Gebannter Blick

Deutsche Plakate 1890-1933 zwischen Kunst und Reklame

 

Frederick Walker, der Schöpfer des ersten mit künstlerischem Anspruch gestalteten Theaterplakates für das Schauspiel »The Woman in White« von William Wilkie Collins (London 1871), sah in dem bislang noch keiner ästhetischen Würdigung für wert gehaltenen Plakat einen »äußerst wichtigen Kunstzweig«, ein »dereinst wichtiges Gebiet der Kunst«.(1) Im Jahre 1889 erhielt der Franzose Jules Cheret, den man den Vater des künstlerischen Plakates nennt, das Kreuz der Ehrenlegion, weil er, so hieß es in der Begründung, mit dem Plakat »einen neuen Kunstzweig geschaffen hatte, indem er die Kunst auf kommerzielle und industrielle Druckerzeugnisse übertrug«.(2) Einer seiner Pariser Zeitgenossen meinte: »Das schönste Naturschauspiel wird niemals den Anblick einer Plakatwand aufwiegen.«(3) Als Edmund Edel zu dem bekannten Hammerplakat von Ludwig Sütterlin zur Berliner Gewerbeausstellung im Jahre 1896 eine heitere Parodie für den Auftritt einer amerikanischen Tanzgruppe an die Säulen brachte, wurde er von Sütterlin in einen Plagiatsprozeß verwickelt. Die Öffentlichkeit nahm lebhaften Anteil daran, und Edel wurde dadurch, wie er selbst berichtet, zum »Witzbold Berlins«.(4)

Vor dem Ersten Weltkrieg äußerte der in Berlin tätige Wiener Gebrauchsgraphiker Julius Klinger, es sei »das Mißverständnis entstanden, daß Reklame und Künstler zusammenfielen.« Weiter heißt es, »Künstler mit Idealen« hätten in der Reklame »nicht mehr mitzuspielen«. Klinger verlangte indessen dennoch von den jungen Künstlern, die nicht mehr »in einem Wust künstlerischer Vorurteile befangen« seien, ihre Entwürfe so zu gestalten, »daß auch nach der ästhetischen Seite hin vollständige Befriedigung eintritt.«(5) Und schließlich meinte nach dem Kriege der ebenfalls bekannte Gebrauchsgraphiker Ferdy Horrmeyer, »daß Reklame nichts mit den rein geistigen Dingen der Kunst zu tun hat.«(6)

Diese Äußerungen sind bezeichnend für die unterschiedliche Einschätzung des Plakates vor und noch kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Von vielen wurde es als ein neues künstlerisches Ausdrucksmittel emphatisch begrüßt. Manche sahen mit ihm nunmehr die Möglichkeit gegeben, so etwas wie eine Kunstgalerie auf der Straße zu schaffen, mit deren Hilfe das Kunstverständnis auch bei den Bevölkerungskreisen geweckt und gefördert werden könnte, die sonst ästhetischen Angeboten weniger zugeneigt waren. Charakteristisch für die Erwartung ist eine Äußerung Walter von Zur Westens, eines passionierten Sammlers angewandter Graphik und Mitglieds des Vereins der Plakatfreunde: »Können doch künstlerische Plakate, die sich auf der Straße jedem aufdrängen, künstlerische Geschäftskarten, die in alle Häuser dringen, Liebe und Verständnis für gute Kunst auch in Kreisen wecken, die sonst nicht mit ihr in Berührung kommen. Französische Schriftsteller haben die Plakate treffend als die Ausstellung, als Museum der Straße bezeichnet.

Es ist aber ein Museum, das sich vor allen ähnlichen Anstalten dadurch auszeichnet, daß man seine Bilder nicht nur ansehen kann, sondern ansehen muß. Welchen Gewinn würde es daher für die künstlerische Bildung des Volkes bedeuten, wenn dort, wo heute noch so häufig Geschmacklosigkeiten und Roheiten das Auge beleidigen, künftig nur wirkliche Kunstwerke ständen.«(7)

Kunstgewerbemuseen in Hamburg, Dresden, Berlin legten eigene Sammlungen des neuen Mediums an und hielten es damit für kunst– und bewahrungswürdig. Der Verein der Plakatfreunde (19051922) sah unter anderem ein Ziel seiner Bestrebungen darin, »Kunst und Kaufmann«, eine damals häufig nahezu formelhaft gebrauchte Formulierung, auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen und so zu einer allmählich wirksamen ästhetischen Veredelung der Reklame zu gelangen. Eine ständige Beilage in der vom Verein herausgegebenen Zeitschrift »Das Plakat« (1910–1921) hieß dann auch »Die Kultur der Reklame«. Bei solchen Bemühungen konnte er eines recht verbreiteten Interesses der Öffentlichkeit sicher sein, wie deren Anteilnahme am eingangs erwähnten »Fall Edel« gezeigt hatte.

Der Verein der Plakatfreunde setzte sich anfangs vornehmlich aus privaten Sammlern und Kunstfreunden zusammen und neigte daher vornehmlich ideal motivierten Vorstellungen in seinem Verhalten gegenüber dem Plakatschaffen zu. Später wurden auch Gestalter, darunter so bedeutende wie Lucian Bernhard, Julius Klinger, Ludwig Hohlwein, sowie Wissenschaftler, Museumsdirektoren, Reklamefachleute Mitglieder und brachten stärker die Forderungen der werblichen Praxis zur Geltung. Der Verein wußte sich in der interessierten Öffentlichkeit wie in Fachkreisen hohes Ansehen zu verschaffen.

