Daß sie hierin ihre Pflicht sah, erwuchs aus politischer Überzeugung: Der absolute, nur Gott verantwortliche Monarch sei abgelöst von dem konstitutionellen, der sich mit den Volksvertretern verständigen müsse, um die Akzeptanz des Staates zu erhöhen und so dessen Bestand zu sichern.5 Prinz Albert hatte Victoria bereits früh dazu ermutigt, sich mit politischen Fragen zu beschäftigen, und sie für staatliche und gesellschaftliche Zusammenhänge sensibilisiert. Die englische Prinzessin sah in dem politischen System ihres Heimatlandes seither eine wesentliche Orientierung für die Veränderung der politischen Zustände in Preußen.6 In Anbetracht der politischen Realität mußte dies allerdings eine Vision bleiben. Präsentierte sich die konstitutionelle Monarchie in England nämlich als eine Balance of Power zwischen König(in), Lords und Commons, blieb die monarchische Gewalt in Preußen-Deutschland selbst mit der Reichsverfassung von 1871 weitgehend unangetastet. Gleichwohl wollte Victoria im Extremfall mit dem Kronprinzen auch "ein liberales pas de deux seuls auf der preußischen Bühne" aufführen, um den moralischen Führungsanspruch Preußens in Deutschland zu erlangen und es so zu einem wichtigen Verbündeten Englands zu machen.7 Daß Victoria die politische Situation falsch einschätzte, zeigte sich bereits bei der Entscheidung für den bürgerlichen Prinzenerzieher Georg Hinzpeter (1827-1907) im September 1866. Sie ist eigentlich als Ausdruck englischer politischer Interessen zu verstehen. Hinzpeter wurde vom englischen Gesandten Sir Robert Morier vermittelt - nicht so sehr seines erzieherischen Könnens wegen, sondern weil Morier hoffte, daß dieser ein Mitglied der liberalen, gegen Bismarck gerichteten Gruppe um das Kronprinzenpaar werden würde.8 Damit aber überschätzten alle Hinzpeters politische Position, denn er verurteilte zwar Bismarcks politischen Stil, befürwortete aber dessen politische Inhalte. Und ihm wäre es nie in den Sinn gekommen, die mächtige Stellung des Monarchen einzuschränken, etwa durch den reformfreudigen Liberalismus Victorias.9 Trotzdem waren sich Victoria und Hinzpeter in ihren pädagogischen Zielen relativ einig. Gemeinsam kämpften sie für eine Erziehung hin zum Realismus gegen die höfische Scheinwelt. Hinter diesem Versuch stand eine einfache und vielversprechende Überlegung: Selbstverantwortung als Weg zur Motivation, Motivation als Voraussetzung für innere Selbständigkeit. Was heute so selbstverständlich klingt, nämlich die Bedeutung von Bildung, Leistung und Verdienst, wurde am damaligen preußischen Hof zum Inhalt eines Machtkampfs zwischen Victoria und Hinzpeter einerseits und den konservativen Kräften, insbesondere dem alten Monarchen Wilhelm I. und seinem militärischen Umfeld andererseits.10