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7. Wirkungen der deutschen Präsenz in China

Die deutsche Enklave an der Kiautschou-Bucht kann sicherlich nicht als Schmelztiegel für Chinesen und Deutsche bezeichnet werden. Die kulturelle Distanz blieb auch aufgrund des rechtlich ungleichen Aufeinandertreffens dominant. Dennoch war Tsingtau als Ort der deutschen Kolonialpolitik in China ein Fokus für Relativierungen fremder Positionen, die letztlich zur chinesischen Selbstvergewisserung und zu neuer nationaler Identität beitrugen. Der chinesischen Seite gelang es zum Beispiel, deutsche Rechtspositionen im Pacht- und Interessensgebiet im Laufe der Besatzungszeit aufzuweichen und mehr und mehr eigene Interessen durchzusetzen.
Auf beiden Seiten gab es Personen, die sich um Kenntnisse über und Verständnis für die jeweils andere Kultur bemühten, unabhängig von ihren Motiven und ihrem Eingebundensein in eigene gesellschaftliche Umfelder (siehe Beitrag Ursula Ballin, Vorurteile und Illusionen: Europäische Chinabilder und Fremdbilder in China). Ihr Wirken hat dazu beigetragen, daß die Beschäftigung mit dem jeweils anderen Kulturkreis auch über die deutsche Kolonialzeit hinaus intensiviert wurde. Man kann sie daher durchaus als individuelle Vermittler zwischen den Kulturen bezeichnen.
Auf chinesischer Seite ging das Interesse an Deutschland im wesentlichen von Personen aus, die Reformen forderten oder einleiteten. Meist entstanden sie unter dem Druck, Lösungen für die gesellschaftlichen Probleme des Landes finden zu müssen. Reformer wie Kang Youwei und Li Hongzhang beschäftigten sich intensiv mit Deutschland: Waffentechnik, Bildungswesen, Verwaltung, Wissenschaft und das politische System wurden auf ihre Anwendungsmöglichkeiten in China hinterfragt. In den Jahren nach dem »Boxer«-Krieg, in denen selbst das Kaiserhaus Reformen forcierte, gewann die in Verbänden organisierte konstitutionelle Reformbewegung an Einfluß (siehe Beitrag Xia Baige, Ein jahrtausendealtes System zerbricht: Chinas Reform- und Modernisierungsbemühungen und der Untergang des Kaiserreiches). Die deutsche konstitutionelle Monarchie galt ihr als ein Vorbild, weil es dem Deutschen Reich aus der Sicht der Qing-Dynastie und der Konstitutionalisten in kurzer Zeit gelungen war, sowohl europäische Großmacht zu werden als auch über den modernsten gesellschaftlichen Entwicklungsstand zu verfügen. Selbst der Entwurf für das nach der geplanten Verfassungseinführung vorgesehene Parlamentsgebäude in Peking ähnelte dem Reichstagsgebäude in Berlin. Er stammte von Curt Rothkegel, einem angesehenen deutschen Architekten in China, der in Tsingtau und anderen Städten Ostasiens gearbeitet hatte. Deutsche Vorbilder unterstützten auch den frühen Parlamentarisierungsprozeß, wie er in der Schaffung der Regional- und Stadtparlamente ab 1909 zum Ausdruck kam.
Sun Yatsen, erster (Provisorischer) Präsident der Republik China, der Tsingtau 1912 besucht hatte, holte später den deutschen Verwaltungsexperten Wilhelm Schrameier nach Kanton, damit er bei der Entwicklung chinesischer Städte seine Erfahrungen mit der Tsingtauer Landordnung einbringen konnte. Das im wesentlichen von ihm entwickelte Bodenbesteuerungssystem für Tsingtau fand später Eingang in die Gesetzgebung Taiwans.
Zur Wirkungsgeschichte gehört auch, daß die chinesische Seite die deutsche Infrastruktur in Shandong weiterentwickelte. In vielen Bereichen besteht Nutzungskontinuität bis heute. Die deutsche Baukultur in Qingdao wird seit 1985 gesetzlich geschützt. Ihre Pflege hat in den vergangenen Jahren zu einer »Tsingtauer Renaissance« geführt: Rote Ziegeldächer und kaisergelber Fassadenputz prägen das koloniale Antlitz der Stadt. Qingdaoer Künstler setzten sich in ihren Werken mit den historischen Bauten auseinander.
Auf deutscher Seite hat insbesondere der einstige Missionar Richard Wilhelm (1873-1930) über die Kolonialzeit hinaus gewirkt. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte er in Tsingtau Lehranstalten und Krankenhäuser eingerichtet und in chinesisch-deutschen Konflikten vor Ort zu vermitteln versucht. Er studierte die chinesische Kultur, übersetzte chinesische Klassiker ins Deutsche, unterstützte Deutschlandaufenthalte für Chinesen und gründete eine deutsch-chinesische Gesellschaft. Nach dem Ende der deutschen Kolonialzeit ging er zunächst als Professor an die Universität Peking und dann ab 1924 an die Frankfurter Universität. Mit der dortigen Gründung des China-Instituts gab er wichtige Anstöße für die Chinaforschung in Deutschland.
Chinesische Kunstsammlungen, etwa des Tsingtauer Seezolldirektors Ohlmer oder schon früher des deutschen Gesandten in Peking von Brandt sowie von Missionaren gesammelte Volkskunst und Alltagsgegenstände sind zu Grundstöcken der Sammlungen deutscher Völkerkunde-, Kunstgewerbe- und Kunstmuseen geworden und tragen dort wesentlich zum heutigen Verständnis der Kulturgeschichte Chinas bei.
Tsingtau hatte auch Eingang in die deutsche Literatur gefunden, sowohl im kolonialverherrlichenden Sinne als auch als Ort deutschen Heldentums; später sogar als Friedensutopie und als Ort des interkulturellen Dialoges (siehe Beitrag Liu Weijian, Vom »jungen Deutsch-China« zum »heiligen Boden des Verständnisses«: Tsingtau (Qingdao) im Spiegel der deutschen Literatur). Karl May, Paul Lindenberg, Bertolt Brecht und Alfred Döblin sind die bekanntesten unter den Schriftstellern, die sich mit Tsingtau auseinandergesetzt haben. Die weiteste Verbreitung fanden die Tagebuchaufzeichnungen von Gunther Plüschow über die deutsch-japanischen Kampfhandlungen in Tsingtau 1914. Sein Erlebnisbericht »Die Abenteuer des Fliegers von Tsingtau« erschien ab 1916 und erreichte in der Folgezeit eine Millionenleserschaft. Offenbar entsprach das literarisch verarbeitete »deutsche Heldentum« dem Bedürfnis der Menschen während des Ersten Weltkrieges und danach.


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