Er war vertreten in Förderkomitees, in Wettbewerbsjurys, stellte Gutachter, gab Publikationen heraus, unterhielt eine rege Vortragstätigkeit, zeichnete verantwortlich für zahlreiche Ausstellungen. Der sich immer stärker herausbildende Widerspruch zwischen Auffassungen und Interessen der kunstliebenden »Plakatfreunde« und den in der Reklamepraxis Stehenden trug schließlich zum Auseinanderbrechen des Vereins und zur Aufwertung des bereits 1919 gegründeten Bundes Deutscher Gebrauchsgraphiker bei. Dieser machte als ausgesprochen berufsständischer Verband neben werbepraktischen zunehmend auch ökönomische und soziale Probleme zum Gegenstand seiner Tätigkeit, während die Behandlung ästhetischer Fragen mehr in den Hintergrund rückte.

Damit stellten sich die Gebrauchsgraphiker bewußt in den Dienst ausschließlich an der Praxis orientierter Aufgaben, die ihnen von ihren Auftraggebern aus Wirtschaft, Kultur und in begrenztem Maße auch der Politik gestellt wurden. Die gestalterische Tätigkeit für die Reklame, die sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg zu einer eigenständigen Fachdisziplin mit eigenen Ansprüchen und Methoden zu entwickeln begonnen hatte, führte schließlich zur Ausbildung des anerkannten Berufes des Gebrauchsgraphikers. Er hatte sich in vielen Bereichen der visuellen Kommunikation zu bewähren. Der Gebrauchsgraphiker verfügte zwar in der Regel ebenfalls über eine künstlerische Ausbildung, widmete sich aber der Reklame, nicht der freien Kunst, wenn auch eine prinzipielle Trennung nicht geboten war. Wurde seine künstlerische Leistung zwar einem pragmatischen Zweck untergeordnet, wurde sie dadurch in ihrem schöpferischen Charakter nicht beeinträchtigt. Auch die Gestaltung von Arbeiten für den Einsatz in der Reklame forderte originale künstlerische Qualität. Der Beruf des Gebrauchsgraphikers hatte seine eigene Würde gefunden, nicht allein gemessen an den Maßstäben akademisch geprägter Kunst, sondern vor allem an den Bedürfnissen der gesellschaftlichen Praxis.

In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts galt die Reklame allerdings noch als anrüchig, marktschreierisch, unlauter und daher unseriös. Ihr konnte sich ein anständiger Künstler, der auf sich hielt, nicht widmen. Nur Lithographen, Druckern, Handwerkern blieb es überlassen, Plakate für Handelsfirmen, für Zirkus, Varietes und dergleichen zu schaffen. Eine künstlerische Note wiesen solche Blätter selten auf, und auch einige bekannte Entwürfe von Daumier, Manet, Scherenberg, Hosemann, Kaulbach u.a. werden heute mehr geschätzt wegen ihrer Herkunft aus der Hand bekannter Künstler, weniger aber als eigentliche Plakate.

Die meisten Anschläge waren allerdings noch einfache, meist mit Text überladene Schriftplakate. Andere wurden mit sentimentalen oder schlecht umgesetzten trivialen Darstellungen überfrachtet, oft weitschweifig und ohne inhaltliche oder formale Mitte. In den USA und in England mit ihrer hervorragenden Drucktechnik wurde es in den achtziger Jahren üblich, dafür geeignete Gemälde mehr oder weniger bekannter Künstler mit entsprechenden Texten und Anspielungen auf das jeweilige Werbeobiekt zu versehen und mit vielen Farben zu drucken. An einen eigenen Plakatstil, an eine besondere Gestaltungsmethodik dachte damals offensichtlich noch niemand.

Es geht zu weit, den Weg zu verfolgen, der schließlich in Frankreich und England, dann auch in den USA unter dem Eindruck des zunehmenden Konkurrenzkampfes in der Wirtschaft zur Ausbildung eines mediengerechten künstlerischen Plakates führte. Entscheidende Impulse dazu gingen auch von den Gestaltern aus, die sich bald zu Spezialisten ihres Faches entwickelten.

Im Fall von Jules Cheret, mit dessen Namen die Entstehung des künstlerischen Plakates ja untrennbar verbunden ist, erwies es sich als günstig, daß sich in seiner Person gleichsam mehrere Disziplinen vereinigten, die an Gestaltung und technischer Multiplikation des Plakates notwendig beteiligt sind. Als gelernter Lithograph, der in der Folge geradezu revolutionäre Neuerungen in Entwurf und Druck von Plakaten einführen sollte, wurde er, in künstlerischer Hinsicht Autodidakt, an der Gestaltung von Verpackungen und der graphischen Geschäftsausstattung eines Pariser Parfümfabrikanten beteiligt und den sechziger Jahren für längere Zeit nach England geschickt, um neben anderem die dort praktizierten drucktechnischen Verfahren und das Reklamewesen kennenzulernen. Als junger Mann hatte er bereits selbst Entwurfsarbeiten für Pariser Theater geleistet, darunter einige kleinformatige Affichen, die übrigens heute zu den Kostbarkeiten jeder Sammlung gehören.

