Der Gedanke ist schön, aber historisch nicht haltbar. Walther Rathenaus Tod ist nicht zur nationalen Legende geworden, die den kalten Bürgerkrieg der Deutschen durch die Erschütterung bei Freund und Feind beendete. Zehn Jahre danach verschüttete die Explosion der Gewalt in Deutschland fast alles Gedenken an Leben und Tod Rathenaus. Für die Deutschen nach 1945, Schuldige oder Entronnene einer Weltkatastrophe, war es zu spät, um aus dem Fall Rathenau so etwas wie eine lebendige Martyriologie der Republik zu machen, etwa so, wie die amerikanische Demokratie aus dem Andenken an Abraham Lincoln, J. F. Kennedy und Martin Luther King Kraft zu schöpfen vermag. Populär hat Rathenau also nicht werden können. Was von Rathenau im öffentlichen Bewußtsein blieb, trägt immer noch einen Rest vom Schleier des Geheimnisvollen. Vielleicht rührt die Entrückung Rathenaus auch daher, daß die materiellen Spuren seines Lebens bisher so zerstreut und verborgen gewesen sind. Wenn unsere Ausstellung jetzt eine Rekonstruktion von Rathenaus Welt versucht, dann tut sie es im Bewußtsein der Unerfüllbarkeit aller Wünsche nach Vollständigkeit. Darüber sollte man nicht zu traurig sein. Ein Versuch über Walther Rathenau tut auch gut daran, ihm sein Geheimnis zu lassen. Der Begriff ist hier mit vollem Ernst gewählt und soll andeuten, daß Rathenau in die Reihe der großen Widersprüchlichen in der jüngeren deutschen Geschichte gehört. Wie bei Heine, Nietzsche und Bismarck ergeben Charakter, Leben und Werk keine runde Summe, und der Common sense der Nachgeborenen tut sich schwer mit den extremen Pendelschlägen eines in extremis geführten geistigen Lebens. Daß Rathenau als einer der Schutzpatrone des heutigen deutschen Liberalismus beansprucht wird, ist jedenfalls nur eine von vielen Auslegungsmöglichkeiten. Wir behelfen uns damit, ihn eine Symbolfigur der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert zu nennen. Er steht an der Trennschwelle von alter und neuer Zeit, Diener der Monarchie wie Geburtshelfer der Demokratie. Rathenau hat wie vielleicht kein anderer dazu beigetragen, der zutiefst gefährdeten Weimarer Republik jenes internationale Ansehen zu verschaffen, das sie zum Überstehen der Republikfeindschaft von innen brauchte. In den wenigen Monaten seiner Amtszeit als Wiederaufbau- und Außeminister (1921/22) hat er es, vor allem in zahllosen Begegnungen mit Politikern der Siegermächte, erreicht, daß Deutschland wieder als gleichberechtigter Gesprächspartner akzeptiert wurde. Am Rande der großen Reparationskonferenz von Genua im April 1922 schloß Rathenau den Vertrag von Rapallo mit der jungen Sowjetunion - damals als sensationell empfunden und bis heute in seiner Bedeutung umstritten.