Walther Rathenau hat einige Jahre später, in den ersten Kapiteln seines Buches Zur Kritik der Zeit, diesen ganzen Komplex einer Revision unterzogen. Ausgehend von einer eigenartigen Etymologie, nach der Geschichte sich nur dort ereigne, wo geschichtete Völker existieren, entwickelte er eine Theorie der Entstehung der modernen Welt. Als geschichtete Völker, bezeichnete er diejenigen »Gemeinwesen (... ), die von einer Oberschicht beherrscht, von einer stammverschiedenen Unterschicht getragen waren« .14 Diese Gemeinwesen waren das Ergebnis der Eroberung, bei der ein Stamm starker Mutmenschen über einen oder mehrere Stämme schwacher Furchtmenschen herrschte. Nach einiger Zeit trat eine langsame Vermischung der beiden Schichten ein, an deren Abschluß ein Gemenge stand, das weitgehend die Eigenschaften der bisherigen Unterschichten, die weitaus in der Überzahl waren, trug und trägt.

In Deutschland und insbesondere in Preußen hat dieser Prozeß, ebenso wie im übrigen Nord- und Mitteleuropa, während des Mittelalters stattgefunden: »Vom ganzen ostelbischen Deutschland wissen wir, daß es zu geschichtlich bekannten Zeiten durch Eroberung und Kolonisation als doppelschichtiges Volksgebilde entstand. Die Sieger waren Germanen, die Besiegten Slawen, das Ereignis geschah vom zwölften bis ins vierzehnte Jahrhundert«15 Im Zuge der Institutionalisierung der zunächst mit Gewalt gewonnenen und mit Gewalt behaupteten Macht der Eroberer mußten sich die größere Anpassungsfähigkeit der Unterschichten an neue Lebensbedingungen, aber auch »Arbeitstrieb, Fertigkeit und die ängstliche Voraussicht bedrückter Menschen« 16 als Vorteil gegenüber der Oberschicht erweisen. Der weitere Ausbau des Landes durch Rodung und die Zunahme immer neuer landwirtschaftlicher Anbauflächen kam den Unterschichten zugute, die im Laufe der Vermischung die germanische Oberschicht aufzehrten.

Dieser Prozeß der »Entgermanisierung« ging Hand in Hand mit dem der »Verdichtung«, das heißt einer immer schneller verlaufenden Volksvermehrung, die »sich in der sichtbaren Welt ihre Kompensation (schafft), die ich Mechanisierung nennen will, und die darauf hinzielt, einem übervölkerten Planeten die Möglichkeit der Subsistenz und Existenz ungeahnter Menschenschwärme abzugewinnen«.17 Dieser Prozeß der Mechanisierung mußte um so schneller verlaufen, als durch die Entgermanisierung »ein neues, für die Aufgaben der Mechanisierung seltsam geeignetes Menschenmaterial«18 geschaffen wurde. Diese Eignung ergab sich, so muß man hier ergänzen, aus der Tatsache, daß durch die Entgermanisierung eben jene Furchtmenschen zur Herrschaft kamen, deren auf die Zukunft gerichtete Klugheit besonders geeignet zur Ausbildung der rationalen Methoden war, die der wissenschaftlich angeleiteten Technik als der Grundlage der Mechanisierung entsprachen.

Die »germanischen Herren des Abendlandes waren unfähig, diesen Prozeß heraufzuführen«, und zwar aus jener Haltung der Unmittelbarkeit heraus, die Rathenau gerade so faszinierte: »Der Muthafte läßt sich die sinnliche und übersinnliche Gegenwart genügen, er respektiert die Dinge, liebt sie um ihrer selbst willen und benutzt keine Kreatur als Mittel. Die Mechanisierung aber ist auf Zweckhaftigkeit aufgebaut.» Zwar haben die germanischen Mutmenschen nichts von ihrer Faszination für Walther Rathenau eingebüßt; die Epoche ihrer Herrschaft jedoch gehört unwiederbringlich der Vergangenheit an, da ohne die Mechanisierung die heutige Welt zum Untergang verurteilt wäre: "Mechanisierung entspricht wirtschaftlicher Notwendigkeit: verzehnfachte Bevölkerung auf unveränderter Bodenfläche verlangt neue Wirtschaftsmethoden".20

Fußnoten