Mit seinen in England gesammelten Erfahrungen verlieh Cheret nach der Rückkehr in sein Heimatland und nach der Gründung einer eigenen Druckerei in Paris dem Plakat entscheidende Impulse zu einer Entwicklung als im Dienst der Reklame stehendes künstlerisch gestaltetes Medium. So schreibt er: Für die Vervielfältigung halte ich mich an die lithographische Methode und zeichne stets direkt auf den Stein.... Soll das Bild seinen Zweck erfüllen, so muß der Künstler dem darzustellenden Gegenstand besondere Beachtung schenken, und hier eröffnet sich einem Manne mit Phantasie ein weites Feld der Betätigung.... Eine einzelne Figur ist am wirkungsvollsten. Der Plakatkünstler muß ein Psychologe sein, eine tüchtige Schule durchgemacht und sich mit den logischen und optischen Gesetzen seiner Kunst wohl vertraut gemacht haben. Er muß etwas erfinden, das selbst den Durchschnittsmenschen anhält und anregt, wenn er vom Pflaster oder vom Wagen aus das Bild der Straße an seinen Augen vorbeieilen läßt; und dazu, glaube ich, ist nichts so sehr geeignet, wie ein einfaches, liebliches und doch packendes Bild in lebhaften und doch harmonischen Farben.«(8)

Cherets Auftraggeber waren vor allem das Theater und die zahlreichen Pariser Vergnügungsstätten, daneben auch Handelsunternehmen, die ihre Konsumartikel durch ihn anpreisen ließen. Er fand bald Nachahmer, die sich seiner Stilmittel zu bedienen suchten. In Paris wurde das Plakat zu einem eigenen künstlerischen Genre, das zum Ende der achtziger und vor allem in den neunziger Jahren viele Gestalter anlockte und die Straßen der Stadt belebte. Mit Cheret, Toulouse-Lautrec, Grasset, Mucha, Steinlen und anderen begann die große Zeit des französischen Plakates, das in Europa beispielgebend wurde. Seine Ausstrahlungen reichten bis in die USA. Die schönen amerikanischen Plakate für Zeitschriften- und Buchverlage von Lonis Rhead, Edward Penfield, William Bradley u.a. waren der Art Nouveau aufs engste verbunden und verrieten nur zu deutlich ihre europäische, besonders französische Provenienz. Sonst war das amerikanische Plakatschaffen viel mehr der Reklamepraxis verbunden, »geschäftstüchtiger«, auf Riesenformate dimensioniert. Die Entwürfe bestanden häufig aus sehr vielen, bis zu achtzehn Teilen und benötigten zusammengesetzt z. B. für die Ankündigung von Theateraufführungen oder Artistenauftritten ganze Giebelwände zum Anschlag. Damit deutet sich bereits in der Frühzeit das künftige amerikanische Reklamewesen an, dessen Auswirkungen sich nach dem Ersten Weltkrieg bis nach Europa erstrecken werden.

Die Ausgangsposition für das künstlerische Plakat war in Deutschland nicht günstig. Das Vorurteil gegenüber angewandter Kunst und der Standesdünkel der akademischen Maler waren noch stärker ausgeprägt als anderswo. Dazu ein zeitgenössisches Urteil Walter von Zur Westens: »Noch immer begegnet alle angewandte Graphik, allein das Exlibris und die Bildpostkarte ausgenommen, in Deutschland einer Mißachtung, die so unberechtigt wie möglich ist. Noch immer können selbst hochgebildete Leute in unserem Vaterland sich nicht mit dem Gedanken vertraut machen, daß ein Plakat ein Kunstwerk sein kann und daß es bisweilen ein bedeutenderes ist als ein viele Quadratmeter großes Gemälde auf der Wand irgendeines öffentlichen Gebäudes, in dem Ehrensaal irgendeiner Ausstellung.«(9) Lediglich zu repräsentativen Anlässen, besonders zu den großen nationalen und internationalen Kunstausstellungen unter dem Protektorat hochgestellter, möglichst aus regierenden Häusern stammender Persönlichkeiten ließen sie sich zur Gestaltung großformatiger und in der Regel vorzüglich– anfangs noch mehrfach in England–gedruckter Entwürfe herbei. Dem Selbstverständnis der in Deutschland herrschenden Kreise entsprechend, in engem Kontext zur offiziell anerkannten Kunst verrieten diese großen mit Dekor überladenen Blätter einen ausgesprochenen Eklektizismus. Überladen mit Attributen, Insignien und Anspielungen auf ornamentalen Schmuck vornehmlich im Stil der Gotik und der Renaissance, an »mittelalterliche Herrlichkeit« anknüpfend, verbanden sich mit ihnen gleichsam von der Vergangenheit abgeleitete imperiale Ansprüche des im Aufschwung befindlichen Deutschen Kaiserreiches, eine politische Anspruchs– und Erwartungshaltung, die als solche nicht mißzuverstehen war. Solche ambitionierten Plakate waren an repräsentative Anlässe, an staatliches Prestige gebunden. Zur Reklame für Handelsobjekte waren sie nicht geeignet, wenn es in Einzelfällen auch versucht wurde. Jean–Louis Sponsel, Verfasser der 1897 erschienenen ersten deutschen Darstellung des internationalen Plakatschaffens, weist ausdrücklich darauf hin, daß es hierzulande im Unterschied zu Frankreich, England, den USA weniger üblich sei, Straßenreklame zu betreiben, allenfalls für Ausstellungen, Zirkus – und Variete–Veranstaltungen.(10) Eine größere Rolle spielten dagegen die Innenplakate, z. B. für Verlagsankündigungen. Diese trugen, wie die Blätter für »Jugend«, »Simplicissimus« u.a. zeigen, viel zur Entwicklung des künstlerischen Plakates auch in Deutschland bei.

