Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
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An der Kunsthochschule existiert ein künstlerischer Vorkurs für potentielle Studenten. Dort knüpft das Aktmodell seinen weitgespannten Freundeskreis. Eine Gruppe von Gleichgesinnten findet sich bereits 1982. Sie nennt sich PIG(5), Plagwitzer Interessen Gemeinschaft, und besteht zum großen Teil aus Hochschulkursanten. In einer ausgedienten Werkhalle im Leipziger Industrieviertel Plagwitz treffen sich die PIG-Aktivisten zur kollektiven Kunstausübung. Bei der “Aktion Weis(s)ung” spielen sie einen kompletten VEB-Arbeitstag nach. In 8,75 Stunden, der Länge einer normalen DDR-Schicht, renoviert die bunte Crew ab 6 Uhr früh eine verrottete Fabriketage. “Pausen mit Kulturprogramm waren eingeplant. Ansonsten bestand Redeverbot”, erinnert sich Jörg Herold, inzwischen anerkannter documenta-Künstler, “es galt jedoch, sich nicht allein gegen das Verbot zu empören, sondern es zu hintergehen.”(6)

Als ein paar der Beteiligten mit einem alten Faß Paraffinöl den Fußboden lackieren, kippt die Chose ins Kunstmachen um. Es entsteht eine bizarre Installation, in der Thomas Krüger, heute umtriebiger SPD-Bundestagsabgeordneter, seine Kollegen kurz vor Feierabend mit Kurt Schwitters “Ursonate” unterhält. Überhaupt fällt die PIG mit stilprägenden Ereignissen in der Messestadt auf. Ob es ein schräges Rikscha-Rennen ist, bei dem die erweiterte Künstlergruppen-Belegschaft mit selbstgebauten Vehikeln zum Erstaunen der Ordnungshüter um die Wette tobt. Oder die Vergabe des “Prix de Jagot” – ein legendäres Künstlerfest im Kulturhaus Nationale Front, bei dem die Preisvergabe an Leipziger Künstler wie den Literaten Bernd Igel und den Maler Akos Novaky eher zur Nebensache gerät. Dort erscheinen die geladenen Gäste in verschlissener Ballkleidung aus Omas Kleiderschrank und dem geplünderten Theaterfundus. Eine “witzige Mischung aus Multimedia-Performance, Okkultismus und Hochkultur”(7), findet ein Beteiligter. Zum Höhepunkt des Festes zeigen die PIG-Künstler, daß sie vom Bildband über die Wiener Aktionisten, den sie gerade aus dem Giftschrank der Deutschen Bücherei entwendet haben, mehr als begeistert sind. “So haben wir eben Nieren, Herz und Hirn vom Rind gekauft”, erzählt Jörg Herold, “haben uns als drei ‘Charaktere’ verkleidet und rannten entweder mit Herz oder Niere oder Hirn durch den Raum, die somit losgelöst von ihrer menschlichen Hülle waren, worauf die Zuschauer nun reagieren sollten.”(8)

Gaudi, Spaß und exzessive Kunsterkundung: Das schrille Erscheinungsbild der Freunde wird zum Markenzeichen. PIG-Aktivist Thomas Krüger läuft selbst im Hochsommer mit einem zerfetzten Kapitänsmantel und einer aus Turkmenien mitgebrachten Folklorekappe herum. “Wir haben die DDR einfach ignoriert”, erzählt Krüger, “und eine bizarre Kunstwelt ins Biotop eingepflanzt.”(9) Kein Wunder, daß die Stasi schon frühzeitig auf die “Pseudo-Künstler”, wie sie die PIGler nennt, aufmerksam wird. “In Abrißwohnungen des Stadtbezirkes Leipzig-West organisierte Lybke im Zusammenwirken mit dekadenten Jugendlichen Parties und kleinere illegale Ausstellungen”, heißt es etwa in einem Informationsbericht, “in seiner Wohnung führte er kleinere illegale Ausstellungen durch. Zur Ausstellung kamen relevante Pseudokünstler, die aus der PIG stammten.”(10) Ein vitaler Trupp, der in anarchisch geprägten Wohngemeinschaften sein Schicksal im Rahmen des Möglichen selbst in die Hände nimmt. Vor allem im Abrißviertel Connewitz existiert eine bunte Community. In den dort massenhaft schwarz bezogenen Wohnungen gilt Kerouacs “Unterwegs” als aktuelle Kultfibel – mehr als zwanzig Jahre nach der deutschen Erstveröffentlichung. Und der Besuch in der NaTo, einem staatlichen Kulturhaus mit subversivem Szeneprogramm, wird zum zentralen Treffpunkt lebenshungriger Aussteiger. Sein Leiter, Götz Lehmann, gehört ebenfalls zum munteren PIG-Umfeld. “Es war ein großer Spaß”, erinnert sich Lybke, dessen Wohnungstür in jener Zeit für durchreisende Freunde immer offen steht, “wir haben so einen Zeitsprung gehabt. Was in den 60er und 70er Jahren in Amerika lief, kam in den 80er dann in Leipzig an. Und dieses Lebensgefühl wurde total ausgelebt.” (11)

Doch das Beatnik-Revival trägt kein Galeristenleben. Trotz aller sinnlicher Revolten, die Judy in seiner chaotischen Behausung zuläßt und animiert, beginnt der von vielen anfangs unterschätzte Ausstellungsmacher früh mit der kühlen Professionalisierung seiner Arbeit. Im Gegensatz zu dem eher willkürlich angesetzten Programm anderer illegaler Wohnungsgalerien legt der gewitzte Leipziger von Anfang an Wert auf kunstwissenschaftliche Beratung. Zudem sorgt er für eine unbedingte Kontinuität des Ausstellungsbetriebes. Vor allem die freischaffenden Kunsthistoriker Klaus Werner und Christoph Tannert werden zu theoretischen Anregern und von der Fangemeinde akzeptierten Eröffnungsrednern. Zwar stellt Judy bereits in seiner kleinen Wohnungsgalerie(12) interessante Künstler aus, doch der begrenzte Raum und ein stark zunehmender Besucherverkehr wird immer mehr zum Handicap. So geht er 1985 auf die Suche nach einer räumlichen Alternative. In einem Hinterhof in der Fritz-Austel-Straße 31 stößt der expansionswillige Galerist auf eine ehemalige Werkstatt der Firma Rohrer&Klinger: eine kleine Chemiebude, bei der schon Picasso seine Lithokreide bestellt haben soll, behauptet zumindest die Stadtlegende. Da sich das runtergekommene Gebäude in Privatbesitz befindet, ist die Verhandlung mit dem Besitzer kein großes Problem. Bei 30 Mark Monatsmiete wird man sich handelseinig. Doch für den offiziellen Mietvertrag braucht der kulturelle Tausendsassa einen Alibikünstler aus dem Staatsverband. Lybke, der immer nahe am Tatbestand der “Asozialität” vorbeischrammt, hat ohne Verbandsausweis nicht das Recht, einfach ein Atelier anzumieten. VBK-Mitglied Akos Novaky hilft weiter. Lybke revanchiert sich, indem er Novaky später die erste Personalausstellung im neuen Quartier widmet.


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