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Der Prozeß der Entgermanisierung war in Nordosteuropa, besonders in Preußen, noch
keineswegs abgeschlossen, und auf diesen Tatbestand hatte Rathenau
noch wenige Jahre zuvor große Hoffnungen gesetzt. Zwar sah
er mit Sorge, daß die "mittleren Stände, (...
) deren Geschäftigkeit und Vielstreben die wirtschaftlichen
Mächte nicht entbehren können, (... ) Anteil, wo nicht
Alleinbesitz der öffentlichen Macht" fordern, und er
glaubte absehen zu können, daß die Verdrängung
der Reste der alten, muthaften germanischen Oberschicht von den
Schalthebeln der Macht durch das zweckorientierte Bürgertum
nur noch eine Frage der Zeit sein würde, denn "die Gegenkräfte
der Tradition und der alten Gesinnung mischen sich zunichte und
schwinden dahin." 25
"Bevor aber dieser Zustand herrscht", so Rathenau in
einer prophetischen Wendung, "wird etwas anderes geschehen.
Es werden diejenigen Völker, in denen Gesinnung und Idealismus
sich am längsten erhält, die Erde unterjochen, und eine
letzte Aristokratie errichten, die Aristokratie der Nationen.
Zwar sind die Reste der germanischen Aristokratie allein nicht
in der Lage, eine solche Wendung herbeizuführen; es wird
vielmehr der Einsicht der Klugen, der berechnenden Zweckmenschen
bedürfen, die dann "die versprengten Nachkommen jener
Menschen sammeln und zu erhalten suchen " werden 26
Damit scheint, im Augenblick des Abschieds vom Ideal, dieses Ideal
in veränderter Gestalt erneuert. Zwar ist die Herrschaft
der germanischen Oberschicht unwiederbringlich zum Untergang verurteilt,
durch die Allianz mit dem aus den Unterschichten aufgestiegenen
Bürgertum jedoch, einer Art indirekten Nobilitierung einer
Elite von Zweckmenschen, entsteht eine Oberschicht germanischer
Nationen, die die Welt beherrscht.
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Bernhard Dernburg und Walther Rathe-
nau in London vor ihrer Abfahrt nach Süd-
afrika
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Walther Rathenau mußte allerdings im Laufe der Jahre die
Feststellung machen, daß die noch regierenden Reste der
alten Oberschicht zu dieser Allianz nicht bereit waren, und er
hat diese mangelnde Bereitschaft an sich selbst erfahren. Er hatte,
als er im Sommer 1907 aus dem Vorstand der Berliner Handels-Gesellschaft
ausschied, keineswegs einen neuen Posten in Handel oder Industrie
übernommen, sondern sich als Privatmann für die Übernahme
eines politischen Amtes zur Verfügung gehalten. Es scheint,
als sei er bereits im Vorjahr als Direktor der Kolonialabteilung
des Auswärtigen Amtes im Gespräch gewesen; der Reichskanzier
entschied sich jedoch für Bernhard Demburg, den Rathenau
dann auf zwei offiziellen Reisen in die deutschen Kolonien in
Afrika als halbamtlicher Berater begleitete.
Aber weder diese Beratung noch seine ebenfalls halbamtliche Tätigkeit
als Vermittler zwischen den Gebrüdern Mannesmann und der
französischen Union des Mines marocaines im Sommer
1910 noch seine beiden Denkschriften über ein Reichselektrizitätsmonopol
1911 und 1913, in denen er die Einrichtung eines Reichsindustrialamtes
empfahl, für dessen Leitung er sich ohne Zweifel als der
richtige Mann sah, brachten ihn weiter als in den Vorhof der politischen
Macht.
Fußnoten
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