Das Druckereiwesen hatte hier unterdessen einen hohen Standard erlangt. Die Chromolithographie ermöglichte höchste handwerkliche Qualität. Gerade aber das verbaute wohl eher den Weg zum künstlerischen Plakat, als daß es ihn förderte. Die Lithographen und Drucker sahen den Maßstab ihrer Leistung vor allem in der Verwendung einer Vielzahl von Farben und im akribisch umgesetzten Detailreichtum ihrer bildlichen Darstellungen. Das moderne Plakat hingegen forderte die Begrenzung der Farben, die, möglichst breitflächig gedruckt, zu visuell auffälligen Wirkungen an den Säulen und Wänden der Städte führen sollten. Dazu gehörte auch die Konzentration auf ein bestimmendes Motiv, das auf alle unnötigen Einzelheiten, die optisch nur verwirren konnten, verzichtete. Die an der Tafelmalerei orientierten Chromodrucke hingegen ließen eine solche Wirkung vermissen, mochten sie auch noch so meisterhaft gedruckt sein.

Als junge deutsche Künstler das moderne künstlerische Plakat während ihres Studiums in Paris kennenlernten, waren sie von dem neuen Medium begeistert. Ihre dort erworbenen Erfahrungen und Kenntnisse suchten sie in Deutschland zu nutzen. Die Berliner Druckerei Hollerbaum & Schmidt, anfangs zu den bedeutenderen Lieferanten von Chromolithographien gehörend, wurde in der Stadt zum bedeutendsten Protagonisten des modernen Plakates. Sie sammelte unter dem Einfluß des Reklamefachmanns Ernst Growald eine junge Künstlerschar um sich, die bereit war, daran mitzuarbeiten. Die Druckerei mußte in recht harter Auseinandersetzung mit ihren eigenen Lithographen und Druckern, die am Alten hingen und handwerkliche Qualität zu ihrem Maßstab machten, das Neue durchsetzen. Man ließ »französische Plakatvorbilder zur Übung lithographieren und drucken und machte durch vergleichsweise Gegenüberstellung einer französischen und einer deutschen Lithographie den Unterschied schließlich auch dem ältesten Lithographen klar.«(11)

Der zunehmende Konkurrenzkampf der Anbieter, vor allem in der Veranstaltungs– und Unterhaltungsbranche, im Bereich des Gaststättenwesens, dann des Handels mit Konsumartikeln, der Zeitungs– und Zeitschriftenverlage, schließlich des Tourismus und der gehobenen Luxusartikel–Angebote, das ausländische

Beispiel und nicht zuletzt die Reformbewegung des Jugendstils wirkten letztlich zusammen, das künstlerische Plakat auch in Deutschland aus der Taufe zu heben. Immer wieder aber hatte Ernst Growald, ein führender Berliner Reklamefachmann und Mitarbeiter, später Teilhaber der Druckerei Hollerbaum & Schmidt, auf die elementaren Voraussetzungen hinzuweisen, ohne deren Beachtung das Plakat keine Chance für eine wirksame Tätigkeit gehabt hätte. Sein Grundsatz: »Das Plakat ist keine Sache für sich, sondern nur Mittel zum Zweck.«(12)

Auftraggeber und Gestalter mußten begreifen, daß Plakate ihre funktionellen und stilistischen Besonderheiten gegenüber anderen künstlerischen Werken haben, nicht etwa bloße Bilder sind, die einfach mit einem passenden Text versehen werden. Auch ein pragmatischen Zwecken dienendes Plakat ist wie andere Kunstwerke ein kompositorisches Ganzes im Sinne von Heinrich Wölfflin: »Jedes Kunstwerk ist ein Geformtes, ein Organismus. Sein wesentliches Merkmal ist der Charakter der Notwendigkeit, daß nichts geändert oder verschoben werden könnte, sondern alles so sein muß, wie es ist.«(13) Plakate bedürfen einer der werblichen Aussage Gewicht verleihenden Idee. Diese wird in einer entsprechenden Bildfindung umgesetzt. Durch Konzentration auf das Wesentliche und dessen Hervorhebung wird die angestrebte Aufmerksamkeit in der belebten Öffentlichkeit gleichsam »erzwungen«, wird der Blick der Passanten gebannt. Die Idee muß zündend, ihre Umsetzung schlagend, der Text knapp und treffend sein. Die Schrift muß voll und möglichst bruchlos in die Gesamtgestaltung integriert werden. Solche im Westen Europas damals bereits im Plakatschaffen wohlbekannten und praktizierten Gestaltungsgrundsätze fanden nun ab Mitte der neunziger Jahre auch in Deutschland Anwendung.

