Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
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Schuld an der Eskalation mit der Staatsmacht trägt nicht der Rückgriff auf intellektuelle Mönchstugenden, sondern ein falsch verstandener Freundschaftsdienst: Siegmar Faust, nach mehrjähriger Haft ausgebürgerter Autor und Freund von Theilmann, berichtet 1984 in der Tageszeitung Die Welt von einem 1982 in der Obergrabenpresse gedrucktem “Gedichte”-Band(12). Der von Bernhard Theilmann initiierte, aus Leporellos gefaltete Titel enthält in zwei 20er Auflagen neue Lyrik von drei Dresdner Autoren: Sascha Anderson, Michael Wüstefeld und Bernhard Theilmann selbst. Das Buch versammelt sechs Texte, die seitenverkehrt mit der Radiernadel auf die Platte geritzt werden müssen. Das von Bernd Lorenz ( dem Bruder des Druckers, d.A.) aufgenommene Titelfoto zeigt das Dichtertrio vor Mülltonnen und Fahnen, die wegen eines bevorstehenden DDR-Feiertags aus den Fenstern hängen.

Zwei Jahre nach dem Erscheinen erklärt Siegmar Faust das dünne Heftchen zum ersten DDR-Samisdat. Er behauptet “fern aller Tatsachen”, folgert Detlef Krell, “das Lyrikbändchen sei ‘mühsam auf der Druckerpresse des in Dresden bekannten Malers und Grafikers Eberhard Göschel hergestellt worden’. Über Theilmann plaudert er aus, daß dieser sich in der DDR-Friedensbewegung engagiere. Er wird gewußt haben, was er lostritt, wenn er die Autoren als staatsfeindliche Untergrundbewegung denunziert.”(13) Vor allem Fausts ebenso beifällig wie unvorsichtig attestierter Befund eines Ermittlungsdefizit erscheint aus heutige Sicht kaum nachvollziehbar: “Es ist schwer zu sagen”, so faßt er seinen Artikel zusammen, “was aus diesen noch nicht vereinnahmten Samisdat-Autoren einmal werden wird.”(14)

Auf diesem Weg bekommt die Staatssicherheit ihre Versäumnisse ausgerechnet durch die Westpresse serviert – ein Vorwurf, den sie nun doppelt auszugleichen sucht. Die Operative Maßnahme “Schreckenstein” läuft an. Den Namen haben Mielkes Bezirksstatthalter aus einem Vers Michael Wüstefelds, der im “Gedichte”-Band abgedruckt ist: “Ohne Gitter eine Käfigseite des Landes/Keinen trifft dort ein Schuß/Hinaus fliegt der Falke/Überm Schreckenstein bei Aussig/Und wieder zurück/Auf den Handschuh des Falkners.”

Am 16.4.1984 gibt die Dresdner MfS-Bezirksverwaltung die Losung aus: “Zerstörung der Vorbilder Göschel, Theilmann und Wüstefeld für den oppositionellen/negativen Nachwuchs aus den Bereichen Bildende Kunst und Schreibende.”(15) Erreichen wird sie ihre “Kampfaufgabe” nicht, trotz Wanzeneinbaus, konspirativen Hausdurchsuchungen und Festnahmen. Die Obergrabenpresse hat Bestand und bringt neben der 1989 erschienen “grafiklyrik 5”, die Texte von Lutz Rathenow mit Grafiken von Claus Weidensdorfer kombiniert, noch zwei Anthologien junger Künstler heraus. Die Ursache dieser langjährigen Resistenz liegt wohl in der Charakterstärke ihrer Akteure, die auch nach der Wende – nun in marktüblicher Gesellschaftsform – die Obergrabenpresse über Wasser halten. “Zwischen uns gab es kein Gift, das nach einem halben Jahr dann in der Kneipe wieder hochkommt”, beschreibt Bernhard Theilmann die Gruppenpsyche. “Das war nicht unser Stil. Das kann auch ein Grund dafür sein, daß wir nach außen so einen homogenen Eindruck gemacht haben. Es gab nie Neid, es gab nie Mißgunst. Jeder hat gemacht, was er beitragen konnte. Das wurde nicht aufgerechnet. Das Verrückte ist ja, daß es uns noch immer gibt.”(16)


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