Der trauernde Hof

Der Tod des Prinzgemahls hatte eine unmittelbare und tiefgreifende Wirkung auf das Leben des Hofs: Die Königin war, wie man weiß, so von Gram geplagt, daß Politiker wie Höflinge gleichermaßen um ihre Gesundheit fürchteten und der gesamte Hof in Trauer fiel. Alle gesellschaftlichen Veranstaltungen wurden gestrichen, und Victoria selbst verzog sich in die Residenzen zu Balmoral und Osborne auf der Isle of Wight, die beide von Albert geschaffen worden waren. Diese Periode der Abgeschiedenheit dauerte bis etwa 1871, als die Königin anläßlich der Genesung ihres Sohnes, des Prince of Wales, von einer Typhuserkrankung ihren ersten größeren öffentlichen Auftritt seit Alberts Tod wagte. Das folgende Jahrzehnt brachte zwar nicht das Ende, aber doch eine gewisse Lockerung ihrer Zurückgezogenheit. Fast 20 Jahre lang hatte der Hof nur wenige soziale Verbindungen aufrechterhalten, und die Führung der adeligen Gesellschaft war in die Hände des Prince of Wales und seiner Frau Alexandra von Dänemark übergegangen. Victoria und Albert hatten beschlossen, daß die königliche Familie dem Adel, den sie als Klasse für leichtlebig und sittenlos hielten, ein Vorbild an Rechtschaffenheit und Tugend sein müsse; ihr ältester Sohn dagegen wurde bald zum Leitbild für den frivolsten Teils dieses Adels. Der Gegensatz zwischen Victorias Hof und demjenigen ihres Erben und seiner wunderschönen Frau war eines der herausragendsten Merkmale jener Jahre: der eine düster, schwarzgekleidet und (selbst während Victorias verfassungsgemäßer öffentlich-politischer Arbeit als Souverän) dem öffentlichen Blick gänzlich entzogen - der andere unbeschwert, aufsehenerregend und (selbst in jenen Dingen, die besser unter Verschluß geblieben wären wie etwa die Verwicklung des Prince of Wales in zahlreiche berüchtigte Skandale) stets im Brennpunkt des öffentlichen Interesses. Der Prince und die Princess of Wales vertraten die Königin bei den Empfängen und Gesellschaften, auf denen die Aristokratie dem Souverän ihre Ehrerbietung zu zeigen gewohnt war und durch die man Zugang zur obersten Schicht erlangte; ihre Bälle, Landpartien, Jagdgesellschaften, Diners und Theaterbesuche ersetzten diejenigen der Königin (und waren, um der Wahrheit die Ehre zu geben, weit glanzvoller als alle, die sie selbst in ihrer Jugend veranstaltet hatte).

Obschon das gesellschaftliche Leben des Hofes zum Erliegen kam, trat Victoria schon bald wieder in ihre politischen Pflichten ein, seit 1867 zum ersten Mal mit Hilfe eines Privatsekretärs. Sir Charles Grey und ab 1870 sein Nachfolger Sir Henry Ponsonby standen vor der schwierigen Aufgabe, die Königin zu beraten und ihre Anweisungen auszuführen, ohne frei ihre Meinung sagen zu dürfen: Anders als Albert waren sie stets Untertanen und Diener Ihrer Majestät und hatten auf ihre Vorurteile und Vorlieben Rücksicht zu nehmen.