In München und zeitweise in Dresden, dann vor allem in Berlin bildeten sich Zentren des Plakatschaffens. Thomas Theodor Heine, Bruno Paul, Emil Preetorius, Ludwig Hohlwein in München, Hans Unger, Otto Fischer, Vincenz Cissarz in Dresden, in Berlin Hans Lindenstaedt, Edmund Edel, Jo Steiner und insbesondere die Stars um die Druckerei Hollerbaum & Schmidt Lucian Bernhard, Julius Klinger, Paul Scheurich, Ernst Deutsch, Hans Rudi Erdt, Julius Gipkens und andere bestimmten das Geschehen. Jeder verkörperte ein individuelles und sich von anderen erkennbar unterscheidendes Gestaltungsprogramm. Ungeachtet der künstlerischen Qualität ihrer Arbeiten und ihrer persönlichen Handschriften waren die Autoren bemüht, den praktischen Erfordernissen der Reklame gerecht zu werden und sich ihrem jeweiligen Auftrag unterzuordnen. Für die meisten galt wohl die Feststellung Otto Fischers für die deutsche Graphik: »Man kann die Bedeutung der Zeichnung für die germanische und ganz besonders für die deutsche Kunst nicht leicht überschätzen. Die Rolle, die sie im Schaffen unseres Volkes spielt, ist größer und wesentlicher als die Funktion, die das Zeichnerische in der Kunst anderer Kulturen und vor allem bei den übrigen Nationen des Abendlandes auszuüben scheint.«(14)

Das Berliner Plakat, seiner Spitzenstellung in Deutschland immer gewisser, erlebte nach 1900 bis zum Ersten Weltkrieg seine erste Blütezeit. Die Hauptstadt mit der Konzentration wichtiger Auftraggeber und ihrer kulturell aufgeschlossenen Atmosphäre zog Autoren aus dem ganzen Reich an. Das Plakat erlangte eine Variabilität im Gestalterischen und in seinen Themenbereichen, die ihresgleichen wohl nicht wieder gefunden hat. Seine Vielfältigkeit, sein weitestgehender Verzicht auf artifizielle Verstiegenheit, vor allem aber wohl seine enge Verbundenheit mit der Wirklichkeit machen seinen eigenartigen Reiz aus. Der nachträgliche Betrachter glaubt sich zuweilen ob der Lebensfrische dieser Arbeiten als deren Zeitgenosse in ihre Entstehungszeit zurückversetzt. Ob nun Runges Tinte, »Kinderball der Bösen Buben«, Flugwettbewerb in Johannisthal, »Berliner Morgenpost« oder »Gartenlaube«, Schlemmerlokal oder Hilfsaktion für hungernde Kinder, Boxkämpfe oder Herrenreiten, Suppenwürze oder Henckel Trocken, Kleingartenidylle oder Deutscher Flottenverein, Saharet im Wintergarten oder Egon Friedell im Linden Cabaret, »Revolutionsball«, Damenwahl in Clärchens Ballhaus oder Tanzredoute im Admiralspalast – alle diese und tausend andere Angebote beziehen sich auf eine einstige Wirklichkeit. Aus allen spricht abgelebtes Leben, in vielen Fällen Anlaß zu einem ästhetischen Vergnügen, in anderen für mitmenschliche Anteilnahme, vielleicht Erschütterung.

Das Plakat wird zum Chronisten seiner Zeit und Umwelt. Wie trug man das Haar um 1910, wie sah damals die moderne Küche aus, wie bekleidet war ein fescher Wintersportler? – die Plakate zeigen es uns. Welche Zeitung durfte sich rühmen, besonders von Bankiers, Gutsbesitzern und Offizieren geschätzt zu werden? – Plakate berichten es. Wohin machte der Berliner seine Sonntagsausflüge, wer konnte sie sich überhaupt leisten? – Plakate sagen es. Wo war etwas los in der Stadt, wo konnte man sich auf welche Weise amüsieren? – Plakate geben Auskunft. Was wurde im Apollo–Theater, was im Mozart–Saal geboten? – Plakate informieren und stellen die Lieblinge der Bühne und die Kinostars vor, Henny Porten, Asta Nielsen, Paul Wegener, Fritzi Massary, Claire Waldoff, Otto Reutter, die Conferenciers, die Tänzerinnen und Tänzer, die »Typen« des alltäglichen Lebens, in denen viele Menschen sich mit einem Schmunzeln wiedererkannten und damit für das angepriesene werbliche Angebot schon so ziemlich gewonnen waren. Auch das Lebensgefühl, die Spannungen, die soziale Differenziertheit in der Gesellschaft einer Zeit sprechen aus den Werbeplakaten. Da diese die Menschen anrühren sollen, müssen sie von diesen verstanden werden, muß, mit Luther zu sprechen, ihnen auf's Maul geschaut werden. Ob nun in den gängigen Redensarten, Schlagworten, ob im aktuellen Witz, in den gewählten Bildmotiven oder den visuellen Anmutungen – alles muß im Plakat gleichsam up to date sein. Als Kind des Tages–nicht lange soll das Plakat ja wirksam sein, am nächsten Tag warten schon andere auf seinen Platz an der Säule oder Wand – muß es das Gewand des Tages tragen. Botschaften, gestern vielleicht brisant und sensationell, haben heute ihren Wert für die Reklame verloren. Andere Botschaften sind jetzt am Zuge und schmettern ihr Kikeriki in die Stadt, um binnen kurzem ebenfalls zu verstummen und in den Schacht des Vergessenwerdens zu fallen, anderen wiederum Raum gebend. Und diesen schnellen Wandlungen muß das Plakat für eine kurze Dauer gewachsen sein. Daher wohl seine unbedingte Aktualität und der schnelle Verbrauch der Ideen und Formen sowie das notwendige Hervorbringen immer neuer Ideen, Bildkompositionen, neuen Witzes.

