Erst in jüngerer Zeit konnten Kulturwissenschaftler verschiedener Disziplinen den Phänotyp der wilhelminischen Monarchie zu ihrem Forschungsgegenstand machen, ohne in den Geruch eines politisch motivierten Revisionismus zu gelangen.Anders stellt sich die Situation in Großbritannien dar: Obgleich das Land ebensostark wie Deutschland in zwei Weltkriegen litt, obwohl es in den Jahrzehnten nach 1945 das größte Kolonialreich der Weltgeschichte verlor, einen Wohlfahrtsstaat aufbaute und in den Jahren der Thatcher-Revolution weitgehend wieder beseitigte, ist - aus deutscher Sicht - Großbritannien im 20. Jahrhundert doch weniger gewaltsamen Eruptionen ausgesetzt gewesen. Die viktorianische Epoche ist den Briten, und besonders den Engländern, nicht gar so fern wie die wilhelminische den Deutschen. Indizien dafür sind regelmäßig erscheinende neue Biographien über Queen Victoria und ihre Zeitgenossen (ein biographischer Ansatz gilt unter britischen Historikern nicht als ehrenrührig) oder die britische Filmindustrie, die in der Ära Thatcher Dutzende von "period pieces" produzierte, welche die viktorianische und edwardianische Epoche nostalgisch verklärten, von der harten ökonomischen Gegenwart ablenkten und doch die von der Premierministerin gepriesenen "viktorianischen Werte" reflektierten.