Aber nicht die friedliche Evolution der Industriegesellschaft brachte die Probe aufs Exempel von Rathenaus Theorie, sondern der Kriegsausbruch 1914. Am 10. August übernahm Rathenau die Leitung einer Abteilung zur Rohstoffbewirtschaftung im preußischen Kriegsministerium, die auf seinen Vorschlag hin eingerichtet worden war. Diese Abteilung hatte die Kontrolle über die Beschaffung und Verteilung der in der Rüstungsproduktion verarbeiteten Rohstoffe. Die Beschaffung und Verteilung selbst übernahmen Kriegsrohstoffgesellschaften, die als Aktiengesellschaften nach privatwirtschaftlichem Modell aufgebaut waren, aber unter staatlicher Überwachung standen. Mit dieser Organisation hat Walther Rathenau nicht nur, wie er wiederholt stolz bekannte, erst ermöglicht, daß das deutsche Heer nicht bereits nach wenigen Monaten wegen Waffen- und Munitionsmangels kapitulieren mußte; er hat sie auch als Ausgangspunkt zur Weiterentwicklung seiner Wirtschaftstheorie benutzt, mit deren Fortschreibung er nach dem Rücktritt von der Leitung der Kriegsrohstoffabteilung Ende März 1915 begann. Was hat Walther Rathenau, der dem Krieg von Anfang an mit großer Skepsis gegenüberstand, der seine Unterschrift unter keine der so zahlreichen nationalistischen und chauvinistischen Aufrufe der Vertreter der deutschen Industrie und des Bildungsbürgertums setzte, bewogen, so aktiv auf der Seite des Militärs am Krieg teilzunehmen? Es war mit großer Wahrscheinlichkeit die Tatsache, daß er, wie er selbst einmal formulierte, »ein Deutscher jüdischen Stammes" war, der die Erfahrung machen mußte, »als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten« zu sein, eine Erfahrung, die ihn den Krieg als Gelegenheit ergreifen ließ, seinen von antisemitischer Seite angezweifelten Patriotismus unter Beweis zu stellen. Dieser Beweis, so die Hoffnung, die Rathenau mit vielen deutschen Juden teilte, würde endlich auch die tatsächliche Gleichberechtigung erbringen, eine Hoffnung, die bitter enttäuscht wurde. Der Antisemitismus fand noch während des Krieges immer größeren Zulauf und gipfelte schließlich in der weitverbreiteten Behauptung, die deutschen Juden hätten Schuld an der Niederlage des Weltkriegs. Es waren genau diese Wahnvorstellungen, die schließlich auch in den Köpfen von Rathenaus Mördern spukten.