Dem Historiker wie dem Kunstfreund bietet das Plakat reiches Anschauungsmaterial. Es kann helfen zur geistigen Rekonstruktion vergangener Zeiten und vieler ihrer Details beizutragen. Nicht das einzelne Plakat natürlich, so »schön« und so »interessant« es auch sein mag, kann diese Aufgabe erkenntnisfördernd leisten. Nur im Vergleich und in der Summe vieler wird es zur historischen Erkenntnis der Vergangenheit beitragen. Welche visuellen Leitbilder bestimmten das Bild der Öffentlichkeit, mit welchen hatte die Reklame eine Chance, die von ihr angesteuerten Zielgruppen auch wirklich zu erreichen, welche waren neu in die visuelle Arena eingeführt? Plakate vermitteln in koordinierter Befragung mit anderen Quellen eine Anschauung davon. Sie reflektieren die konkreten ideellen und materiellen werblichen Angebote in ihrer Zeit und Umgebung und bezeugen damit eine bestimmte Wirklichkeit. Zugleich aber propagieren sie – und das ist in ihrer Zeit ihre eigentliche Aufgabe – das Wunschbild ihrer Auftraggeber. Die Betrachter sollen, zielgerichtet beeinflußt, zu bestimmten Handlungen veranlaßt werden. Die Verlockung durch die Reklame soll den Weg dazu bereiten. Die Betrachter werden im Gleichklang mit der Werbebotschaft in eine Scheinwelt verführt, die ihnen das Glück, das Wohlbefinden verheißt, das sich ihnen bislang vielleicht entzogen hat. Daraus erklärt sich auch der meist heitere und optimistische, der verklärende Grundton der im Dienste des Handels, der Unterhaltungsbranche, des Tourismus stehenden Plakate, ihre unbeschwerte Art, mit der sie ihre Angebote präsentieren. Und da hat eine vergleichende Quellenkritik anzusetzen, um das Plakat als historisch relevantes Dokument zu sehen und zu nutzen, ungeachtet seines ästhetischen Reizes. So sind bestimmte im Plakat vorgenommene soziale Typisierungen nur aus ihrer Zeit heraus zu deuten. Sie geben über das geistige und politische Klima ihrer Zeit einen gewissen Aufschluß. In einfachen Werbeplakaten vor 1914 wurden z. B. »der« Offizier, »der« Großagrarier, »der« Bankier als charakteristische Exponenten ihrer Klasse in konstant wiederkehrender bildlicher Umschreibung typisierend dargestellt, für jedermann unmittelbar ablesbar und verständlich. Meist überwog dabei ein kritischer Touch.

Satire wurde groß geschrieben, z. B. von Autoren wie Thomas Theodor Heine, Bruno Paul, Julius Klinger und Paul Scheurich verulkten den Snob, den als leicht dekadent oder als überzogen »schneidig« apostrophierten Leutnant. Es waren indessen in der Regel keine sich abgrundtief feindlich gegenüberstehenden Fronten, die in den Plakaten zum Ausdruck kamen, es war eher wohl so etwas wie eine »harmlose Kunstrebellion«, also keine »grundsätzliche Stilwende«.(15) Der Spießer, der Oberlehrer, der zerstreute Professor– sprichwörtliche Erscheinungen–, der »letzte Tempelhofer« als Urbild des preußischen Musketiers, der Herrenfahrer am Volant, der keck mit schief sitzendem Zylinder und lässig im Auge gehaltenen Monokel, morgens, wenn andere schon zur Frühschicht unterwegs sein müssen, nach Hause bummelnde Nachtschwärmer, das dralle Dienstmädchen »vom Lande«, an einem Arm den Einkaufskorb, am anderen den Kavalier – die Plakate strotzen von solchen Figuren und bieten uns und wohl auch ihrer eigenen Zeit (!) das Bild einer vermeintlich heilen Welt. Auf der anderen Seite aber stehen ihnen Arbeiten gegenüber mit der Darstellung verhärmter Arbeiterfrauen, gegen Not und Ausbeutung revoltierender Menschen, vom Alkoholismus zermürbter Gesichter, von Wärmehallen, Speiseküchen und anderen sozialen Einrichtungen, die die ärgsten Leiden sozial Deklassierter lindern helfen sollten.

Eine weitergehende Analyse der Plakate zeigt über ihre bildlich umgesetzten Angebote hinaus vielfach auch deren soziale Provenienzen und Bedingtheiten. Eine Werbung z. B. des sozialdemokratischen »Vorwärts« unterscheidet sich bereits in der Wahl des bildlichen Motivs von einer Werbung für die »Gartenlaube«, »Die Post« oder »Die Woche«. Die Ansprechpartner, die jeweiligen Zielgruppen unterscheiden sich voneinander, und das kommt in der Wahl der zur Darstellung benutzen »Typen« deutlich zum Ausdruck – die kraftvolle Arbeiterfigur, das zart–sentimentale Mädchen, das mokant wirkende Herrenporträt, der konservative Bildungsbürger. Ähnliches trifft auf viele andere Fälle ebenfalls zu, allerdings wohl nicht immer so vordergründig und leicht erkennbar wie in dem genannten Beispiel.

