Vorwort
von Christoph Stölzl
Als sich das Deutsche
Reich in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg am Wettlauf der
Industriestaaten bei der Aufteilung der Erde beteiligte und deutsche
Politik über Europa hinaus wirkte, gab es den ehrgeizigen Plan,
in China eine Musterkolonie aufzubauen und eine deutsche Stadt am
Gelben Meer zu errichten: Tsingtau.
Den Kampf um einen »Platz an der Sonne« schienen die Deutschen gewonnen
zu haben, als sie im November 1897 die Bucht von Kiautschou in der
chinesischen Provinz Schantung militärisch besetzten und damit den
afrikanischen sowie pazifischen Kolonien eine asiatische hinzufügten.
Sieht man von der Insel Hongkong ab, die sich die Briten schon 1842
als Kolonie gesichert hatten, war es 1898 das Deutsche Reich, das
als erste der fremden Mächte in China dem Land ein Pachtgebiet mit
exterritorialer Hoheit abtrotzte. Allerdings hatten in den sechs
Jahrzehnten zuvor viele Staaten bereits ihre freihändlerischen Interessen
oft unter Gewaltanwendung durchgesetzt und so Teile Chinas dem internationalen
Handel zum eigenen Nutzen geöffnet.
Die halbkoloniale Abhängigkeit Chinas von den fremden Mächten beschleunigte
nicht nur das Ende der jahrhundertealten Monarchie, sondern erschütterte
das Selbstverständnis einer jahrtausendealten Kultur. Das einstige
Reich der Mitte geriet in eine Lage, die in scharfem Widerspruch
zum traditionellen Verständnis vom unangefochtenen »Universalstaat«
stand. Das Trauma belastete die chinesische Gesellschaft über viele
Jahrzehnte. In Deutschland geriet die chinesische Kolonialperiode
nach dem Ende des Ersten Weltkrieges mehr oder weniger in Vergessenheit.
Wenn sich das Deutsche Historische Museum einhundert Jahre nach
dem »ungleichen« chinesisch-deutschen Vertrag von 1898 mit Tsingtau
befaßt, dann möchte es Brücken für einen Dialog zwischen den Kulturen
bauen. Gerade in der heutigen Zeit der Globalisierung der Märkte
und der Internationalisierung des Lebens fördert die Erinnerung
an die gemeinsame, wenn auch ungleiche deutsch-chinesische Geschichte
die Chance für mehr Verständnis und Begegnung.
Das Deutsche Historische Museum versucht deutsche Geschichte in
ihren internationalen Zusammenhängen so darzustellen, daß nicht
nur eine einzige Sichtweise präsentiert wird. Die Tsingtau-Ausstellung
erzählt eine Geschichte vom Zusammenprall zweier Kulturen, dessen
emotionale Nachwirkungen in China bis heute zu spüren sind.
In der Tsingtau-Ausstellung erfahren die Besucher davon, wie die
Großmächte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - auch das
Deutsche Reich - bei der Durchsetzung ihrer Interessen in China
das Land gedemütigt haben. Sie erfahren von den Protesten und dem
Widerstand gegen die Fremden, die im Yihetuan- (»Boxer-«) Aufstand
des Jahres 1900/01 ihren Höhepunkt fanden. Sie erfahren vom Untergang
des chinesischen Kaiserreiches während der Zeit der Fremdherrschaft.
Der panoramatische Blick auf das chinesische Drama wird aber auch
abgelöst von der Nahaufnahme der kolonialen Musterstadt Tsingtau,
die »moderner« sein sollte als die Kommunen in Deutschland. Die
Darstellung des Lebens der Chinesen und Deutschen steht im Mittelpunkt
der Ausstellung. Das Ende der deutschen Kolonialgeschichte in China
wird ebenso dokumentiert wie lang dauernde Auswirkungen der deutschen
Präsenz. Die Besucher nehmen auch wahr, daß Qingdao heute eine moderne
Stadt ist, die von der Liberalisierung der chinesischen Wirtschaft
in starkem Maße profitiert.
Das Deutsche Historische Museum hat bei dieser Ausstellung von Anfang
an den Informations- und Gedankenaustausch mit den Historikern aus
Qingdao gesucht. So war es in den Gesprächen mit Museumskollegen,
Kulturpolitikern und Medienvertretern aus Qingdao möglich, gegenseitige
Vorstellungen kennenzulernen und diese bei den konzeptionellen Überlegungen
zu berücksichtigen. Für den gelungenen Dialog sei insbesondere dem
Direktor des Stadtmuseums von Qingdao, Herrn Yan Lijin, gedankt.
Ausstellungen sind darauf angewiesen, originale Objekte aus der
Geschichte zueinanderzubringen und unterscheiden sich darin ganz
wesentlich von einem wissenschaftlichen Buch zum Thema. Daher ist
das Deutsche Historische Museum den vielen Museen und Privatpersonen
in Deutschland, einigen Nachbarstaaten und auch China für die Bereitstellung
von Leihgaben sehr dankbar. Ein Großteil der Objekte ist bislang
noch nicht gezeigt worden, viele Stücke wurden darüber hinaus erst
für diese Ausstellung »entdeckt« und werden nun der Öffentlichkeit
erstmals in einem historischen Zusammenhang präsentiert. Die Objekte
ausfindig zu machen, auszuwählen und so zuzuordnen, daß Geschichte
»lebendig« werden konnte, war die Arbeit der Ausstellungskuratoren
Hans-Martin Hinz und Christoph Lind. Die Gestaltung der Ausstellung
lag in den erfahrenen Händen von Klaus-Jürgen Sembach.
Gedankt sei auch den Fachleuten der verschiedensten Disziplinen
außerhalb des Deutschen Historischen Museums, die mit Rat und Hinweisen
geholfen haben.
Am vorliegenden Buch zur Ausstellung haben Kenner der Geschichte,
Kunstgeschichte, Sinologie, Architektur, Geographie, Literatur und
des Museumswesens mitgewirkt. Die Fachbeiträge ergeben einen breit
gefächerten interdisziplinären Blick auf die deutsche Kolonialzeit
in China. Dem Ausstellungspublikum wird damit eine vertiefende Betrachtung
auf einen Teil der deutschen wie der chinesischen Geschichte geboten.
Wir alle, Bewohner einer kleiner werdenden Welt, können gar nicht
genug über einander wissen. Daß »Tsingtau« den gelassenen Dialog
miteinander beförderte, ist der Wunsch des Deutschen Historischen
Museums.
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