeiter- und Angestelltenhaushalten. Diese ziehen den fragwürdigen Luxus einer fernbeheizten Plattenbauwohnung in den gesichtslosen Satellitenstädten Marzahn oder Hellersdorf dem zunehmenden Verfall in ihrem angestammten Kiez vor. Die damit einhergehende veränderte soziale Schichtung schafft genügend Platz für die aus den Provinzen ins Zentrum drängenden ‘Neuzugänge’. Dabei handelt es sich vor allem um Künstler, Intellektuelle, Studenten, Freiberufler, Aussteiger und um Kriminelle, die zunehmend im Prenzlauer Berg ihre Resozialisierungschance bekommen. Mit dem massenhaften ‘schwarzen’ Bezug von Wohnungen verliert die Kommunale Wohnungsverwaltung, die das Monopol für die Vergabe von Mietwohnungen innehat, Anfang der 80er Jahre vollends den Überblick und deren Mitarbeiter wohl auch die Motivation für die Ermittlung der realen Hausbelegungen. Maler, Theatergruppen und Bands kommen auf diese Weise fast problemlos zu Atelier- und Probenräumen. “Jenseits von Sentiment und Verklärung”, analysiert der im Kiez lebende Architekturkritiker Wolfgang Kil, “läßt sich die Legende aus DDR-Tagen also auch so beschreiben: Die Riesennische ist weniger ertrotzt oder gar erkämpft, als vielmehr allmählich erkannt und stillschweigend angeeignet worden. Sie konnte um so schillernder erblühen, je mehr der staatlichen Autorität die Kräfte erlahmten und sie – ganz praktisch – den Überblick verlor.”(2)

Von dieser Situation profitiert Anfang der 70er Jahre beispielsweise Jürgen Schweinebraden, ein aus Dresden kommender Pychologe, der seine guten Kontakte zum Dresdner Künstlerkreis um A.R. Penck und Peter Herrmann in die alternative Berliner Kulturszene einbringt. In einer Hinterhofwohnung betreibt er von 1974 bis 1980 seine EP Galerie(3), mit der sich erstmals im Prenzlauer Berg ein professionell betriebener Gegenentwurf zu den staatlichen Ausstellungsstätten etabliert. Eine traditionsstiftende Landnahme, die später fortgesetzt wird, etwa vom Bildhauer Hans Scheib in seinem Atelier in der Raumerstraße sowie im Seitenflügel der Sredzkistraße 64, wo sich ab 1980 neben- und nacheinander mehrere inoffizielle Selbsthilfegalerien und Atelierausstellungen über Jahre hinweg behaupten. In der letzten Phase der DDR kämpfen etliche Wohnungsgalerien zugleich gegen die Agonie der Endzeit und die schärfer vorgehende Staatsmacht.

Neben den Ateliers, Wohnungen, Privatgalerien und später auch den von der Boheme genutzten Kirchenräumen, staatlichen Kulturhäusen und FDJ-Jugendklubs gibt es im Prenzlauer Berg für realsozialistische Verhältnisse eine Vielzahl von Kneipen. Es enstehen zwar keine reinen Künstlerlokale, dennoch werden einige Cafes und Gaststätten zu wichtigen Anlaufpunkten. Ich weiß nicht, ob an den Treffpunkten der Prenzlauer-Berg-Boheme der Welt- und Kunstgeist unserer aufregenden Tage mit zu Tische saß, ob gedacht oder nur geschwätzt wurde, fragt sich der Sammler und Kunstkritiker Lothar Lang, “War vielleicht der Prenzlauer Berg ein bißchen Paris? War das ‘Mosaik’ in der Prenzlauer Allee das ‘Flore’, war ‘1900’ in der Husemannstraße das ‘Deux Magots’ und das ‘Wiener Café’ in der Schönhauser Allee das ‘Lipp’?”(4)


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