Das westdeutsche Wirtschaftswunder setzte sich bis 1974 fort. Die Mehrzahl der Bürger hatte Teil am zunehmenden Wohlstand. Ein Beispiel dafür war die "Automobilisierung" der Bevölkerung. Der Verkehr sorgte für eine radikale Umformung der Landschaft: Hatte sich die Industrie zuvor auf wenige Zentren konzentriert, die "Verschmutzungsinseln" in einer relativ intakten Umwelt bildeten, so ebneten sich die Unterschiede zwischen Stadt und Land nun ein. Der Maler Peter Brüning charakterisierte diesen Wandel 1967 so: "In der modernen Natur ist das Zeichen die Landschaft. Eine nicht bezeichnete Landschaft existiert nicht."

In der DDR fiel das Wirtschaftswachstum verhaltener aus. Obwohl weniger Haushalte über ein Fahrzeug verfügten, schlugen auch hier Planer breite Schneisen durch Stadt und Land. Dennoch blieb die Trennung zwischen Industrie- und Naturzonen in stärkerem Maße erhalten.

Der Club of Rome warnte 1972 vor den "Grenzen des Wachstums". Noch aber sorgten sich in West und Ost nur wenige um die Umwelt. Erst um 1980 ergriff das Thema weitere Kreise der Bevölkerung. Die Gefährdung der Natur durch fortschreitende Industrialisierung entwickelte sich zum Thema für Künstler aller Richtungen.

 

 

Unser Land ist schön. Aber ich sehe darum, und weil ich als "Privilegierter" einiges mehr sah in der Welt, auch schmerzlicher als manch anderer die Brutalität, mit der unsere Industrien sich ins Land breitfressen. Rücksichtslos wie einst im 19. Jahrhundert die "Krupps", heute unsere "Krauses", nur schlimmer noch, denn in unseren Jahren sind die Grenzen der Belastbarkeit der Natur und des Menschen deutlich geworden.

Wolfgang Mattheuer,
Mein Unbehagen - mein Widerspruch, 1983
(1990 erstmals veröffentlicht)

 

 

 

 

 

 

Peter Brüning (Düsseldorf 1929 - 1970 Ratingen)
Nr. 20/67, Superland mit der Ruhrtalbrücke, 1967
Übermaltes Offsetplakat, auf Leinwand aufgezogen, 140 x 300
Ratingen, Nachlass Peter Brüning

Die Natur habe durch ihre Anpassung an menschliche Erfordernisse einen "rein funktionsbestimmten Charakter" gewonnen, äußerte Brüning 1967. Er plädierte allerdings nicht für Zurückhaltung bei Eingriffen in die Landschaft, sondern wollte mit seiner Kunst die Menschen für die Folgen ihres Handelns sensibilisieren: "Sie soll Ruhepunkte schaffen in diesem unaufhörlichen Dynamismus, Momente (Monumente) zeigen, in welchen wir auf einer freieren Ebene dieser neuen Umwelt bewußt werden können."

Brüning wurde 1967 von dem französischen Kurator Pierre Restany eingeladen, sich an der Ausstellung Superlund in der schwedischen Stadt Lund zu beteiligen. Für diese Schau bearbeitete er erstmals ein auf Leinwand aufgezogenes Plakat. Es zeigte die 1966 für den Verkehr freigegebene Ruhrtalbrücke der A 52 bei Mühlheim an der Ruhr. Das 65 Meter hohe und 1 830 Meter lange Bauwerk war ein besonders markanter Abschnitt des in den 60er und 70er Jahren rasch wachsenden bundesdeutschen Autobahnnnetzes.
Der Maler überzog das Plakat der Ruhrtalbrücke mit Höhenlinien, Baumzeichen und anderen kartographischen Elementen, denen er durch Schraffuren räumliche Tiefe verlieh. Die Eintragungen verselbständigen sich und formieren sich zu unabhängigen Strukturen. Dadurch lenkte Brüning die Aufmerksamkeit des Betrachters auch auf die realen Veränderungen der Topographie durch den Menschen. Der Titel Superland bezieht sich zum einen auf die Ausstellung in Schweden, zum anderen auf das Schweben der Markierungen über (= lat. super) der Landschaft. Weitere Superländer - mit Ansichten des Duisburger Hafens oder der Skyline von New York - folgten bis zu seinem frühen Tod. AS

Peter Brüning (November 1967), in: Otten 1988, S. 486 (Zitat); Ausst. Kat. Duisburg 1969, Nr. 297; Heinz Fuchs, Vorwort, in: Ausst. Kat. Mannheim 1971, unpag.; Otten 1988, S. 418.
Bibliographie

 

Harald Duwe (Hamburg 1926 - 1984 Kiel)
Industrielandschaft mit Atomkraftwerk, 1980
Öl auf Leinwand, 100 x 150
Privatbesitz

Die partielle Kernschmelze im Kernkraftwerk "Three Mile Island 2" bei Harrisburg schockte 1979 die Bevölkerung in den westlichen Industriestaaten, die die Atomenergie mehrheitlich noch für eine viel versprechende Zukunftstechnologie hielt. Ein Jahr nach diesem Unfall malte Harald Duwe ein Bild, das die Bedrohung spürbar werden lässt, die für ihn von einer solchen Anlage ausging: Das Reaktorgebäude und die beiden Kühltürme liegen inmitten einer verwüsteten, von verstreutem Gerümpel und totem Geäst geprägten Gegend. Hinter dem Kraftwerk türmt sich eine finstere Wolkenwand auf. Die von Landvermessern hinterlassenen Markierungen bereiten einen weiteren Einschnitt in die Landschaft vor.