Nach dem Ersten Weltkrieg und mit der Revolution wandelte sich das Bild. Die Plakate veranschaulichen das. Streik, Revolution, Kampf, Nieder mit..., Feinde, Klassenkampf, Ausbeutung, Freiheit, Sozialismus u.a. werden zu beherrschenden Parolen auf den Plakaten. Keine liebenswürdigen oder heiter–ironischen Anspielungen mehr, kein geistreicher Witz, sondern Aggressivität, scharfe Auseinandersetzung werden großgeschrieben. Die Plakate sprechen die aktuelle Sprache ihrer Zeit. Die Reklame wie die ihr verwandte Agitation werden zu beredten Zeugen ihrer Zeit, zu Dokumenten, die nicht verjähren, selbst wenn ihre Botschaften heute keine Ansprechpartner mehr finden. Bald aber erscheint neben den politischen Losungen auch wieder die Fülle gewerblicher Angebote, Luxus, Wohlleben, kulturellen Genuß verheißend, ein schier unbegrenzter Markt der Möglichkeiten und der Eitelkeiten. Und dennoch, wie unterschiedlich stellte sich das äußere Bild dieser Plakate im Vergleich zu denen der Zeit vor 1914 dar. Sie sind unterdessen durch die Schule expressiver Ausdruckskunst gegangen. »Brücke«–Künstler, Oskar Kokoschka mit seinen Blättern für Herwarth Waldens »Sturm« und für die Wiener Kunstschauen, Henri van de Veldes und Wassili Kandinskys das abstrakte Plakat vorbereitenden Entwürfe, Kubismus, Einwirkungen des russischen Konstruktivismus, Anregungen Cassandres und McKnight Kauffers, vor allem aber das Bauhaus Weimar/Dessau wirkten sich auf das weitere Plakatschaffen aus. In manchen Fällen wurde die Grenze zur freien Kunst erreicht, wenn nicht überschritten. In anderen kam es zu völlig neuen Gestaltungsmethoden, in ihrer Anwendung nicht weniger zäsurbildend als seinerzeit am Anfang der Jugendstil. Fotographie, Montage, Typographie, eine überaus verfeinerte und extensiv genutzte Schriftkultur eröffneten neuartige künstlerisch–gestalterische Ausdrucksmöglichkeiten. Sie geben einen Eindruck von konstruktiver Sachlichkeit und entsprechen den modernen Bedingungen in der Gesellschaft, der Technik sowie der sich schnell entwickelnden Kommunikation.

Es ist das als modern empfundene Leben, das sich in den Kommunikationsmedien, besonders nachdrücklich in der Reklame, im Plakat Ausdruck verschafft. Das Bauhaus spielt dabei zweifellos so etwas wie eine avantgardistische Rolle, dem Wort von Walter Gropius folgend: »Das Ziel des Bauhauses ist aber kein 'Stil', kein System, Dogma oder Kanon, kein Rezept und keine Mode! Es wird lebendig sein, solange es nicht an der Form hängt, sondern hinter der wandelbaren Form das Fluidum des Lebens selbst sucht.«(16) Allerdings war nicht auszuschließen, daß mit dem meist sehr sachlich angelegten konstruktiven Plakat, dessen Gestaltungsprinzip »die harmonische, spannungsgeladene Gliederung aller Flächen und Räume« ist, zwischen dessen einzelnen Teilen »lineare und proportionale Zusammenhänge« bestehen,(17) wobei jeder Teil ins Ganze integriert ist, eine gewisse emotionale Verarmung verbunden ist. Wer indessen koordinierte, sich gegenseitig bedingende und im visuellen Gleichgewicht haltende Formen im Rahmen einer umfassenden Gesamtkomposition liebt, wer den konstruktiven Aufbau eines Kunstwerkes nachzuempfinden, dessen rationalen Kern aufzuspüren vermag und darin einen geistigen Genuß verspürt, wird diese Entwürfe zu schätzen wissen. »Jeder geistige Genuß aber führt wenigstens etwas Arbeit mit sich«(18) – in der Tat, die Entwürfe setzen dem Worte Jacob Burckhardts entsprechend ein bestimmtes Verständnis seitens des Betrachters voraus. Der seinerzeit zu den führenden Gebrauchsgraphikern zählende Holländer Paul Schuitema meinte sogar: »Der Entwerfer ist kein Zeichner, sondern Organisator der optischen und technischen Faktoren. Seine Arbeit soll nicht handarbeitlich sein, sondern soll sich beschränken auf notieren, gruppieren und technisch organisieren.«(19) Fotographie und Typographie hielt er für die wichtigsten Gestaltungsmittel. Vom »Geheimnis« des kreativen Prozesses in der Kunst, von ihren Gefühlswerten ist keine Rede mehr, der Gebrauchsgraphiker, hier ist wohl schon der modernere Begriff des Designers angebracht, wird danach zu einem Konstrukteur der Formen.

