Wahlter
Rathenau,
um 1906
Walther Rathenau hat sich ein Leben lang mit seiner jüdischen Identität auseinandergesetzt. Spektakulärer Auftakt war die Veröffentlichung des Aufsatzes Höre, Israel! in Maximilian Hardens Wochenzeitschrift Die Zukunft im Jahre 1897, in der, als Reaktion auf den zunehmenden Antisemitismus dieser Jahre, ein Jude anderen Juden die Anpassung an das Ideal der preußisch-deutschen Lebensform empfahl. Neben dieser Selbstkritik steht jedoch von Anfang an auch die Kritik am preußischen Staat. In späteren Stellungnahmen zu diesem Thema kam Rathenau nicht mehr auf den innerjüdischen Antisemitismus seiner frühen Jahre zurück. Im Zentrum steht jetzt die Kritik an der Ausschließung der Juden von führenden Positionen in Staat und Armee, wodurch sich der Staat selbst ein wichtiges Rekrutierungsreservoir für Führungskräfte verschloß. Walther Rathenau hat diese subtile Form der Diffamierung am eigenen Leib erfahren. Er konnte weder die Offizierslaufbahn einschlagen, die er sich in seiner Jugend erträumt hatte, noch wurde er nach seinem Rückzug aus dem Vorstand der Berliner Handels- Gesellschaft im Jahre 1907 mit einem politischen Amt betraut. Erst die Ausnahmesituation des Kriegs, der Revolution und der Republik zwang das Reich, dem hochbegabten Patrioten eine politische Chance zu geben. Photographie Walther RathenausDie Veröffentlichungen Walther Rathenaus zur Judenfrage sind, ebenso wie seine wirtschaftstheoretischen Veröffentlichungen, Teil eines schriftstellerischen Werks, das sich, wie hohe Auflagenzahlen bezeugen, größter Aufmerksamkeit des Publikums erfreute. Unter dem Stichwort »Mechanisierung der Welt« trug Rathenau eine scharfe Kritik an der Industrialisierung und ihren kulturellen und gesellschaftlichen Folgen vor. Er gehört damit zu einer breiten kulturkritischen Bewegung, die in den neunziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts einsetzte und die moderne Welt des deutschen Kaiserreichs so radikal ablehnte, daß ihre Vertreter gelegentlich bis zur Forderung nach Rückkehr zu vormodernen Lebensformen gingen. Der Widerspruch, der darin liegt, daß jemand an vorderster Stelle den Prozeß der Industrialisierung vorantreibt und ihn gleichzeitig einer radikalen Kritik unterwirft, ist nicht nur den Zeitgenossen, sondern auch Walther Rathenau nicht entgangen. Er hat versucht, ihn theoretisch zu bewältigen, indem er die Notwendigkeit der Industrialisierung anerkannte, zugleich aber nach den Kräften in ihr suchte, die geeignet sein würden, ihre negativen Begleiterscheinungen und Folgen zu beseitigen.