Rathenau argumentierte zunächst psychologisch, denn er führte »Mut und Furcht (als) die gegensätzlichen Urelmente der menschlichen Seelenstimmung« ein,- in einem zweiten Schritt jedoch brachte er diese beiden Urelemente, mit physiognomischen Eigentümlichkeiten in Verbindung, Nasenformen nämlich, und er zögerte nicht, zur Illustration Zeichnungen beizufügen. Schließlich schlug er, bei der ethnologischen Verortung des Mutmenschen, über die »Königstreue germanischer Völker«9 eine Brücke zu »Rassenhypothesen«: »Und so wäre man wieder bei jenem wunder- und geheimnisvollen Urvolk des Nordens angelangt, dessen blonde Häupter wir so gern mit aller Herrlichkeit des Menschentums krönen.«10
Es bedarf keiner großen Auslegungskunst, um hinter dem Gegensatz von Mutmensch und Furchtmensch, anthropologisch gewendet und in archaisierender Verfremdung, den Gegensatz zwischen dem preußischen Offizier mit seinem Ehrenkodex und dem auf Erwerb, Handel und Industrie orientierten Bürger zu finden. Zwar lassen die Sprache des ganzen Textes, der begeisterte Ton, in dem das Leben des Mutmenschen beschworen wird, und die Verachtung, mit der unermüdlich die Eigenschaften der Furchtmenschen in immer neuen Lasterkatalogen beschrieben werden, keinen Zweifel, wem Rathenaus Bewunderung gilt; die Tatsache jedoch, daß die Darstellung des Mutmenschen nur wenig Platz einnimmt und eher wie der Goldgrund wirkt, vor dem die Machenschaften des Zweckmenschen, die von der List bis zur Lüge, von der Feigheit bis zur Unterwürfigkeit reichen, wie mit breiten bunten Pinselstrichen ausführlich abgebildet werden, legt die Vermutung nahe, daß hier weniger ein Ideal erneuert als vielmehr ein langer Abschied genommen werden soll.
Diese Vermutung wird bestätigt, wenn Rathenau am Ende des Aufsatzes zwar noch einmal das Lob der Starken singt, deren Herrschaft von Adelsgefühl, Zucht und Tüchtigkeit bestimmt sei, diese Herrschaft aber der Vergangenheit zuweist, die unwiederbringlich verloren ist: »Alle Geschichte ist ein Kampf der Klugen gegen die Starken. Wo die Starken auftraten, da wurden sie Herrscher, und wo sie herrschten, da mußten sie langsam, unmerklich und unausbleiblich der Maulwurfsarbeit ihrer schwachen und klugen Hörigen erliegen. « 11 Diese Maulwurfsarbeit ist in Europa längst abgeschlossen. Die Gegenwart ist »das Goldene Zeitalter der Zweckmenschen«,12 denn spätestens »als der Demos die Legitimität, das Kapital den Feudalismus überwand, um die Wende des neunzehnten Jahrhunderts, das das bürgerliche heißen könnte, war der Sieg der Klugen über die Starken vollendet”.13

Fußnoten