Die Elbregion um Hamburg entwickelte sich in den 70er Jahren zu einem Schwerpunkt des bundesdeutschen Atomprogramms. Dort entstanden die Kernkraftwerke Stade (1972) und Brunsbüttel (1976). Dem Bau von Krümmel (1983) und Brokdorf (1986) gingen erbitterte Demonstrationen voraus. Duwe konnte die Anregungen für sein Gemälde also ganz in der Nähe seines Wohnortes Kiel sammeln.
Zu den von ihm aufgegriffenen Stoffen sagte der Künstler 1983: "Die Themen werden mir vom Zeitgeschehen aufgedrängt, das ich als Zeitgenosse im Laufe der Jahrzehnte in mir gespeichert habe, Tag für Tag in all seinen Widersprüchen erlebe und in vielerlei Versionen von den Medien vermittelt bekomme. Der Ort des Zeitgeschehens ist für mich und meine Bilder die Bundesrepublik Deutschland. Hier habe ich von Anbeginn am Kampf der widerstreitenden politischen, sozialen und ideologischen Kräfte teilgenommen. Hier habe ich das Nebeneinander von Existenznot und Konsumrausch, Industriewachstum und Umweltzerstörung, Friedenssehnsucht und Rüstungswettlauf sinnlich wahrgenommen und zu verarbeiten gesucht." AS

Harald Duwe, Zu meinen Bildern (1983), in: ders. 1984, S. 27 (Zitat); Jensen 1987, S. 376; Türk 2000, S. 359.
Bibliographie

 

Wolfgang Mattheuer (* Reichenbach 1927)
Guten Tag, 1976
Öl auf Hartfaser, 280 x 280
Berlin, Bundesrepublik Deutschland, Dauerleihgabe an das Deutsche Historische Museum, Inv. L 95/246

Die Konzeption zur Ausschmückung des Foyers im "Palast der Republik" stammt von Fritz Cremer, der als Motto das Lenin-Zitat "Dürfen Kommunisten träumen?" wählte. Es hatte - wie der in langen Auseinandersetzungen mit Funktionären gestählte Bildhauer genau wusste - zwei Vorteile: Den beteiligten Künstlern ließ es möglichst viel Freiraum, und es beugte Konflikten mit dem Auftraggeber, dem Ministerium für Kultur, vor.
Mattheuers Gemälde, das Menschen vor einer Industriestadt ohne bestimmbares topographisches Vorbild zeigt, lässt viele Interpretationen zu. Die Autoren des 1977 erschienenen offiziellen Bildbands zum "Palast der Republik" nahmen den Titel wörtlich: "Was da im Bilde erscheint, ist ein guter Tag, ein gutes Land mit Perspektive."
Was den Maler wirklich bewegte, macht seine 1983 für den IX. Kongreß des Verbandes Bildender Künstler der DDR geschriebene Rede deutlich:

"Unser Land ist schön. ... Aber ich sehe darum, und weil ich als ›Privilegierter‹ einiges mehr sah in der Welt und dadurch vergleichsfähiger werden konnte, auch schmerzlicher als manch anderer die Brutalität, mit der unsere Industrien sich ins Land breitfressen. In alle Täler hinein, bis hinauf in die Kammlagen, mit ihren Braunkohlenfeuerungen, Großschloten und kleinen, mit Hallen und Baracken und Rohren, Schuppen und Kesseln, Buden und Silos und mit Lagerplätzen dazwischen und daneben, mit Kohlehalden und Aschekippen, Schutt und Schrott. Rücksichtslos wie einst im 19. Jahrhundert die ›Krupps‹, heute unsere ›Krauses‹, nur schlimmer noch, denn in unseren Jahren sind die Grenzen der Belastbarkeit der Natur und des Menschen deutlich geworden." Mattheuer hat diese Rede letztlich nicht gehalten; sie wurde erst 1990 veröffentlicht. Kritik konnte sich in der DDR eben eher in Gemälden äußern als in Worten. AS

Graffunder/Beerbaum 1977, S. 49; Ausst. Kat. Dresden 1977/78, S. 317; Wolfgang Mattheuer, Mein Unbehagen - Mein Widerspruch. Zum Kongreß des VBK-DDR (1983), in: ders. 1990, S. 161-173 (Zitat); Mann/Schütrumpf 1995; Guth 1995, S. 286.
Bibliographie

 

 

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DIE ZWEITE SCHÖPFUNG-
Bilder der industriellen Welt vom
18. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Eine Ausstellung des
Deutschen Historischen Museums


31. Juli bis 21 Oktober 2002
im Martin-Gropius-Bau

Martin-Gropius-Bau
Niederkirchnerstraße 7
10963 Berlin
Tel.: 030/ 25486-0
Stadtplan-Link (www.berlin.de)


Öffnungszeiten

täglich außer dienstags 10 bis 20 Uhr

Verkehrsverbindungen
S- und U-Bahn Potsdamer Platz und Anhalter Bahnhof
Bus 200, 248, 348 Haltestelle Potsdamer Platz
Bus 129 Haltestelle Anhalter Bahnhof

Eintritt
6 ,- € incl. Audioführung, ermäßigt: 4,-€