Andre Malraux postuliert dagegen: »Alle Kunst, welche die Massen anspricht, bringt irgendein Gefühl zum Ausdruck–Rührung, Trauer oder Fröhlichkeit, Patriotismus, Angst, Liebe.«(20) Das Plakat soll nun von seiner Aufgabe her ein Kunstwerk sein, welches »die Massen anspricht«. Und als ein solches bewies es sich in der überwiegenden Zahl seines Aufkommens auch in den zwanziger Jahren. Das schloß allerdings nicht aus, daß es Fotographie, Fotomontage und Typographie als neue Mittel nutzte, ohne ihnen zu verfallen. Besonders das politische Plakat war bewußt auf die Erregung von Emotionalität ausgerichtet. Es nutzte dann die Fotomontage, vor allem aber dynamische, expressive zeichnerische Umsetzungen, verbunden oft mit einer bewegten und nicht uniformen handgezeichneten Schrift, deren kompositionell nicht immer glücklich integrierter individueller Duktus als Ausdruck engagierter persönlicher Anteilnahme des Gestalters gewertet werden sollte. Und das war für den Überzeugungswert des politischen Plakates, das den Betrachter zum Engagement mobilisieren sollte, besonders wichtig. Wer sich selbst für eine Sache oder Idee engagiert, kann auch andere dazu bewegen – dieser Gedanke liegt dem politischen Plakat zugrunde. Die Parteien, die das nicht beachteten und ihre Plakate wie andere Drucksachen entwerfen ließen, hatten das Nachsehen. Andere, hier seien nur die Namen von John Heartfield und Mjölnir (Hanns Schweitzer) genannt, erzielten nachweislich bedeutende Wirkungen auf die Betrachter ihrer Arbeiten. Ohne den Weg des Plakates weiter zur Gegenwart hin zu verfolgen, sei die Frage nach dem Plakat zwischen Kunst und Reklame noch einmal gestellt. Eine Antwort fand der deutsche Gebrauchsgraphiker Otto Arpke, wenn er sagte: »Ein Plakat erhebt weniger Anspruch auf Kunstwert als auf Zweck. Erkennt man seinen Wert durch den Zweck, so kann es ein Kunstwerk sein.«(21) Betrachtet man unter diesem Blickwinkel die Entwicklung des Plakates von seinen Anfängen her bis in die beginnenden dreißiger Jahre hinein, wird deutlich, daß es in seinen bedeutenden Leistungen in der Regel tatsächlich mit einem von der Reklame gebotenen Auftrag aufs engste verbunden ist. Allerdings begannen sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg erste Anzeichen für sich auch auf das Plakat auswirkende artifizielle Tendenzen anzukündigen. Das führte später sogar dazu, Formen, Format, Methoden des Plakates in der freien Kunst zu nutzen und es seiner eigentlichen kommunikativen Funktion damit zu entkleiden. So wurden z. B. Plakate der sogenannten Pariser Schule, also solche von Picasso, Matisse, Braque, Dufy u.a. von vornherein als Werke freier Kunst konzipiert und vom Kunsthandel als solche abgesetzt.(22)

In einen solchen Zusammenhang gehört auch die sog. Posterwelle, die »Plakatmanie«(23) der sechziger Jahre. Die damals entstandenen Blätter waren auf ihre Zielgruppen, meist junge alternativ orientierte Menschen ausgerichtet und bezogen sich auf deren Ideale und Idole, brachten ihr Lebensverständnis zum Ausdruck, politischen Protest, Solidarität mit anderen, die sie als verfolgt betrachteten. Der Funktionsbereich dieser Arbeiten ist weniger die Straße als der begrenzte Raum von Veranstaltungen, Happenings, Festen der alternativen Szene und dergleichen. Wie einst im Jugendstil, mit dem sie sich zumindest anfangs verwandt fühlte, nimmt in der Pop–Kultur das Plakat besonders schnell und experimentierfreudig neuartige, im krassen Widerspruch zum bisherigen Trend stehende künstlerische Tendenzen auf, führt sie fort, entwickelt sie weiter und übt in den Kreisen, denen es zugehörig ist, eine starke stimulative Wirkung aus. Trotz ihrer bewußten Beschränkung auf einen, allerdings weitläufig begrenzten Interessentenkreis und ihrer Besonderheit, vor allem gleichsam so etwas wie Ausstattungselemente bestimmter Veranstaltungen zu sein, haben diese Plakate auf einer speziellen Bandbreite der visuellen Kommunikation eine echte Funktion.

Das Plakat – nur ein Chamäleon unter den Kunstmedien? Stete Wandlung, stete Anpassung an sich verändernde Umstände, stete Aufnahme auch neuer Anregungen, Ideen, thematischer Vorwürfe gehören zu seinem von seiner Funktion bestimmten Wesen, sind Gebote, denen es in seinem Wirken unterliegt. Stets treu geblieben ist es seinem Auftrag, Blick und Interesse der Menschen allerorten zu bannen, um sie für seine Botschaft zu gewinnen. Damit haben die deutschen Gebrauchsgraphiker das Plakat seit dem Jugendstil bis in die dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts in den Rang eines spezifischen, der gesellschaftlichen Praxis eng verbundenen Kunstwerkes erhoben. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte unter veränderten Umständen, unter dem Einsatz neuer technischer Mittel und mit unterschiedlichen Zielen in den beiden deutschen Staaten an dieses ihnen gemeinsame Erbe angeknüpft werden.

Hellmut Rademacher